Von Sabrina Rüdebusch
Gregors Familie war in fast allen Belangen das, was man allgemein als mittelmäßig bezeichnete. Sein Vater war ein mittelmäßiger Versicherungsmitarbeiter – er fiel weder durch krankheitsbedingte Fehlzeiten auf noch konnte er sich jemals über eine Prämie für besonders erfolgreiche Abschlüsse freuen. Gregors Mutter war eine mittelmäßige Berufsmusikerin – zwar traf sie die meisten Töne, spielte aber zeit ihres Lebens niemals die erste Geige, geschweige denn in einem überregionalen Orchester. In der Schule blieben Gregors Leistungen stets im soliden Mittelfeld, auch tat er sich nicht durch ein künstlerisches oder sportliches Talent hervor. Die Mitglieder von Gregors Familie waren mit ihrem Durchschnittsleben zufrieden. Niemand verlangte Außergewöhnliches von ihnen und sie selbst hatten nie den Wunsch gehegt, aus der Masse hervorzustechen.
Es gab aber eine Sache, für die die Familie weit über ihre norddeutsche Heimat hinaus Bewunderung erntete, und das war Tante Gretes Grünkohl.
Tante Grete wohnte allein auf einem Berg oder besser gesagt auf einer jener wenigen Anhöhen, die inmitten des platten Landes als ein solcher bezeichnet wurden. Dort oben führte sie eine kleine Pension mit eigenem Restaurant. Als Geschäftsmodell setzte sie auf ausnahmslose Exklusivität. Tante Grete vermarktete ihren Grünkohl nicht, sie verkaufte ihn auch nicht in einem Hofladen. Wer in den Genuss des Kohls kommen wollte, musste sich einen Platz an einem der grobgezimmerten Tische mit grün-weiß karierter Tischdecke sichern. Diese vergab Grete mit Vorliebe an große Kohlfahrt-Gesellschaften und an alles, was Rang und Namen hatte. Außerdem richtete sie einmal im Jahr ein Festessen für ihre Familie aus.
In seinen ersten Lebensjahren war diese Grünkohl-Verkostung Gregor auf wundersame Weise entgangen. Zum Verdruss von Gregors Mutter vertrug ihr Sprössling anfangs nur Pastinakenbrei. Später machten ihm mal ein Asthmaanfall, mal irgendein Ausschlag bekannter Kinderkrankheiten zu schaffen.
Im Alter von vier Jahren schließlich war es so weit: Gregors erste Teilnahme am sagenumwobenen Grünkohl-Schmaus stand an. Voller freudiger Erwartung saß der Kleine an der Tafel, während Tante Grete allerlei Köstlichkeiten auf den Tisch stellte und auf die Teller häufte. Grünkohl-Pasta, Grünkohl-Pastete, Suppe mit Grünkohl-Einlage, gratinierter Grünkohl. Risotto, Eintopf und Fladen – mit Grünkohl. Sogar Grünkohl-Parfait gab es. Gregor konnte sich kaum sattsehen an der grünen Pracht. Was sollte er als Erstes probieren? Er entschied sich für den Klassiker, Grünkohl mit Pinkel.
„Großartig!”, schwärmte Gregors Vater.
„Grandios!”, jubelte seine Mutter.
„Grässlich!“, dachte Gregor.
„Grundgütiger, was für ein herrlicher Grünkohl!”, frohlockte die Oma.
„Garantiert das Beste, das ich je gegessen habe!“, lobte der Opa.
„Was ist das für eine grauenvolle Grütze?”, fragte sich Gregor nach dem ersten Löffel des Grünkohlpuddings. Und nach dem mit Spinat verfeinerten Kohl-Smoothie war ihm klar, diese grüne Hölle galt es unter allen Umständen zu vermeiden.
Nach einer vorgespielten Magenverstimmung mit fünf Jahren und einem mutwillig gebrochenen Arm im Folgejahr suchte Gregor eine langfristige Lösung für das Grünkohl-Problem. Wenn er Tante Grete nur nie wieder besuchen müsste, könnte er den gruseligen Geschmack für immer vermeiden.
