Von Miklos Muhi
»Ich will Schokolade!«, brüllt die Kleine. Ihre übermüdete Mutter versucht sie zu beruhigen und bereut, dass sie keine weiteren Pralinen in der Handtasche hat.
Gäbe es einen anderen freien Sitzplatz, würde ich sie so weit wie möglich hinter mir lassen. Das ist nicht der Fall, so sitze ich hier und strenge mich an, zivilisiert zu bleiben.
Wegen solcher Menschen gibt es Verhütungsmittel und Abtreibungen. Oder eben Vasektomien. Das ergibt weniger Stress im Leben. Aber keine Sorge: Es bleibt genug übrig aus anderen Quellen.
Gestern habe ich meinen Wagen abschleppen lassen. Er ist nicht angesprungen. Dank Herstellergarantie hat man ihn umsonst abgeschleppt und für die Reparatur sind keine Unkosten zu erwarten, bis auf die verlorene Zeit auf deren Suche selbst Proust gescheitert ist.
Mit dem Auto schaffe ich den Weg zur Arbeit in einer Viertelstunde. Informationen über die Standorte der Blitzer sind zu leicht finden, wenn man bereit ist, das nötige Kleingeld zu investieren. Legal? Illegal? Scheißegal!
Mit der S-Bahn dauert die Reise 50 Minuten, Zeit um an meiner Präsentation weiterzuarbeiten. Heute besucht uns ein potenzieller Kunde. Ihm wird, wie üblich, das Blaue vom Himmel versprochen, eingepackt in bunten Bildern und eindrucksvollen Grafiken. Bestellt er, ist das der Verdienst des Managements, sonst haben es die Angestellte verbockt.
Es ist lange her, dass ich mit der S-Bahn gefahren bin. In meinem Kopf hat sich ein idealisiertes Bild über die Zustände in den Morgenstunden festgesetzt, das diese Mitreisende weggespült haben. Das hier ist nicht die erste Klasse auf der ICE. Hier kann Hinz und Kunz einsteigen und Radau machen.
So hole ich meine Kopfhörer mit Geräuschfiter-Funktion aus der Tasche. Ein gesichtsloses Rauschen macht sich in den Ohren breit. Brüllen, laute Musik aus Bluetooth-Boxen (es wird der Tag kommen, an dem ich mir ein Störgerät kaufe) und Gesprächen liegen jetzt außer meiner Hörweite.
Die Ruhe ist von kurzem Dauer. Bald meldet sich ein alter Bekannte wieder.
Der ziehende Schmerz in der Brust hat sich die denkbar ungünstigsten Zeitpunkt ausgesucht, um mich wissen zu lassen, dass er nicht weg ist. Ich atme tief durch, um der begleitenden Atemnot zuvorzukommen. Nach einigen Minuten intensiven Leidens treten beide wieder in den Hintergrund. Ich habe jetzt für solchen Schwachsinn keine Zeit.
Zahlenfrisieren ist angesagt. Wir geben zwar die Quellen an, aber niemand schaut nach. Selbst wenn das der Fall wäre, würde das nicht auffallen. Die Änderungen sind weit verstreut und sie führen zu einem Ergebnis, das sich sehen lässt.
Wir arbeiten schnell, billig und gut und wie bei unseren Konkurrenten darf man sich zwei davon aussuchen. In der Präsentation werden alle drei fest versprochen. Nach dem Vertragsabschluss nimmt das Leben den normalen Gang wieder auf. Das sieht man an der Anzahl der Hotline-Anrufe.
Da fällt mir ein: Elisa, die Chefin vom Support wird unseren Besucher nicht zu Gesicht bekommen. Bei ihr kommen immer wieder zerstörerische Ehrlichkeitsanfälle vor. Sie redet dann von Unterbesetzung und mangelndem Seniorität. Den Quatsch braucht jetzt kein Mensch.
Die Präsentation ist ansprechend und riecht nach Auftrag. Eine Rechtschreibprüfung, und das Ganze wird gespeichert.
Der Bildschirm wird pechschwarz.
»Was zum Teufel ist hier los?«, frage ich.
Ich nehme die Kopfhörer ab und schaue mich um.
Die Stille des nunmehr leeren Zuges schlägt mit brutal entgegen. Hinter den Fensterscheiben protzt eine Dunkelheit, die ich nie erlebt habe. Aus Gewohnheit greife ich nach meinem Handy und werde mit einem weiteren dunklen Bildschirm konfrontiert.
Die Trägheit kommt zum Zug, als derselbe bremst und mich aus meinem Staunen zieht.
Ich stecke das Handy wieder in die Tasche, um mich für den Ausstieg vorzubereiten. Dunkelheit hin oder her, Verkauf muss sein, sonst kann ich meinem Jahresbonus Lebewohl sagen.
Sobald der Zug stehenbleibt, öffnen sich die Türen. Die Lichter des Hauptbahnhofs, die die ganze Nacht brennen und das Schlafen in den umliegenden Wohnhäusern zusammen mit dem ständigen Lärm erschweren, sind nicht zu sehen.
Die Dunkelheit dringt unerbittlich in den Waggon ein.
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