Von Martina Zimmermann
Ich hätte nie gedacht, dass mir Zugfahren so gefallen würde. Jahrelang bin ich mit dem Auto zur Arbeit gefahren. Jeden Tag 45 Kilometer hin und auch zurück. Stau, sobald ich in die Stadt hineinfuhr und genauso, wenn ich Feierabend hatte. Mit den Jahren hatte ich mich damit abgefunden, und aus einem unbekannten Grund war mir nie der Gedanke gekommen, auf den Zug umzusteigen. Zumal ich in der Nähe des Bahnhofs arbeitete, keine fünf Gehminuten entfernt. Erst als mein Auto schlapp machte und die Werkstatt mir mitteilte, ich könnte mich von dem Gefährt verabschieden, da überlegte ich, was ich tun sollte. Mein erster Gedanke war, sofort ein neues Auto zu kaufen. Doch von jetzt auf gleich war es nicht gefunden. So lange wollte ich mit dem Zug fahren. Das war vor zwei Jahren.
Ich genoss es, mich einfach in den Zug zu setzen und während der Fahrt ein Buch zu lesen oder mir Notizen zu machen. Meinen Gedanken nachzugehen, zu träumen, oder mich auch gelegentlich zu unterhalten, wenn sich die Möglichkeit bot. Ich kam entspannt zur Arbeit und von dort auch wieder nach Hause.
Als ich letzte Woche von der Arbeit in den Zug stieg, schien etwas anders als sonst. Ich war der einzige Fahrgast, und das in einer größeren Stadt wie Münster. Dort am Bahnhof herrscht immer reges Treiben und der Zug ist für gewöhnlich voll. Komisch, dachte ich schon, als ich auf dem Bahnsteig stand. Es befanden sich auch hier kaum Menschen und als der Zug eingerollt war, stieg ich ein und setzte mich. Ich holte mein Buch aus der Tasche und begann zu lesen. Als der Zug anfuhr und ich hochblickte, bemerkte ich, dass ich alleine in dem Zug saß. „Was ist hier los?“, rief ich laut. „Ist hier jemand?“ Ich entschied mich, in das Abteil vor mir zu gehen und als ich den Waggon betrat, bot sich das gleiche Bild. Niemand war zu sehen. Das gibts doch nicht, dachte ich, und lief währenddessen weiter nach vorn in den Waggon vor mir. Dort angekommen, dachte ich, ich wäre wieder die einzige Person, die mitfahren würde, doch dort saß ein alter Mann. Erleichtert steuerte ich auf ihn zu. „Hallo, ich dachte schon, ich wäre alleine in diesem Zug“, sagte ich. „Trotzdem ist es komisch, der Zug ist sonst rappelvoll“, erklärte ich noch. Der Mann nickte freundlich und dann sagte er: „Hallo, ich weiß, sonst ist hier alles besetzt.“ „Komisch, haben Sie eine Erklärung dafür?“ Er nickte erneut. „Ich weiß, warum der Zug nur mit uns beiden besetzt ist. Das ist der Zug deines Lebens, Nina.“ Hatte er Nina zu mir gesagt? Ich konnte es nicht fassen. Woher wusste er meinen Namen und was sollte das? „Der Zug meines Lebens?“, fragte ich. „Und warum sitzen Sie dann hier?“ „Das kann ich dir erklären. Ich begleite dein Leben, sozusagen als dein Schutzengel.“ Ich lachte bitter, so lächerlich erschien mir diese Erklärung. „Etwas Besseres ist Ihnen nicht eingefallen, oder? Sind wir hier bei der versteckten Kamera?“, fragte ich. Genau, so etwas in der Art musste es sein. Es würde sich sicherlich gleich aufklären. Nina, bleib ruhig, dachte ich nur. Ich beschloss, mich hinzusetzen, weg von dem Mann. Dazu ging ich weiter nach vorn und setzte mich dorthin. Kaum saß ich dort, nahm ich den Mann erneut wahr. „Wie war er so schnell nach hierhin gekommen?“, fragte ich mich. Ich hatte ihn nicht bemerkt. Er muss sich in Windeseile bewegt und sich genau auf meine Höhe hingesetzt haben. Ich stand auf und ließ mich erneut zwei Sitze weiter nach vorn nieder. Doch kaum saß ich dort, schaute ich wieder auf den Herrn, der zeitgleich mit mir in einer Reihe saß. Wie er das gemacht hatte, war mir schleierhaft. „Du kannst nicht vor mir weglaufen, Nina.“ „Warum verfolgen Sie mich?“, fragte meine Unsicherheit und ich schwang in meiner Stimme. „Ich habe dir gesagt, ich bin dein Schutzengel und überall, wo du bist, da bin ich auch.“ „Das glauben Sie doch wohl selbst nicht!“, rief ich fast hysterisch. „Lassen Sie mich in Ruhe!“ „Das kann ich nicht. Ich habe die Aufgabe, auf dich aufzupassen und heute benötigst du meine Hilfe.“ „Warum?“ „Dieser Zug ist der Zug deines Lebens, und er wird dir Stationen in deinem Leben aufzeigen.“
„Gleich kommt die nächste Station, da werde ich aussteigen“, entgegnete ich und dann stellte ich mich vor die Zugtür. Ich wartete, dass der Zug die Geschwindigkeit verringerte, um anzuhalten, doch es passierte nicht. Der Zug behielt das Tempo bei und wir rasten an der Haltestelle vorbei.
