Von Tabatha Schubert

Alles um mich herum war verschwommen. Es fühlte sich an, als ob ich in Watte gepackt wäre, während mein Hirn Purzelbäume schlug. Im Hintergrund vernahm ich dumpf das scheppernde und schleifende Geräusch, welches der Zug auf den Schienen erzeugte. So ohrenbetäubend es auch sein mochte, war es gleichzeitig auch entspannend. Es war eine Mischung aus Beklemmung und Ruhe. Für Manche unerträglich wie nervenaufreibend und für Menschen wie mich, Musik zum Einschlafen. Vor allem, um halb fünf Uhr, morgens in der Früh. Ich kann kaum glauben, dass es Menschen gibt, die morgens um diese Zeit aufstehen, um sich den Sonnenaufgang anzusehen. Mir fiel es schon schwer, pünktlich um drei die Beine aus dem Bett zu schwingen um dann im Halbschlaf ins Bad zu taumeln und mich, wenigstens halbwegs, ansehnlich zu machen.

Um kurz nach vier machte ich mich dann auf den Weg zum Zug, in dem ich, wie jetzt gerade, noch ein Schläfchen hielt. Wenn auch nur im Halbschlaf. Bis nach Osnabrück war es ein Weilchen. Etwas über zwei Stunden, um genau zu sein. Warum ich mir das jeden Tag antue, fragt man sich? Ich möchte Schauspieler werden. Die Universität Osnabrück war die nächstgelegene Uni, welche eine der besten Studiengänge für Schauspiel und Theater anbot. Also nahm ich, freiwillig, jeden Morgen diesen Weg in kauf, nur um meinen Traum zu verwirklichen. Auch wenn dafür all mein erspartes Geld, sowie so gut wie mein komplettes Gehalt meines Teilzeitjobs im Möbelhaus drauf ging. An einen Führerschein brauchte ich, hinsichtlich meiner kritischen finanziellen Lage, gar nicht zu denken. Ich bin also, auf ewig, dazu verdammt mit dem Zug Richtung Schauspieltraum zu fahren. Jedenfalls bis ich erfolgreicher Schauspieler bin und mir einen Führerschein und dazugehöriges Gefährt mehr als nur leisten kann. Irgendwann wird mir die Welt zu Füßen liegen und nichts wird mich aufhalten meinen Traum zu leben. Daran glaube ich fest.

Langsam öffnete ich meine Augen, wobei ich einige Male gegen das grelle Zuglicht anblinzeln musste, damit es sich nicht so anfühlte, als würde es mir jede Sekunde die Augen verätzen. Mit einem langen Seufzer streckte ich mich auf dem Sitz. Ein tiefes Gähnen raubte mir für einen Moment die Luft. Ich konnte nicht mehr schlafen. In mir flammte Aufregung und Unruhe auf. Heute war ein besonderer Tag. Ich würde in wenigen Stunden vor einem Regisseur vorsprechen, der Studenten für einen Horrorfilm suchte. Es war ein Geheimnis wer der Regisseur genau ist. Jedoch war im Umlauf, er sei eine Legende. Im Kopf ging ich meinen Text durch, den ich für den Vortrag eingeübt hatte, und sah mich um. Es befand sich keine Menschenseele in dem Abteil. Bis auf die Fahrtgeräusche war es sonst totenstill. Ich zog mein Handy aus meiner Hosentasche und sah auf die Uhr. 5:20 Uhr. Erst? Es kam mir vor, als wäre ich schon Stunden unterwegs. Das musste an der Müdigkeit und Aufregung liegen. Ein Blick auf das Display an der Decke des Zuges verriet mir, dass wir längst in Westbevern hätten halten sollen. Ich sah aus dem Fenster. Nichts als Schwärze. Ich sah nur mein verdutztes Spiegelbild. Die Sonne hätte längst aufgehen müssen. Und über diese Strecke fuhr man nicht durch einen Tunnel. Noch einmal sah ich auf mein Handy. 5:25 Uhr. Stirnrunzelnd schulterte ich meinen Rucksack und hielt mich an der Stange zu meiner Rechten fest, bevor ich aufstand. Von einer Stange zur anderen hangelnd, wechselte ich in das nächste Zugabteil, auf der Suche nach jemandem der vielleicht wusste, was hier abging. Vielleicht war ja die Anzeige im Abteil kaputt. 

Im nächsten Abteil angekommen, empfing mich komplette Dunkelheit. Hinter mir schloss sich die Verbindungstür zwischen den beiden Abteilen mit einem mechanischen Surren und nahm den einzigen Lichtschein mit sich. Hier war nicht nur die Anzeige kaputt. Es war so dunkel, dass ich nicht mal meine eigene Hand vor Augen sehen konnte. Der Zug wurde spürbar langsamer und ich taumelte bei der leichten Bremsung etwas zurück. Wieder zog ich mein Handy aus der Hosentasche und schaltete mit wenigen Handgriffen die Taschenlampe ein. Das Abteil wirkte ganz normal. Es war niemand hier. Als ich wieder auf die Uhr sehen wollte, stockte mir der Atem. Statt der Urzeit, wie man sie gewohnt war, rotierten auf dem Sperrbildschirm, wo sich das Uhr-Widget befand, Zahlen und Buchstaben in wirrer Reihenfolge, ohne eine sinnvolle Kombination für eine Uhrzeit zu ergeben.