So kam es, dass Gregor angeblich ein Unwohlsein entwickelte, wenn er in sein Hochbett klettern sollte. Auf Spielplätzen mied er die größeren Rutschen, das Klettergerüst, die Schaukel – und schließlich die Spielplätze selbst. Vor Rolltreppen begann er zu zittern und an ein Schwimmabzeichen war wegen des Sprungturms nicht zu denken. Für Gregors Umfeld war der Fall klar – der Junge litt an schrecklicher Höhenangst.
Fortan war Gregor bei den Familienzusammenkünften in luftiger Höhe entschuldigt. Und auch wenn seine Mutter noch so oft an das Mitgefühl ihrer Schwester Grete appellierte, war diese nicht bereit, ihre strikte Ortsregel zu brechen.
„Meinen Grünkohl gibt es hier auf meinem Hof und sonst nirgends“, schnappte sie. „Wenn selbst die Queen hierher anreisen konnte, dann schafft dein Sohn das auch.“
Es blieb dabei, kein Grünkohl für Gregor. Dieser freute sich insgeheim über seinen schlauen Trick. Dass niemand sonst sich daran wagte, besagte Spezialität zu kredenzen, war in der Familie ein ungeschriebenes Gesetz.
„Eine Frage des guten Tons“, befand die Mutter.
„Das wäre wie Blasphemie“, nickte der Vater.
„Ein Glück!“, dachte Gregor.
Zwar entging ihm noch so manches besondere Ereignis im Lauf der Jahre und Flugreisen sowie die meisten Sehenswürdigkeiten waren für ihn während seiner Jugend buchstäblich unerreichbar. Auch in seiner Freizeit musste er sich mehr und mehr einschränken. Die Stadiontribüne war schlichtweg zu hoch, das wäre unglaubwürdig gewesen. In den Klettergarten konnte er seine Freunde leider nicht begleiten. Ausbildungstechnisch fielen ebenfalls manche Möglichkeiten flach. Dafür lebte er frei von der pampigen Bitterkeit des Gret’schen Gemüses.
Je älter Gregor wurde, desto mehr schwand die Bedeutung der Grünkohl-Lüge für seinen Alltag. Er achtete weiterhin darauf, keine Beweise für Abstecher in die Höhe zu hinterlassen. Keine Fotos, keine Berichte gab es etwa nach der ersten Fahrt im Riesenrad, die er mit seiner Freundin Sofie unternahm. Ansonsten lebte er ein ruhiges, entspanntes Leben, viele Kilometer von seiner Ursprungsfamilie entfernt und dadurch weitestgehend unbeobachtet. Als Gregor seine Familie in die erste gemeinsame Wohnung mit Sofie – Erdgeschoss! – einlud, hätte er sich nie träumen lassen, dass ihm ausgerechnet Tante Gretes Traditionsbewusstsein zum Verhängnis werden sollte.
Sofie und Gregor hatten ein gemütliches Abendessen geplant. Nach Begrüßung, Wohnungsführung und den ersten Drinks wurde die Familie stetig unruhiger, wann sollte es denn endlich etwas zu essen geben?
Gregor konnte sich auch nicht erklären, wo Sofie so lange blieb. Sie hatte doch längst Feierabend.
Das leibliche Wohl habe sie immer im Blick, meldete sich Tante Grete zu Wort, sie würde also wohl ihr Gastgeschenk vorziehen müssen, auch wenn die Dame des Hauses noch nicht zugegen sei.
Nichts Böses ahnend griff Gregor nach der Alufolie, die Tante Grete über einen großen Klappkasten gespannt hatte, denn Grünkohl konnte es schließlich nicht sein, der wurde nur auf dem eigenen Hof verzehrt, oder? Oder?
„Zur Feier des Tages habe ich Brot und Salz mitgebracht. Zum Einzug, du weißt schon. Und da habe ich mir gedacht, was wäre so ein schnödes Brot ohne mein legendäres Grünkohl-Pesto? Ja, das Alter macht auch mich milde und ich habe mich entschieden, für dich eine Ausnahme zu machen, Gregor.”