„Was soll das alles?“, fragte ich. „Ich möchte aussteigen!“ In Panik griff ich zur Notbremse. Beherzt zog ich an ihr, doch es passierte nichts, keine Reaktion. Wie erstarrt stand ich dort und wusste nicht, was ich tun sollte, als der alte Mann vor mir stand und mich an die Hand nahm.
„Komm, wir setzen uns erst einmal hin“, sagte er. Ich wusste nicht warum, aber ich wurde augenblicklich ruhig. Er schien mir auf einmal so vertraut. Eine Erklärung fand ich nicht, aber ich beschloss, mich auf ihn einzulassen.
Während der Zug weiterfuhr, saßen wir einfach nur da und er hielt meine Hand. Vor meinem Auge lief unerklärlicherweise mein ganzes Leben vor mir ab. Ich sah mich als Kind. Wie glücklich ich war, zusammen mit meinen Geschwistern und Eltern. Als wir einen Ausflug machten. Dann wiederum, war ich etwas größer; eine Arbeit in der Schule stand bevor und ich hatte Angst, sie zu vermasseln. Aber letztlich wurde alles gut. Mein erster Freund tauchte vor meinen Augen auf und sofort spürte ich dieses Gefühl, welches ich damals für ihn hatte. Die erste Liebe, wie unbeschwert wir waren. Doch dann, der Tod meiner Mutter. Die Trauer, die mich augenblicklich fast umhaute. Ich spürte sie, als wenn sie jetzt, in diesem Moment, da wäre. Kaum hatte ich dieses unglaublich schmerzliche Gefühl in der Magengrube, da erlebte ich ein Glücksgefühl. Das Kennenlernen meines Mannes. Ich sah ihn vor mir, die Situation, wie sie damals war. Ich fand ihn so aufregend und interessant und als er mich bemerkte, mich anlächelte, war es um mich geschehen. Lächelnd saß ich im Zug, die Bilder kamen und gingen. Ich sog alles auf und litt und freute mich über sie.
Mein Leben, welches Höhen und Tiefen hatte, war bislang einigermaßen gut verlaufen. Ich konnte mich nicht beklagen. Natürlich war nicht alles eingetreten, was ich mir gewünscht hatte, aber ich war dankbar und zufrieden für das, was ich hatte.
„Warum zeigst du mir das alles?“, fragte ich meinen Schutzengel. Er schaute mich an, dann drückte er meine Hand, die immer noch in seiner lag. Erneut sah ich Bilder. Dieses Mal sah ich Situationen, in denen ich geholfen hatte. Meiner Mutter, der ich in der Stunde ihres Todes beigestanden habe. Meinem alten Nachbarn, den ich über Jahre gepflegt hatte, weil er nicht mehr gut konnte. Für mich war es selbstverständlich gewesen und ich hatte keine große Sache daraus gemacht. Es gab viele Situationen, in denen ich mich eingebracht hatte, um zu helfen. Sei es in der Nachbarschaft, im Tierschutz oder in der Familie. Für mich war es vollkommen normal.
Ich schaute meinen Schutzengel an, dann erklärte er mir. „An der nächsten Station kannst du aussteigen und du wirst dich nicht mehr an mich erinnern.“ „Aber wozu das alles?“, fragte ich.
„Nichts geschieht ohne Grund, Nina.“ „Was für einen Grund gibt es?“, fragte ich noch. Doch bevor ich eine Antwort bekam, sah ich mich vor der Zugtür. Ich stand auf einmal dort und der Zug hielt an. Die Tür öffnete sich und ich sah den mir vertrauten Bahnsteig, an dem ich jeden Tag ausstieg. Ich betrat ihn, und um mich herum herrschte das vertraute Treiben. Als ich mich umdrehte, war dort kein Zug mehr. Ich konnte es mir nicht erklären, wo er geblieben war. Ich hatte kein Geräusch vernommen, dass er weiter gefahren war. Verwundert beschloss ich nach Hause zu gehen und als ich die Treppe hinunter ging, um meinen Weg aus dem Bahnhof nach Hause zu laufen, wurde alles normal. Für mich war es wie immer und nichts erinnerte mich noch an den Zug mit dem alten Mann. Gut gelaunt schloss ich die Wohnungstür auf und als ich meinen Mann leichenblass auf mich zukommen sah, schloss er mich in die Arme. „Gott sei Dank ist dir nichts passiert“, sagte er. „Ich habe mich verrückt vor Sorge gemacht und mit dem Schlimmsten gerechnet“, erklärte er, mich immer noch fest im Arm haltend. „Warum, was ist denn passiert?“, fragte ich verwundert.
„Weißt du es denn nicht?“, fragte er überrascht. „Dein Zug, den du immer nimmst, er ist entgleist. Ein schlimmer Unfall mit Toten und Verletzten. Du musst es doch wissen! Hast du einen anderen Zug genommen?“, fragte er verwundert.
Ich schaute ihn fragend an und hatte keine Antwort.
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