Von Daniela Seitz
Mein Freund Herman respektiert mich nicht. Zuerst nahm er ohne meine Zustimmung andere mit in unser Baumhaus. Dann steckte er mir ohne mein Wissen Heftchen mit Schwulen-Pornos zu, die von meiner Mutter gefunden wurden. Ein anderes Mal hat er mir ein Mädchen weggeschnappt. Jetzt hat er in der Dunkelheit der großen Kakushöhle körperliche Nähe gesucht und es als Witz überspielt. Ich mag schmächtig sein, aber ich bin nicht schwul. Sonst hätte ich ja die Heftchen behalten.
Wir stehen zusammen mit Cindy in der kleinen Höhle, die sich 50 Meter nördlich der großen Kakushöhle befindet. Die kleine Höhle liegt höher im Kakusfelsen. Man erreicht sie über eine Treppe, welche im Halbkreis unter und um die Höhle herum verläuft. Sie hat mehr Licht als die Kakushöhle, das durch eine vom Boden bis zur Decke offene Stelle hereinkommt. Die Öffnung verläuft über den Treppen und ist mit einem hüfthohen Steg-Geländer gesichert.
„Mark, jetzt gib schon zu, dass du eben im Dunkeln Angst hattest.“, fordert Herman und kommt mir schon wieder viel zu nahe.
Während ich überlege, ob Herman mit „Angst im Dunkeln“ die Angst vorm Schwulsein meint, überschreitet Herman meinen Tanzbereich. Jetzt reicht es.
„Ich habe keine Angst“, schreie ich und schubse Herman von mir.
Herman prallt gegen das Geländer und verliert das Gleichgewicht. Er kippt auf die andere Seite des Geländers, schafft es aber, sich an diesem festzuhalten.
„HILFE!“, brüllt Herman, über den Treppen hängend.
„Halt dich fest! Ich komme…“, rufe ich.
Aber mein Körper ist wie erstarrt. Ich zögere. Bis mich Cindy anrempelt, während sie auf Hermann zustürzt, um mein Versprechen einzulösen. Sie zieht ihn wieder hoch. Oder sie versucht es, denn sie hat nur genug Kraft, um ihn zu halten. Aber das verschafft mir Zeit, um meine Starre zu überwinden. Herman ist mein bester Freund. Und der Vorfall ist ein Unfall. Natürlich helfe ich Cindy und zusammen ziehen wir Herman wieder hoch.
Die Lehrer haben nichts gesehen, aber Hermans Hilferuf gehört. Sie stoßen dazu und fragen, was los ist.
„Wir haben nur eine Szene für unsere Hausaufgabe in Deutsch lautstark ausprobiert. Wir …“, lüge ich, ohne zu wissen, warum ich lüge und ob Cindy und Herman mir widersprechen werden.
Doch Cindy und Herman decken mich.
„Macht das gefälligst zu Hause und nicht auf dem Schulausflug, wo wirklich was passieren kann“, ermahnt uns der Lehrer und geht.
*****
„Alter, ich weiß, dass du gezögert hast. Ich möchte nur wissen, ob du wegen Cindy gezögert hast. Du bist verliebt in sie, oder?“, fragt Herman mich, als wir unter uns sind.
„Ich … verliebt … in Cindy?“, stottere ich.
„Ich weiß, dass du Angst im Dunkeln hast, und ich weiß, wie du Cindy ansiehst. Es ist okay. Aber ich möchte wissen, warum du gezögert hast.“
Tausend Antworten schießen wie ein Kugelhagel durch meinen Kopf.
Weil du dich um andere mehr kümmerst als um mich.
Weil du mich vor meiner Familie bloßstellst.
Weil du bei anderen mehr Erfolg hast als ich.
Weil du mir zu nahekommst.
Weil du es wagst, einen Witz daraus zu machen.
Weil ich …
Ich könnte die Liste weiter fortführen, aber er gibt mir mit einem Stups zu verstehen, dass er eine Antwort erwartet. Eine ehrliche. Eine, die es ihm ermöglicht, unsere Freundschaft fortzusetzen. Eine Antwort, in der ich nicht das ekelhafte Monster bin, das ihn hätte sterben lassen. Shit, wie soll ich diesen Widerspruch nur auflösen?
„Cindy … sie … sie hat mich gebeten …“, stottere ich, ohne zu wissen, wo das hinführen soll.
„Sie hat dich worum gebeten?“, fragt Herman.