Völlig verdattert musste Gregor zusehen, wie Tante Grete in scheinbar übermenschlicher Geschwindigkeit Brotscheiben schnitt, sie mit dem verhassten Zeug bestrich und auf die Teller beförderte. Vor seinem Teller sitzend fühlte er sich in die Situation zurückversetzt, als er als kleiner Junge den Grünkohl probiert und versucht hatte, einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren.
Gregor griff zum Brot und führte es in Richtung Mund. Er schluckte trocken. Ihm war übel und Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn. Er hatte den Eindruck, dass sämtliche Augenpaare auf ihn gerichtet wären. Und bildete er es sich ein oder war da etwas Störrisches, Triumphierendes in Tante Gretes Blick?
„Aber Gregor, du bist ja ganz bleich. Man könnte glatt meinen, du würdest keinen Grünkohl mögen!”, flötete Tante Grete.
Gregor konnte seine Anspannung nicht länger verbergen. Das Brot glitt ihm aus der Hand. Er sah keinen anderen Ausweg mehr als die unangenehme Wahrheit. Er hob den Blick und schaute Tante Grete reumütig an.
„Es tut mir schrecklich leid. Ich mag den Grünkohl tatsächlich nicht”, erwiderte er, „ehrlich gesagt kann ich ihn nicht ausstehen. Aber ihr wart alle so begeistert und ich wollte euch als Kind nicht enttäuschen. Deshalb habe ich so getan, als hätte ich Höhenangst.”
Gregors Mutter schluckte.
Der Opa schnaubte verächtlich.
Sein Vater blickte entsetzt auf.
Die Oma betreten zu Boden.
Tante Grete fing sich als Erste und begann ausgelassen zu lachen. Zögerlich stimmten die anderen in das Gelächter ein. Gregors alte Unsicherheit kehrte zurück. Er spürte deutlich, dass er die drohende familiäre Ablehnung nicht würde durchstehen können, wenn sie bemerkten, dass das kein Witz gewesen war. Also lachte auch er. Sein Vater erklärte schulterzuckend, sein Sohn habe eben schon immer einen zweifelhaften Humor besessen. Keinen Grünkohl mögen! So etwas Absurdes hatten sie alle noch nie gehört. Plötzlich wurde Tante Grete wieder ernst und musterte Gregor stirnrunzelnd.
„Aber eines musst du mir erklären. Höhenangst hast du nicht – in Ordnung. Der Grünkohl ist nun doch nicht das Problem – schön. Aber warum konntest du mich dann all die Jahre nicht besuchen?“, fragte sie.
Fieberhaft suchte Gregor nach einer neuen Ausrede für seine Abneigung gegenüber Tante Gretes Zuhause.
„Die Katzen”, brachte er schließlich hervor. „Mir wurde fürchterlich übel und ich konnte kaum atmen, weil die Katzen immer in der Nähe waren. Ich habe mich vor Kurzem untersuchen lassen. Ich habe eine sehr starke Katzenhaarallergie. Aber das konnte ich dir doch nicht sagen, Tante Grete. Du liebst deine Katzen.”
„Als wären es meine Kinder!”, bestätigte Grete pathetisch.
„A propos Kinder. Sofie erwähnte etwas in die Richtung, die Familie würde sich bald vergrößern. Wolltet ihr uns vielleicht noch etwas mitteilen?”, fragte Gregors Mutter erwartungsfroh.
Gregor wusste nicht, was er antworten sollte. Sofie hatte darauf bestanden, dass sie die Verlobung gemeinsam bekannt gaben. Warum machte sie dann solche Andeutungen? War sie etwa … schwanger? Und wo blieb sie überhaupt?
Da endlich hörte er das erlösende Geräusch des Schlüssels, der im Türschloss gedreht wurde. Kurz darauf stand Sofie strahlend vor ihm. In den Händen hielt sie einen Karton mit der Aufschrift „Überraschung“.
Gregor blickte Sofie unter hochgezogenen Augenbrauen fragend an. Plötzlich wackelte der Karton.
„Miau.”
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