Von Karl Kieser

 

Feierabend! Endlich! Und endgültig!
Der tägliche Kampf am Morgen, die endlosen, kraftraubenden Stunden, die Erschöpfung am Abend, das alles ist künftig Vergangenheit.
Nur noch dieser Heimweg. Ein letztes Mal. Das schaffe ich.
Die Tasche zerrt an meiner Hand. Mein Kopf hängt schwer, aber ich sehe genug von der Straße vor mir und ich kenne den Weg zum Bahnhof. Das schleifende Geräusch meiner Schuhe auf dem Gehweg, wie gerne würde ich wenigstens das vermeiden.
Meter für Meter komme ich dem Ziel näher. Mein Herz pumpt wie verrückt. Für die Stufen hinauf zum Bahnsteig, zieht die freie Hand am Geländer mit. Immer nur drei Stufen nacheinander, dann Atempause. Die Treppe ist fast geschafft. Da sprintet ein junger Mann an mir vorbei und fläzt sich oben auf den einzigen Sitzplatz. Er sieht mich an und grinst. Der Boden scheint sich unter mir in Wellen zu bewegen. Die Info-Tafel gibt mir Halt. Allmählich normalisiert sich mein pfeifender Atem.

Endlich rauscht der Zug ein. Da ist ein freier Platz am Fenster. Ich verfluche meine Langsamkeit, habe Angst, es wieder nicht zu schaffen. Erleichtert lasse ich mich auf den Sitz fallen und spüre dabei die Knochen in meinem Hintern. Nein, kein Stöhnen, das ist unwürdig.

Ausgelaugt lasse ich den Kopf gegen die kühle Scheibe sinken. Ich sehne mich nach einem Nickerchen. Das wird mir guttun und vielleicht auch den fast schon vertrauten Schmerz in meiner Brust lindern.

Der scharfe Ruck am Ende einer Bremsphase weckt mich wieder. Ich muss auf der Stelle eingeschlafen sein und habe es nicht einmal bemerkt, als der Zug losgefahren ist.
Wo sind die Lichter, der Trubel und die Durchsagen eines Bahnhofs.
Es ist zu still und draußen ist es stockfinster!
Aber es ist doch erst später Nachmittag und wir haben Sommer. Hält der Zug etwa in einem Tunnel? Aber auf meiner Strecke gibt es keinen Tunnel.
Was ist passiert?
Der Waggon ist leer. Warum bin ich allein?
Habe ich wirklich so fest geschlafen, dass ich sogar meine Haltestelle verpasst habe? Ist das womöglich die Endstation?
Unmöglich, ich kann nicht den ganzen Abend bis in die Nacht hinein geschlafen haben, ohne dass mich irgendwas geweckt hätte.
Ich kann aber auch nicht einfach hier sitzen bleiben. Ich muss meine Situation klären.
Das Fenster. Es ist mir zuwider, mich mit einem schwergängigen Fenster abzumühen. Aber es geht wider Erwarten ganz reibungslos. Kühle Nachtluft strömt herein. Der Zug steht auf freier Strecke?
Was ist hier los? Ich strecke den Kopf hinaus und sehe nach vorn. Der hell erleuchtete Zug krümmt sich in eine Kurve, sodass ich sehr weit voraus die Lok sehen kann.
Eine Dampflok? Das sollte mich eigentlich verwundern, aber es berührt mich kaum.
Das gelegentliche pochende Prusten der Lok ist das einzige Geräusch. Zwar gedämpft durch die große Entfernung, aber trotzdem deutlich zu hören.
Dieser Zug ist wirklich lang. Bin ich jemals zuvor in so einem Lindwurm gefahren? Und nach hinten? Da ist nur noch Schwärze. Anscheinend bin ich im letzten der vielen Waggons.
Aber vorn, gleich hinter der Lok, da ist doch etwas? Ein Standbild, das aus dem ersten Waggon herauszuwachsen und dann neben dem Zug zu schweben scheint. Mühelos kann ich das Bild heranzoomen: Ein junger Mann, der lachend und voller Stolz ein Baby hochreckt. Das Gesicht des Mannes kommt mir bekannt vor. Er sieht aus wie mein Vater, noch ganz jung. Und das Kind …?