„Na ja, sie… sie … sie mag dich und … sie weiß nicht, wie sie es …
„Sie hat dich um Hilfe gebeten, mir ihre Liebe zu gestehen?“
Nein, hat sie nicht. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie es in Cindy aussieht und wen sie mag. Aber Herman ist ein Mädchenschwarm. Für ihn gehört es zum Alltag, mindestens zwei Liebeserklärungen am Tag entweder abzuschmettern oder zu ermutigen.
„Ähm … ja …“
„Und dir fällt nichts Besseres ein, als mich fast umzubringen und darauf zu vertrauen, dass sie mich rettet?“
„Das … das war ja keine Absicht. Das hat sich … irgendwie … einfach so ergeben … Und ihre Beine … ich meine … sie hat den Schulrekord beim Laufen gebrochen … also …“
„Ja, ihre Beine sind echt der Wahnsinn!“
Seine Miene ist abwesend. Ich kenne diesen Ausdruck. Ich sehe ihn jeden Tag. Immer wenn er sich entschließt, noch eine Bewerberin zu ermutigen. Er jongliert gern. Aber jetzt, nach der Kakushöhle, stört es mich. Sieh gefälligst mich an.
„Aber ihre Liebe hat sie mir nicht gestanden. Irgendwie passt das nicht.“, hakt Herman nach.
„Ach Herman, ich habe es halt vermasselt. Die Lebensgefahr ist nicht der Zeitpunkt für Romantik. Tut mir leid.“
„Na schön. Und was ist mit Cindy? Magst du sie?“
Ein Gedankensprudel schießt durch meinen Kopf.
Du spielst mit Gefühlen.
Du bist nur auf Eroberungen aus.
Du brauchst andere Erfahrungen.
Du irritierst alle.
Du wirst mir wehtun.
Ich schulde es dir.
„Ja … ähm, ich meine nein … ich mag sie nicht.“
****
„Wieso hast du dem Lehrer nicht gesagt, dass er dich geschubst hat?“, fragt Cindy.
„Er ist mein bester Freund. Welche Ausrede hast du?“, entgegnet Herman.
„Eure Gruppendynamik ist ansteckend. Und eigentlich mag ich Mark.“, stellt Cindy klar.
„Da haben wir wohl etwas gemeinsam…“, murmelt Herman.
Cindy starrt Herman an. Der Groschen fällt langsam. So langsam, dass Herman Cindys Schweigen nicht aushält.
„Ich schulde es ihm. Nur wegen mir redet er sich klein. Das ist meine Schuld.“
„Bitte was?“, fragt Cindy.
„Gib mir einen öffentlichen Korb. Und danach gehst du mit Mark.“
„Ich mag Mark. Aber … nicht seine Lügen.“, protestiert Cindy und verheimlicht, dass sie Mark mit gewissen Heften gesehen hat.
„Dann bist du zu bedauern.“, sagt Herman und lässt Cindy stehen.
„Deine Lügen mag ich auch nicht!“, ruft Cindy Herman hinterher.
Sie weiß, dass Herman mit keiner seiner vielen Freundinnen geschlafen hat.
****
Der Vorfall an der Höhle ist eine Woche her. Das Cindy Herman hat abblitzen lassen fünf Tage. Und mich hat sie gestern abblitzen lassen.
Ich bin am Boden zerstört, während ich Zuflucht in unserem Baumhaus suche. Herman hat sich sofort mit einer anderen getröstet.
„Ach, Kopf hoch, Mark.“, sagt hinter mir eine weibliche Stimme.
Ich drehe mich um. Ich hasse ihn dafür, dass wir hier nie alleine sind. Es ist Hermans Neue. Wie hieß die noch gleich? Ich kann mich nicht erinnern. Aber sie durchwühlt einfach so munter unser Baumhaus. Das hasse ich auch. Sie ist gefährlich nahe. Sie greift nach meinem Geheimnis.
„Cindy weiß gar nicht, was ihr …“, plappert sie munter weiter.
Bevor ich sie daran hindern kann, die Heftchen zu nehmen, kommt Herman dazu. Er greift ihre Hand, dreht sie mit einem Tanzschritt zu sich herum und verschließt ihren Mund mit einem Kuss, bevor sie den Satz beenden kann. Danke! Mir geht ihre Stimme auf die Nerven.
Das ist, was ihn so beliebt macht. Er verhilft mir und ihr gleichzeitig zu dem, was wir brauchen, um uns wohlzufühlen. Es kennt mich eben keiner so gut wie Herman.
„Ja, Herman, ich habe Angst im Dunkeln.“
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kakushöhle
