Von Sonja Schirdewan

Ein leiser Schluchzer entfährt ihrer Kehle. Sie presst die Augen zusammen, versucht sich vorzustellen, woanders zu sein. Zuhause bei ihrer Familie, ihrem Mann und ihrer Tochter. Adelheid sieht das liebliche Gesicht ihres kleinen Mädchens vor sich und vergisst für einen Augenblick, wo sie sich befindet. Doch dieser Moment währt nur kurz, das Geschrei der Menschen und der furchtbare Gestank reißen sie viel zu schnell wieder zurück ins hier und jetzt.

 

Sie legt den Kopf soweit es ihr möglich ist in den Nacken, ignoriert den Schmerz, der ihr durch den Körper fährt und blickt in den blauen Himmel.

‚Barmherziger Vater, was habe ich getan, dass ich diese Strafe verdiene? Warum stellst Du mich so auf die Probe? Und warum nimmst Du mir die Stärke, um sie zu bestehen?‘

Tränen schießen ihr in die Augen und sie muss schlucken. Wenigstens jetzt hätte sie gern eine Antwort von Ihm erhalten, eine Erklärung, warum so viel Leid und Tod über ihre gesamte Familie gekommen war, doch Er blieb stumm. Vielleicht könnte sie ihr Schicksal dann leichter annehmen und ertragen. Sie senkt den Blick und sieht das Volk durch einen Schleier von Tränen.

Dort unten stehen schreiend und geifernd Nachbarn, Kunden und sogar Verwandte. Sie erkennt es in ihren verzerrten Gesichtern, sie gieren danach sie sterben zu sehen. Diese Fratzen, die zu ihr hinauf starren, sie bespucken und die wildesten Flüche ausstoßen, das sind die wahren Teufel.

 

„Brennen soll sie, die Hexe!“

„Verbrennt sie endlich!“

„Merzt das Böse aus, damit wir endlich wieder in Frieden leben können!“

 

Nur ein Wort des Inquisitors genügt, um die Menge auf dem Marktplatz verstummen zu lassen. Er wird in Kürze mit der Verlesung der Anklageschrift beginnen.

 

Sie sendet ein kurzes Stoßgebet für die Sicherheit ihrer noch verbliebenen Liebsten gen Himmel. Ein freudloses Lächeln stiehlt sich auf ihre Lippen. Selbst jetzt, wo doch schon jede Hoffnung verloren ist, glaubt und vertraut sie immer noch auf Ihn.

Seit dem Tod ihres Vaters hatte man schon hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, seine eigene Frau hätte ihn umgebracht, vergiftet – wie es Hexen halt tun.

Es konnte einfach nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn eine Witwe und ihre Tochter gut zurecht kamen, während das Leben für alle anderen in der Stadt immer schwieriger wurde. Adelheid und ihre Mutter arbeiteten hart und lebten sparsam, doch das sah niemand von ihnen. Als sie dann auch noch einen wohlhabenden Ehemann, ihren geliebten Johann, fand und eine gesunde hübsche Tochter, Margret, zur Welt brachte war eindeutig, sie mussten mit dem Teufel im Bunde sein.

 

Das Fenster ihrer kleinen Zelle des Rathauskellers war zu hoch, um etwas dadurch zu sehen, doch sie erinnerte sich noch lebhaft an die entsetzlichen Todesschreie ihrer Mutter , als diese vor ein paar Tagen hier an ihrer Stelle stand. Sie hatte nicht in Erfahrung bringen können, wer sie angeschwärzt hatte, doch das Motiv war eindeutig: Neid.

Dabei waren sie alle immer zu ihnen gekommen, wenn sie etwas brauchten. Adelheid und ihre Familie waren so dankbar für ihren eigenen Wohlstand, dass sie auch immer gern etwas abgaben. Sie hatten nur helfen wollen und so wurden sie dafür belohnt.

 

Schon als sie ihre Mutter holten, war sie sicher, auch ihre Zeit würde kommen. Johann und Adelheid begannen sofort damit, ihre Flucht zu planen, verkauften unauffällig so viel ihres Besitzes, wie es ging. Den Erlös investierten sie in einen guten Wagen, ein kräftiges Pferd und unverderbliche Vorräte. All das versteckten sie bei der einzigen Person in diesem Ort, der sie noch vertrauen konnten, dem Bruder ihres Mannes. Auch er stand nun dort unten und wartete auf ihren Tod, doch nur um keinen Verdacht auf sich und seine Familie zu lenken. Sie  hatte vorhin deutlich die Trauer in seinen Augen gesehen, als man sie in die Mitte des Marktplatzes schleifte.

