Von Helmut Blepp

 

Zuletzt wuchtete die neunundfünfzigjährige Alma den gereinigten Grillrost zurück in den Imbisswagen. Sie stöhnte leise auf. Ihr Rücken machte ihr heute besonders zu schaffen. Den ganzen Tag hatte sie ein beklemmendes Gefühl begleitet, so als drohe ihr der nächste Hexenschuss. Schwerfällig stieg sie die vier Lochstiegen hoch, löschte alle Lichter, vergewisserte sich, dass das Kühlaggregat in Ordnung war und packte die kleine Kasse in ihre Handtasche. Dann schlüpfte sie in ihren Mantel, verließ den Wagen und schloss sorgfältig ab.

Müde trottete sie über den Bahnhofsvorplatz. Im Vorbeigehen grüßte sie Alfred, den Brezelverkäufer, der gerade sein Lastenfahrrad bepackte, das ihm als Verkaufsstand diente. Vor der Treppe zur Empfangshalle blieb sie stehen, verschnaufte kurz und bewegte sich langsam die Stufen hoch. Oben herrschte der übliche Feierabendtrubel. Ihr war diese Atmosphäre vertraut. Sie nahm kaum Notiz von dem hektischen Treiben und trat direkt auf den Bahnsteig hinaus. Die Regionalbahn, die sie täglich in den Vorort brachte, in dem sie wohnte, fuhr von Gleis 1 ab und stand schon bereit. Sie stieg ein, sah sich kurz um und ließ sich ächzend auf den nächstbesten freien Sitz nieder.

Der linke Arm, in dessen Beuge sie die schwere Tasche mit den Tageseinnahmen trug, war schmerzhaft verkrampft. Der Druck auf ihre Brust hatte zugenommen. Sie saß ruhig mit offenem Mund, sog Luft ein, so gut es ging. Auch diese Kurzatmigkeit schien sich verschlimmert zu haben.

Fast geräuschlos fuhr der Zug an. Schon bald bemerkte Alma, dass es in der Kabine sehr warm wurde. Träge lehnte sie ihren Kopf an die kühle Fensterscheibe. Es waren sechs Haltepunkte bis nach Hause: Diesterfeld, Wetzeln, Tramerich, …

 

Als sie erwachte, nahm sie zunächst die Stille wahr. Sie fröstelte. Im Abteil war es kalt geworden. Der Zug musste also schon länger stehen, die Motoren abgestellt. Außer ihr war niemand mehr im Abteil.

Sie schaute nach draußen und erblickte ein kleines Bahnhofsgebäude, das ihr unbekannt war. Nirgends war ein Schild zu sehen, das die Haltestelle bezeichnete.

Der Morgen dämmerte schon. Sie sah auf ihre Uhr und erschrak. Offenbar hatte sie die ganze Nacht geschlafen, ohne zu bemerken, dass sie an ihrem Zuhause vorbei weiter bis zur Endstation mitgefahren war. Das war eine Katastrophe, denn bald schon musste sie den Imbiss wieder öffnen, und wenn sie sich verspätete, würde ihr Arbeitgeber ungehalten sein.

Eilig stieg sie aus, um festzustellen, wann der nächste Zug zurück in die Stadt fuhr. Der schwach beleuchtete Bahnsteig war leer, kein Mensch weit und breit. Nicht einmal einen Fahrplan konnte sie entdecken, also betrat sie die aus grob gehauenen Steinen gebaute Bahnstation, um drinnen danach zu suchen. Die Halle mit der gewölbten Decke war schmutzig und verkommen. Putz fiel von den Wänden. Es roch modrig. Die beiden vorhandenen Fahrkartenschalter waren geschlossen, die Scheiben von innen mit fadenscheinigen Leinentüchern verhängt. Auch hier kein Fahrplan, stellte sie nervös fest.

Sie verließ das Gebäude durch die gegenüberliegende Eingangstür, erwartete den Anblick einer erwachenden Kleinstadt, Leute, die zur Arbeit gingen oder fuhren. Autoverkehr. Und all die zahllosen Alltagsgeräusche, an die man sich so schnell gewöhnt. Aber da war nichts, keine Passanten, nicht die bescheidenste Siedlung, nur eine staubige mit Schlaglöchern durchzogene Straße, die still vor ihr lag.

