Von Jola Horn

Jeder Tag ist so anstrengend.  Jeden Tag neue schlechte Nachrichten. Jeden Tag freue ich mich schon auf den Heimweg und meine heißgeliebte Musik. Aber heute ist nicht jeder Tag. Heute war es auf der Arbeit noch stressiger als sonst. Und dann musste ich noch länger bleiben, weil sich mein Computer aufgehangen hat. Es gibt so viel in meinem Job, was mich nervt. Aber um darüber nachzudenken bleibt mir keine Zeit. 

Mein Zug kommt in fünf Minuten. Jetzt muss ich mich entscheiden, ob ich renne, oder einen Zug später nehme. Ich beeile mich und habe Glück, dass die Ampeln grün sind. Noch zwei Minuten, bis der Zug kommt. Ich muss nur noch die Rolltreppen zum Bahnsteig hoch. Warum stehen die schon wieder links auf der Rolltreppe? Es heißt doch rechts stehen, links gehen. Aber sich darüber aufzuregen, lohnt sich nicht. Ich erreiche das Ende der Rolltreppe und höre das Piepen, der sich schließenden Türen. Gerade so eben schaffe ich es, einen Arm in die Tür zu strecken. Die Tür geht wieder auf und ich quetsche mich, verschwitzt und keuchend vom Rennen, in die viel zu volle Bahn. Ich hole meine Kopfhörer aus der Tasche, verbinde sie mit meinem Handy und spiele meine geliebte Musik ab. Die nächste Haltestelle ist der Hauptbahnhof und viele Passagiere steigen aus. Im Gedränge schaffe ich es, mir einen Sitzplatz zu nehmen. Jetzt drehe ich die Musik laut auf und schalte ab. Ich schließe die Augen und gebe mich der Musik hin. 

 

Das nächste Mal als ich die Augen öffne, hält der Zug an der vorletzten Haltestelle, vor meiner. Ich beschließe noch schnell die Nachrichten zu checken. Die Schlagzeilen „Die Bodenoffensive in der Ukraine geht weiter“ und „tausende Tote bei Bombenangriff“ sehe ich jetzt fast jeden Tag. Trotzdem bin ich jedes Mal wütend und traurig. Wer braucht Krieg? Wer profitiert vom Krieg? Warum müssen so viele Menschen sterben? Ich stecke mein Handy in die Tasche und versuche, mich auf die Musik zu konzentrieren. Das Lied „Demokratie“ von den Ärzten gibt mir Hoffnung, dass es doch noch genug Menschen gibt, die sich für die Demokratien einsetzen. Es lindert kurzzeitig meine Angst, dass noch mehr Länder diese Gesellschaftsform verlieren und so noch mehr Kriege entstehen. Mir ist klar, dass auch demokratische Staaten Kriege führen können. Aber vielleicht wären es dann etwas weniger. Ich möchte diese Hoffnung nicht verlieren. Die nächste Haltestelle ist meine. Ich schaue aus dem Fenster. Es ist schon dunkel, die Bäume haben bereits ihre Blätter verloren und Regen prasselt gegen das Fenster. Langsam sieht man in der Ferne, die hell erleuchtete Stadt. Aber irgendwas ist anders als sonst. Über der Stadt liegt Rauch. Ich kann den Himmel gar nicht mehr sehen. Vielleicht brennt die nahegelegene Reifenfabrik? Das wäre nicht das erste Mal dieses Jahr. Ich nehme die Kopfhörer aus den Ohren. Vielleicht gibt es gleich eine Ansage, die erklärt, dass man die Fenster geschlossen halten soll, damit der Rauch nicht in den Waggon zieht. So eine Ansage gab es, bei dem Letzten Brand in der Reifenfabrik. Aber diesmal ist es mehr Rauch. Anstatt einer Ansage höre ich nur zahlreiche Sirenen. Am verrauchten Himmel sehe ich zahlreiche Helikopter mit Suchscheinwerfern. Die Bahn nähert sich dem Stadtzentrum. Aber warum fahren wir auf einem anderen Gleis als sonst? Ist die Weiche kaputt? Wir fahren so doch am Bahnhof vorbei, was soll das? Weiter schaffe ich es nicht zu denken. In mir steigt Panik auf. Ich sehe die Bahnsteige vom Bahnhof, oder besser gesagt das, was davon übrig ist. Alles liegt in Trümmern. Ich kann meinen Augen nicht glauben. Hinter dem Bahnhof kann man Häuser sehen. Mir fällt sofort auf, dass sich das Stadtbild geändert hat. Es fehlen viele Gebäude und manche sind nur noch zur Hälfte da. Die wenig übrig Gebliebenen brennen. Zwischen dem Schutt am Bahnhof sehe ich einen Menschen liegen. Er bewegt sich nicht. Ist er tot?   Warum halten wir nicht an? Ich muss hier raus, hier wohne ich. Panik überkommt mich. Ich atme tief ein und schließe die Augen.

 

Beim Ausatmen öffne ich die Augen wieder. Ich bin geblendet vom hellen Licht der Beleuchtung im Zug. Erleichtert stelle ich fest, dass ich im Zug sitze. Es war alles nur ein Traum. Ich möchte das nicht nochmal erleben. Mittlerweile habe ich fast immer diesen Traum, wenn ich das Lied höre. Die Musik, die mir einst Hoffnung gab, macht mich nun traurig.  Um den Traum schnellstmöglich zu vergessen, hole ich mein Handy aus der Tasche und beschließe die neusten Nachrichten zu lesen. Ich entscheide mich, den Artikel mit der Schlagzeile „tausende Tote bei Bombenangriff“ zu lesen. Seit Monaten sind es die gleichen Schlagzeilen. Am Anfang war ich noch schockiert, über die hohen Zahlen der Opfer, aber jetzt sind die fast normal geworden. „Schätzungsweise sind bei den heutigen Bombenangriffen auf Berlin fünftausend Menschen ums Leben gekommen. Der heutige Angriff war einer der Verlustreichsten in Deutschland, seit Beginn des dritten Weltkrieges.“ Sofort habe ich Mitleid mit den betroffenen Familien und muss daran denken, dass meine Heimatstadt auch nur noch aus Ruinen besteht. Aber die meisten Städte sind nun mal betroffen. Auch mein Haus steht nicht mehr. Es ist nur noch Schutt und Asche. Ich kann mich, wie als wenn es gestern wäre, an den Tag erinnern, an dem ich in dem Zug saß und sah, wie meine Stadt brannte. Ich träume so oft davon. Ich bin seit dem Tag so schreckhaft und traurig. Was würde ich dafür geben, noch einmal einen Tag ohne Krieg zu erleben? Ich wünsche mir doch nur den Frieden. Nachdenklich steige ich aus dem Zug. 

Obwohl ich nun schon seit sechs Monaten hier wohne, kann ich mir nicht merken, welchen Bus ich zu meinem zu Hause nehmen muss. Mein zu Hause, dass ich mir mit 100 Leuten Teile. Mein zu Hause, die Notunterkunft in der Sporthalle.

 

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