 

Je näher der Tag des Prozessbeginns ihrer Mutter rückte, desto klarer wurde ihr, dass sie ihren Mann und ihre Tochter nicht begleiten konnte. Sobald man mit den Verhören beginnen würde, wäre sie verloren. Die edlen Herren wollten Namen haben und die würden sie bekommen. Erst wenn sie zufrieden waren, würden sie von ihrer Mutter ablassen. Und Adelheids wäre einer der ersten, den sie von ihr hören wollten, da war sie sicher. Wäre sie fort, wenn man sie verhaften wollte, würde man sie jagen, das wusste sie, so wahr der Teufel der Herr der Hölle war. Ihr Mann und ihr Kind allein hätten eine Chance, aber nicht mit ihr zusammen.

 

Dann war es soweit, sie kamen, um sie zu holen. Gefasst ließ sie sich abführen, ihre Familie war in Sicherheit. Die Nachbarn standen vor ihren Türen und gafften, als sie hoch erhobenen Hauptes aus ihrem Haus heraus trat. Noch hatte sie nur eine gewisse Ahnung von dem, was ihr bevor stand.

 

‚Dein Hochmut wird dir schon noch vergehen, Teufelsbuhle!‘

‚Nun erhältst du endlich deine gerechte Strafe, Hexe!‘

 

Sie brachten sie ins Rathaus, führten sie in einen kleinen dunklen Kellerraum, wo sie sich zunächst komplett entkleiden musste. Sie fühlte die lüsternen Blicke des Henkersknechtes auf ihrem Körper und versuchte so viel wie möglich davon mit ihren Armen zu verbergen. Doch er verhinderte dies, indem er ihr die Hände auf dem Rücken zusammen band.

 

‚Gnädiger Herr, womit habe ich dies verdient?‘

 

Leise murmelnd fing sie an zu beten, um sich von den groben, rauen Händen abzulenken, die sie nun überall anfassten, um nach Hexenmalen zu suchen, wie sie ihr erklärten. Doch seine gierigen Augen offenbarten etwas anderes. Adelheid schämte sich so sehr, dass sie am liebsten jetzt schon tot umgefallen wäre. Als er fertig war und erklärte, er hätte kein solches Mal gefunden und die junge Frau einen Augenblick lang Hoffnung schöpfte, wandten sich die Richter zum Gehen. Der Wärter blieb bei ihr in der Zelle.

 

‚Für heute ist es genug, morgen früh beginnen wir dann mit der gütlichen Befragung.‘

Der Inquisitor machte trotz allem einen freundlichen Eindruck auf sie.

‚Herr‘, wagte Adelheid daher unsicher zu flüstern. Er verharrte und sah sie an.

‚Herr, lasst mich nicht so unbedeckt hier zurück, mit ihm, ich bitte Euch inständig!‘

‚Mein Kind, Franz hier ist ein gottesfürchtiger Mensch, von ihm droht dir keine Gefahr, er wird dir kein Leid zufügen.‘

An den Schergen gewandt fügte er hinzu: ‚Gib ihr ihre Kleidung wieder, dann bringe ihr Wasser und Abendbrot.‘

‚Ja, Herr.‘

 

Damit verließen die Richter den Kerker und das kleine Fünkchen Hoffnung verschwand mit ihnen.

Nur wenige Sekunden später, nachdem man die Herren die steile Treppe hatte erklimmen hören, fiel er über sie her. Erst quetschte er grob ihre Brust, so dass sie vor Schmerz so laut schrie wie sie konnte. Sie hoffte so sehr, dass die achtbaren Ratsherren sie hören und ihr zur Hilfe kommen würden. Da sie sich wegen der Fesseln nicht einmal wehren konnte, hatte der Rohling leichtes Spiel. Brutal schändete er ihren Körper und ließ erst wieder von ihr ab, nachdem er schwer atmend über ihr zusammen gesackt war und ihr mit seinem Gewicht die Luft abdrückte. Als er endlich plump wieder aufgestanden war rollte sie sich zusammen und fing hemmungslos an zu schluchzen. Im Hinausgehen zog er sich die Hose wieder hoch und warf noch einen verächtlichen Blick auf sie. Noch niemals zuvor war sie so erniedrigt worden, sie wollte vor Scham nur noch sterben.

