Von Ingo Pietsch

Es war schon spätabends.
Ich war mit dem RE 70 aus Hannover nach Minden unterwegs und der Zug war fast leer.
Das leise, gleichmäßige Rattern der Räder auf den Schienen hatte mich in einen dösigen Zustand versetzt. Ich umklammerte meine Aktentasche und schaute immer wieder zum Fenster hinaus.
Inzwischen kannte ich die Umgebung ganz gut, da ich seit zwei Wochen auf die Bahn angewiesen war. Mein Auto war kaputt und aus irgendeinem Grund dauerte die Beschaffung des Ersatzteils schon eine Ewigkeit.
Soeben hatten wir den Bahnhof Bückeburg verlassen und jetzt dauerte es nicht mehr lange, bis wir in Minden ankamen. Dort stand mein Fahrrad, so hoffte ich, immer noch angeschlossen in einer Seitenstraße.
Eigentlich war Bahnfahren doch nicht so schlimm, wie immer alle behaupteten. Auf der einen Seite war es viel gemütlicher und beruhigender als Auto zu fahren und ich konnte mit dem Laptop auch unterwegs arbeiten. Ich machte ohnehin eine Menge im Homeoffice, sodass ich nicht jeden Tag nach Hannover fahren musste. Und natürlich war meine Firma noch ein ganzes Stück vom Bahnhof entfernt, das ich mit dem Bus überbrücken musste. Aber so viele Züge fielen jetzt doch nicht aus und auch die Verspätungen hielten sich in Grenzen. Was am meisten nervte, waren die Rushhour, wo man keinen Sitzplatz mehr bekam und wenn Hannover 96 spielte. Da war es egal, ob sie gewonnen oder verloren hatten. Manche konnten sich nie benehmen.
Ich freute mich schon auf mein warmes Zuhause, da es schon früh dunkel wurde.
Ich stand auf und ging mit ein paar anderen Leuten zur Tür.
Der Zug wurde langsamer, die Bremsen quietschten, doch die nervenden Geräusche verebbten und der Zug beschleunigte wieder. Es gab auch keine Durchsage, dass der RE 70 halten würde und es wurde auch kein Bahnhof genannt.
Aus dem Fenster konnte ich das Signal, das in einer Kurve stand, sehen. Es stand auf Rot.
Eigentlich hätte der Zug halten müssen.
Die Fahrgäste auf dem Bahnsteig sprangen irritiert zurück, als der Zug durchfuhr. Die Zugluft zerrte an ihrer Kleidung und den Haaren.
Wir blickten nach oben auf das Display, wo der Plan eingeblendet wurde oder Werbung lief.
Mit einem Mal wurde das Bild dunkel.
Sofort zogen alle ihre Handys. Ich natürlich auch.
Das WLAN war zwar nicht das Beste, aber den Blicken der anderen nach zu urteilen, hatte niemand Internet, es gab überhaupt gar keinen Empfang.
Die meisten beschlossen stehen zu bleiben. Einige kamen noch von oben des Doppelstockzuges nach unten, weil sie in Porta aussteigen mussten.
Der Regional Express wurde auch dort nicht langsamer. Dafür sahen wir Polizei- und Rettungsfahrzeuge mit Blaulicht und Polizisten, die den Bahnhof absperrten.
Ich wurde das Gefühl nicht los, dass wir entführt worden waren.
Langsam wurden die Leute um mich herum ungeduldig und begannen miteinander zu reden und auch zu schimpfen.
Mir fiel nichts Besseres ein, nach weiter vorne zum Triebwagen zu gehen. Es gab zwar keine Verbindung zum Lokführer, aber durch das Warten, wäre ich eh nur nervöser geworden.
Wenn dem Fahrer was zugestoßen wäre, hätte sich der Zug von alleine gestoppt, denn es gab einen Totmannschalter.
Als ich das nächste Abteil betrat, glaubte ich alleine zu sein, bis ich einen älteren Herrn entdeckte, der auf ein Notebook eintippte.
Neben ihm lag so ein altmodisches Handy, das mich an ein Nokia erinnerte.
Ich war zwar kein Experte, aber es war wahrscheinlich so ein Satellitentelefon, das auch ohne Netzmasten arbeitete.
Der Mann schaute auf. „Kommen Sie nicht näher! Verlassen Sie das Abteil. Ich habe den Zug entführt und wenn nicht alle genau das tun, was ich sage, zünde ich einen Sprengsatz!“
In meinem Kopf rasten die Gedanken hin und her.
„O, okay“, stammelte ich und dann sagte ich etwas, was ich selber nicht glauben konnte: „Ist es in Ordnung, wenn ich mich hier hinsetze?“
Der Entführer hielt inne und sah mich an: „Von mir aus, aber Ihre Tasche schieben Sie mit dem Fuß hier rüber und ich will Ihre Hände sehen.“
Ich tat wie mir geboten. Anscheinend bauchte er Gesellschaft und ich wirkte wohl vertrauenserweckend. Das gleich irgendein Undercover-Polizist hier herein stürmen und die Sache zur Deeskalation bringen würde, war eher unwahrscheinlich. Das gab es nur im Fernsehen.
Irgendwie war ich nicht ich selbst: „Machen Sie so was öfter?“, stellte ich die vollkommen absurde Frage in die unheimliche Stille.
Es summte zwar der Antrieb ein bisschen und das Rattern war immer noch zu vernehmen, aber sonst war es eher ruhig.
Auch schaukelte der Zug in den Kurven mehr als sonst.
Der Mann lachte auf, aber nicht böse.