Der Zug wurde immer langsamer und schien in einen Bahnhof einzufahren. Schnellen Schrittes lief ich, leicht schwankend, auf die Tür zum nächsten Abteil zu. Ich drückte den Knopf, welcher normalerweise die Tür öffnen sollte, jedoch passierte nichts. Die Tür blieb vor meiner Nase verschlossen. Mit viel Kraft versuchte ich sie aufzuschieben. Keine Chance. Ich schwankte zurück zu der anderen Tür, aber auch diese ließ sich nicht öffnen. Ich durchleuchtete noch einmal das gesamte Abteil. Das konnte doch nicht wahr sein. Wieder sah ich auf mein Handy. Die Uhr rotierte unaufhörlich und der obere Bildschirmrand informierte mich darüber, dass ich keinen Empfang und kein Internet hatte. Das hatte jetzt noch gefehlt. Mir wurde flau im Magen.

Mit einem kurzen Ruck kam der Zug nun endlich zum Stehen. Ich konnte es kaum erwarten hier rauszukommen. Vorausgesetzt die Zugtüren ließen sich öffnen. Mein Vorsprechen konnte ich jetzt wahrscheinlich vergessen. Ich lief zur Zugtür, ungeduldig, dass sie mir endlich den Weg freigab. Einige Momente lang passierte nichts. Doch ehe ich mich versah, öffnete sich die Tür ganz langsam. Ohne darüber nachzudenken, stieg ich aus, wobei ich nicht einmal abwartete, bis sich diese vollständig geöffnet hatte. Hauptsache raus hier.

Anstatt einer kühlen Herbstbrise, schlug mir ein brandheißer Atem entgegen. Was sich vor mir auftat, erfüllte mich gleichzeitig mit Verwunderung und nackter Angst. Ich stand inmitten einer brandheißen Wüste voller schwarzen Sandes. Wo auch immer ich mich hier befinden mochte, es war keiner menschlichen Natur. Es war so heiß, dass mir der Atem wegblieb und sich Bäche von Schweiß unter meiner herbstlichen Kleidung bildeten. Mein Körper fühlte sich an, als würde er in Flammen stehen und meine Haut sich von meinem Körper schälen. Meine Lungen verkrampften sich, als würden sie sich weigern diese Luft anzunehmen, die ich nun gezwungen war einzuatmen.

Gespensterartige Wesen mit menschlichen Gesichtern schwebten um mich herum. Sie erinnerten an dichte, schwarze Schleier. Ihre vor Leere strotzenden Augen, in den fahlen „Gesichtern“, bohrten sich förmlich in mich hinein. Mein Herz schlug wie wild und Schweiß rann mir den Rücken runter, während ich förmlich erstickte. Diese Hitze! Hinter mir vernahm ich das mechanische Surren der Zugtür. Mit einem Blick über die Schulter stellte ich fest, dass sie sich geschlossen hatte und der Zug zu verblassen begann. Als würde er sich einfach in Luft auflösen. Die Panik in mir nahm überhand. Ich wollte schreien, doch es ging nicht. Mir blieb nicht nur die Luft weg, ich schien auch von innen heraus auszutrocknen. Ich versuchte mich umzudrehen um irgendwie zurück zu dem Zug zu gelangen, bevor er gänzlich verschwunden war. Ich bewegte mich keinen Zentimeter. Meine Füße steckten in feinem, schwarzen Sand, aus dem ich mich nicht befreien konnte, egal wie sehr ich mich wandte und anstrengte. Ich sank immer tiefer. Um mich herum hatte sich eine Schar von Gespenstern gebildet, die, wie gierige Haie, um mich herum kreisten. Ihre Blicke raubten mir den Verstand, alles um mich herum drehte sich, während sich mein Herz geradezu überschlug. Ich wollte am liebsten schreiend fliehen, weit weg von den Geistern mit den bohrenden Blicken. Zurück in den Zug, der bereits verschwunden war. Ehe ich mich versah, stürzten sie sich auf mich mit schrillem, ohrenbetäubendem Schrei, welcher messerscharfe Zähne entblößte, welche jede Sekunde alles Leben aus mir saugen würden. 

Ich ging unter, in unendlicher Dunkelheit, und tauchte wieder aus ihr auf. Eingehüllt in einen dichten, schwarzen Schleier. Mit mir gingen meine Träume. Sie zerfielen zu dem selben schwarzen Sand in dem ich untergegangen war. In mir befand sich ein unglaublich stechender Schmerz, der nicht zu vergehen vermochte. Um mich herum schwebte ein Meer aus Traumfressern. Gierig. Sie trugen den selben stechenden Schmerz in sich wie ich. Ich konnte es spüren. Es war so unerträglich. Ihnen allen waren ihre Träume geraubt worden.

So wanderte ich umher, ruhelos, als ein Teil des gespenstischen Meeres, verdammt dazu, den Menschen ihre Träume zu nehmen, so wie mir auch meine genommen worden waren. 

Ich war ein Traumfresser, gefangen in einer schwarzen Hölle, voller zerfallener Träume.

 

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