Langsam wich ihre Nervosität einem Gefühl der Verzweiflung, denn auch vor dem Gebäude fand sie keine Hinweise auf die Abfahrtszeiten dieser Bahn, und es gab allem Anschein nach niemanden, den sie danach hätte fragen können. Ratlos schaute sie sich um. Eine trostlose Einöde umgab sie. Kein Lebenszeichen. Vorsichtig setzte sie ihre Füße auf den brüchigen Asphalt, hob den Blick erst in die eine, dann in die andere Richtung, in der sie weit entfernt die Silhouette eines Dorfes erkannte. Zunächst zögerlich, bald aber mit entschlossenerem Schritt schlug sie diese Richtung ein.

Die Sonne war mittlerweile aufgegangen und vertrieb nach und nach die Kühle der Nacht. Alma wurde es zunehmend warm in dem dicken Mantel. Im Gehen zog sie ihn aus, legte ihn umständlich zusammen und klemmte ihn sich unter den rechten Arm.

Sie musste schon eine beträchtliche Strecke zurückgelegt haben, denn sie spürte, dass sie immer mehr ermüdete und nur noch langsam vorankam. Ihrem Ziel aber schien sie sich kaum genähert zu haben.

Die Landschaft bestand aus staubtrockenen Brachäckern, die alle gleich aussahen. Es war eine einsame Wüstenei, in der kein Laut ertönte, kein Vogel den Himmel teilte, keine Mücken im flimmernden Licht tanzten. Durch dieses Totland zog sich die Straße schnurgerade hin zu dem Dorf mit seinem Kirchturm und den Giebeldächern, von dem sie sich Hilfe erhoffte.

Nach einiger Zeit, die ihr schier unendlich erschienen war, erreichte sie die ersten Häuser. Ihr Arm mit der Tasche schmerzte, und erschrocken stellte sie fest, dass sie unterwegs ihren Mantel verloren haben musste. Leise fluchend ging sie in die Ortschaft hinein.

Die Szenerie, in die sie geraten war, wirkte nicht einladend. Gebäude, die jeder Symmetrie spotteten, lehnten zu beiden Seiten einer unbelebten Straße aneinander. Ihre Fenster waren blind, ihre Giebel verkrüppelt.  Ohne innezuhalten, setzte Alma weiter einen Fuß vor den anderen, bog in eine Seitengasse der Hauptstraße ein und fand an deren Ende ein Café auf einem kopfsteingepflasterten Platz. Hier saßen Menschen an runden Tischen. Ihre Augen blickten starr in die flimmernde Weite über sich.

Ein Kellner erschien. Er nickte Alma grüßend zu. Behände wand er sich zwischen den besetzten Tischen hindurch, bis er vor ihr stand. Mit anmutigen Gesten wies er ihr einen freien Stuhl an einem der Tische an, doch sie zögerte.  Der Kellner bemerkte das mit einem verständnisvollen Lächeln. Er nahm sie sanft am Arm und führte sie zu dem vorgesehenen Sitzplatz. Widerstandslos ließ sie sich darauf nieder. Der Kellner begann, eifrig die Tischplatte vor ihr zu polieren. Dann verschwand er in dem Café, ohne auch nur eine Bestellung abgewartet zu haben. Alma war darüber nicht verwundert. Ohne Interesse sah sie sich die Gesellschaft an ihrem Tisch an, die in den Nacken gefallenen Köpfe, die herabhängenden Arme. Diese Betrachtung ermüdete sie. Schon fühlte sie, wie sich Erschöpfung nach der langen Wanderung in ihr breit machte, und bald darauf schlief sie ein, schlief mit offenen gebrochenen Augen.

Der Kellner kam ohne Tablett zurück. Wohlwollend betrachtete er Alma, die schlaff auf ihrem Stuhl saß. Dann legte er vorsichtig den Kopf der Schlafenden zurück.