Von Ida Spatz

„Wissen Sie, wo wir gerade sind?“ Erschreckt blinzelte ich mein Gegenüber an. „Wie haben gestoppt. Auf freier Strecke. Bisher keine Durchsage.“

Prima! Das passte zu meinem Traum von soeben: verpatzte Prüfung. Und auch zu meiner Verabredung mit dem Diabetes meiner Nachbarin. Ich sollte heute ihre Pflegekraft vertreten und einigermaßen pünktlich sein.

Draußen war es dämmrig. Ein harter Arbeitstag saß mir in den Gliedern. Erfreulich allein der Anblick meines Gegenübers: Gepflegt, aber nicht geschniegelt. Keine Auffälligkeiten, Kleidung ordentlich, Gesicht unverkrampft. „Bin gerade überfragt“, musste ich zugeben, sah auf mein Handy und rechnete nach, wo wir uns in etwa befinden könnten. Die anderen Fahrgäste im Abteil dösten vor sich hin.

Mein Gegenüber murmelte: „Wenn ich es nur nicht so eilig hätte.“ „Ist bei mir auch so“, offenbarte ich. „Der nächste Halt kann nicht weit entfernt sein. In 13 Minuten wäre ich am Ziel.“ Wir blickten beide hinaus. In meinem Traum vorhin war extremer Mini als Mode angesagt. Ich besaß nur einen – knallrot mit schwarz eingefasstem Saum. Warum nur war ich vor dem Prüfer ausgerutscht und hingefallen? Welch ein Hirngespinst! Ich schüttelte den Kopf.

„Dies ist ein außerordentlicher Halt. Bitte steigen Sie nicht aus! Wir fahren in Kürze weiter.“ Eine Durchsage, die uns nicht weiterbrachte. Aber mein Gegenüber brachte sie auf eine Idee. „Hannes, bitte orte mal, wo ich mich befinde und hole mich hier ab,“ hörte ich. Und zu mir gewandt: „Offenbar müssen wir in denselben Ort. Wir können Sie mitnehmen.“ Er reichte mir seine Visitenkarte, damit ich Vertrauen schöpfen möge. Vertrauen in den Bahndamm hatte ich noch nicht, fühlte mich aber sportlich genug für das Abenteuer. „Hannes ist mein Bruder“, sagte er und schob bereits die Abteiltür auf.

Prompt stand vor uns der Zugbegleiter. Letztlich konnte er uns aber am Absprung nicht hindern. Neben dem Gleis ein schmaler ebener Streifen. Dann ging’s hangabwärts. Gut, es lange nicht geregnet hatte und wir überall Halt fanden. Einige Büsche streckten dornige Äste nach uns, aber wir halfen uns gegenseitig durch eine Schneise. Als wir unten auf dem Feldweg einen Blick zurückwarfen, lief der Zugbegleiter fuchtelnd außen am Zug entlang. Was er rief, verstanden wir nicht. Es war eine fremde Sprache.

Ein wenig misstrauisch war ich schon noch, als ich in den Land Rover stieg. Arm konnten die Brüder Bromwegler nicht sein. Offenbar hatten sie eine innige Bindung zueinander – der Bernd und der Hannes. Auf Bernds Karte stand eine Stuttgarter Adresse. Äxtleweg. Da würde ich wohl eine Weihnachtskarte hinschicken.

Hannes feixte: „Am Freitag, den 13., fährt man ja auch nicht mit der Bahn!“ „Ich mach das jeden Tag“, mischte ich mich ein, obwohl das ja nicht an mich gerichtet war. Gerade als Bernd etwas erwidern wollte, rasten uns drei Feuerwehrautos, ein Notarztwagen und ein Sanka entgegen mit Sirenen. „Pssst!“ Hannes drehte das Autoradio lauter: „ … schweres Zug-Unglück. Ein ICE raste in einen Nahverkehrszug. Wir schalten um …“

Drei Jahre später haben mein Lebensretter und ich geheiratet. Auf dem Weg zum Ja-Wort bin ich doch tatsächlich ausgerutscht. Der geistesgegenwärtige Zugriff meiner Trauzeugin rettete mich vor einer Bauchlandung. Dann kam die Standesbeamtin in einem roten Mini-Rock mit schwarzen Streifen herein.

 

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