Das Bild wird allmählich dunkler. Die Lok ist schon verschwunden, aber ich höre sie noch. Wie eine schwarze Nebelwand scheint die Dunkelheit den Zug von der Spitze her zu verschlingen.

Automatisch gleitet mein Blick an der Wagenreihe entlang weiter nach hinten.
Da ist noch eine Erscheinung. Wie das erste Gebilde wächst es aus einem Waggon heraus und schwebt neben dem Zug.
Ein junges Paar steht nebeneinander und blickt auf den Rohbau eines Hauses. Der Mann hat der Frau einen Arm um die Schultern gelegt. Ich sehe sie nur von hinten, aber die Frau im Halbprofil. Das ist doch meine Irmi!

Diese Bilder sind plastisch wie Skulpturen. Starre Momentaufnahmen. Aber sie kommen mir bekannt vor. Ich glaube, ich kenne sie aus unseren Fotoalben.
Träume ich und werde ich gleich verunsichert aufwachen? Will mir der Traum etwas sagen? Spricht mein Unterbewusstsein zu mir?

Dunkle Schwaden wabern nun auch über dieses Objekt. Mein Vater mit dem Baby ist schon verschwunden. Auch das Stampfen der Lok – der Rhythmus war ohnehin schon langsam – scheint noch seltener und leiser zu werden.
Wo ist das nächste Bild? Da muss doch noch mehr sein.
Da, drei Kinder, spielend im Garten. Ich flüstere ihre Namen: Harry, Heli, Nic.

Gerne würde ich den dreien noch länger zusehen, obwohl auch diese Szene nur eine Momentaufnahme ist. Aber sie erinnert mich an so viele ähnliche Bilder, bewegte Bilder, die ich so gerne gesehen habe. Doch die Dunkelheit rückt unerbittlich näher und wird auch dieses Bild verschlucken. Es ist geradeso, als ob die Schwärze meine Erinnerungen löschen will. Aber was bin ich noch, ohne Erinnerungen?

Jetzt drängt sich ein schockierender Gedanke in mein Bewusstsein: Was ist, wenn das hier gar kein Traum ist?

Aber meinen Ruhestand, den möchte ich doch so gerne genießen. Dafür habe ich schließlich so lange durchgehalten und die Zähne zusammengebissen. War nun alles vergeblich?
Ich empfinde eher Bedauern als Empörung. Vor allem wegen der nun sinnlosen Entbehrungen. Meine Urlaube. Wie gerne wäre ich gereist und hätte wenigstens einen kleinen Teil unserer Welt kennengelernt, statt auch in dieser Zeit noch eine Arbeit anzunehmen.
Erstaunt stelle ich fest, dass ich keine Angst habe. Wovor sollte ich mich auch fürchten? Vor dem Ausgelöscht sein? Vor dem Nichts? Oder erwartet mich etwa das Unbekannte?

Ich klammere mich an die Möglichkeit, doch noch umkehren zu können. Vielleicht gibt es weiter Bilder, die mir Hoffnung geben. Allerdings hat die Schwärze einen großen Teil des Zuges schon verschluckt.

Bitte, das kann doch nicht alles sein!
Ich suche, vor und zurück, entlang des stetig kürzer werdenden Zugendes.
Nichts? Da ist nichts, was ein Foto gelohnt hätte?

Schließlich sind da nur noch die Fenster meines Wagens. Doch dann, am letzten Fenster vor mir, schiebt sich der kahle Schädel eines alten Mannes heraus und starrt mich an. Erschrocken ziehe ich den Kopf zurück und sinke auf meinen Sitz.
Da, wo der alte Mann stehen müsste, um zu mir zurückzublicken, ist niemand. Aber sein Gesicht hat sich in meine Netzhaut eingebrannt, denn ich kenne es vom täglichen Rasieren.
Es waren die Augen, die mich so betroffen machten. Erloschene Augen.

Die ersten Sitzreihen in meinem Wagen sind schon verschwunden. Ich weiß jetzt, was geschieht, wenn die Schwärze auch mich berührt.

Von der Lok kommt ein kaum noch hörbares Pffff.