‚Deine Kleider liegt dort, zieh sie ruhig wieder an, wenn du kannst.‘ lachte er boshaft.

 

Sie nimmt kaum noch wahr, was um sie herum vor sich geht. Dass sie mit faulem Gemüse beworfen wird, ist ihr inzwischen einerlei, sie will es nur endlich hinter sich bringen. Der Hunger und die Schmerzen durch die Befragungen haben sie dermaßen geschwächt, dass sie kaum noch gerade stehen kann. Nur der hohe Pfahl, an den sie gefesselt ist, hält sie noch aufrecht. Wie gern würde sie auf die Knie gehen und Gott um Erbarmen anflehen. Und um Vergebung, denn nun hat auch sie Schuld auf sich geladen. Sie hatte sich geschworen, während der Befragung Stand zu halten und immer die Wahrheit zu sagen. Doch die Wahrheit wollte der Inquisitor nicht hören, Namen, Namen sollte sie verraten. Namen von anderen Frauen, die mit ihr zusammen des Nachts dem Satan huldigten. Nach dem ersten Verhör hatte sie verzweifelt in ihrer Zelle gelegen, vergeblich darauf wartend, dass die Schmerzen nachlassen würden – wohl wissend, dass sie diese Tortur kein zweites Mal durchhalten konnte. Am nächsten Tag auf der Streckbank hatte sie sie dann heraus geschrien – Namen. Namen Unschuldiger. Die alte Krämerin möge ihr verzeihen, sie war mittlerweile so krank und gebrechlich, dass sie den nächsten Winter ohnehin nicht überstehen würde. Adelheid hoffte nur, dass die greise Witwe Erbarmen vom Inquisitor erfahren und nicht gefoltert würde. Dann noch die Namen von ein paar Ratsherren-Gattinnen, deren Ehemänner schon ihre schützenden Hände über ihre Frauen halten und den Inquisitor anderweitig besänftigen würden, für eine gewissen Zahl von Goldmünzen ließe er sicher ihre Namen aus den Protokollen entfernen. Bis sie endlich zufrieden waren und von Adelheid abließen hatte sie ihnen fünf Namen entgegen gespien und somit fünf Mal falsches Zeugnis abgelegt. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie gegen eines von Gottes heiligen Geboten verstoßen.

 

In diesem Augenblick brechen die Tränen aus ihr heraus. Sie sieht ihren Mann vor sich, auf dem Kutschbock des Karrens, beladen mit ihren letzten Habseligkeiten. Der unglückliche Ausdruck in seinen Augen, er verstand es, wusste, es gab keine andere Möglichkeit, doch wollte sie nicht zurück lassen. Nur für das Leben ihrer Tochter hatte er sich dazu drängen lassen, allein zu gehen.  Auf der Ladefläche weinten und schrie Margret nach ihrer Mutter. Sie hält ihre kurzen Ärmchen nach ihr aus, ihr Gesicht läuft schon ganz rot an. Adelheid ist froh, dass sie sich so weit außerhalb erst trennen wollten, Johann wurde der Kleinen kaum Herr und das Geschrei hätte alle Nachbarn alarmiert. Die Flucht wäre gescheitert gewesen. Hemmungslos schluchzend steht Adelheid nun auf dem Scheiterhaufen, die harten, erlogenen Worte des Inquisitors dringen nicht mehr zu ihr durch. Der Schmerz ihrer ausgerenkten Schultern, der gebrochenen Finger raubt ihr fast die Sinne, doch eine gnädige Ohnmacht bleibt aus. Als der Henker schlussendlich die brennende Fackel an den Reisig hält, auf dem Adelheid seid gefühlten Stunden ausharren muss, ist sie bei vollem Bewusstsein.

 

Fast eine halbe Stunde lang hallen ihre verzweifelten Schreie von den umliegenden Häusern wider. Mit ihnen erstirbt auch erst das freudige Gejohle der anwesenden Bevölkerung. Von Adelheid bleibt nichts weiter übrig, als Erinnerungen und Asche im Wind.