„Ich versuche nur die Welt ein bisschen besser zu machen.“ Er tippte weiter auf seinem Laptop.
„Man hat versucht mich mundtot zu machen. Und jetzt bringe ich die Wahrheit ans Licht.“
Bad Oeynhausen zog an uns vorbei. Auf dem Bahnhof spielte sich das Gleiche wie in Porta ab.
„Und dafür riskieren Sie die Leben der Menschen hier im Zug?“ Ich musste aufpassen, nicht zu provokant zu sein. Ich hatte mal ein Motivations-Training mitgemacht und glaubte mich in Psychologie ein wenig auszukennen.
„Wissen Sie, ich habe mit den Behörden und auch der Presse gesprochen, aber mir will niemand zuhören. Da flossen eine Menge Bestechungsgelder und man hält mich jetzt für geistig labil.“
„Wollen Sie mir mehr darüber erzählen?“, vielleicht kam ich ja so näher an ihn heran. Außer mir war hier ja hier sonst keiner, der es hätte versuchen können.
Der Mann fuhr sich durch seine Haare
„Vor einem Viertel Jahr war ich noch Lokführer gewesen. Ich fuhr, auch spätabends, in Minden ein. Natürlich wurde ich langsamer. Vor mir wurde ein junger Mann auf die Schienen geschubst. Angeblich hatte er dort schon die ganze Zeit gestanden. Aber dem war nicht so gewesen. Man gab mir die Schuld, dass ich nicht rechtzeitig gebremst hatte. Ich hatte den anderen auch genau erkennen können. Als ich meinen Verdacht der Polizei mitteilte und sie recherchierten, stellten sie fest, dass die Videoüberwachung an diesem Tag ausgefallen war. Ich hatte also keine Beweise. Und wer glaubte schon einem einfachen Lokführer?“
Ich hörte gebannt zu, als wir Löhne passierten.
„Da ich suspendiert wurde und der Fall als mein Verschulden eingestuft und schließlich eingestellt wurde, stellte ich selbst Nachforschungen an. Jemand wurde auf mich aufmerksam und ließ mir ein Video zukommen, dass Passanten gemacht und online gestellt hatten und genau das bestätigte, was ich behauptete hatte. Kurze Zeit später wurde es gelöscht. Als ich an die Presse gehen wollte, wurden mir irgendwelche Gelder auf mein Konto überwiesen und ich wurde öffentlich bloßgestellt.“
Der Mann brach in Tränen aus. „Ich hatte plötzlich gar nichts mehr und stand auf der Straße. Mit dem letzten Geld, was ich besaß, kaufte ich mir die Ausrüstung hier.
Alles aus dem Internet. einen Störsender und dieses Kontrollgerät, um die Steuerung des Zuges zu überbrücken. Sie glauben gar nicht, was man da sonst noch so alles bekommt.“
„Und Sprengstoff“, behauptete ich.
„Den Sprengsatz gibt es gar nicht. Den habe ich nur erfunden, damit man mich ernst nimmt. Ich wollte nie jemandem schaden. Natürlich habe ich die Polizei informiert, was ich hier mache. Sonst könnten die ja keine Züge umleiten und an einer Kollision wollte ich nicht schuld sein.“
„Sie haben also keine Beweise und haben nur gesehen, das der junge Mann geschubst wurde?“
„Richtig, aber ich habe etwas anderes herausgefunden. Und das werde ich jetzt gleich veröffentlichen und mit meiner Entführung dem Nachdruck verleihen.“
„Und das wäre?“, bohrte ich nach.
„Dieser andere ist der Sohn eines Kreistagsabgeordneten. Und wiederum dieser ist für den Bau des neuen Krankenhauses im Lübbecker Kreis zuständig. Der hält auch etliche Anteile an Baufirmen, die dafür Aufträge bekommen haben. Und wie sich herausstellte, flossen bei diesem Multimillionen-Projekt etliche Schmiergelder. Deswegen wollte der Abgeordnete seinen Namen da raushalten. Und es geht noch höher. In den Land- und Bundestag. Jeder will etwas dran verdienen.“
Das klang logisch.
Wir durchfuhren den renovierungsbedürftigen Bahnhof Herford. Die Zeit verging ziemlich schnell.
Über uns kreiste ein Hubschrauber. Das war sehr mutig von der Polizei, wenn nicht sogar übermütig.
„Die werden nichts machen und Menschenleben in Gefahr bringen“, meinte der Mann. „Ich lade meine Story jetzt hoch. Sollte mir niemand glauben und es nicht klappen, haben Sie wenigstens zugehört und ich kann beruhigter ins Gefängnis gehen, denn vor dieser Strafe wird mich niemand schützen können. So, fertig. Ich halte den Zug jetzt an und Sie müssen mich überwältigen, nicht, dass Sie noch als Mitverschwörer angeklagt werden.“ Er klappte sein Laptop und blickte resigniert zu Boden.
Der Zug wurde langsamer und stoppte kurz vor Bielefeld.
Natürlich wurde ich mitüberwältigt, schließlich dann aber als Held gefeiert.
Und überraschenderweise fand die Polizei angeblich sogar einen Sprengsatz.
Der Bericht war nie ins Internet gelangt, dafür hatten die anderen gesorgt.
Aber was keiner wusste: Ich hatte eine Kopie auf USB in meiner Tasche stecken und den werde ich veröffentlichen. Egal, wie gefährlich es werden wird.

 

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