Von Kevin N. Hoffmann

Man hat mir nicht geglaubt – nie! Auch wenn jeder gesehen hat wie es zu Ende ging: Flammen züngeln an den Fassaden des Gebäudes empor, umhüllen es, einer letzten Umarmung gleich und dringen durch die Fenster in die oberen Stockwerke ein.

Sehe ich den anderen ins Gesicht, sie sind von diesem wundervoll abscheulichen Bild hypnotisiert, ja, auf groteske Weise entzückt. Einzig ich, von einem anderen Feuer getrieben, schreie, flehe, weiß, es gibt noch Hoffnung – Hoffnung für ihn – für meinen Sohn.

Die Sterblichkeit, die menschliche Verwundbarkeit jedes Wesens, sie scheinen plötzlich allgegenwertig, vor ein paar Stunden noch fern, sind sie nun zur Realität geworden. Sein, nicht sein – jenseits des seins – das Nichts, kurzum der Tod, ich spüre ihn mit jeder Faser meines Körpers.

Ich unterdrücke den Impuls den Feuerwehrmann neben mir zu packen, ihn zu schütteln, ihm zu verdeutlichen zurück in die Flammen zu laufen, denn laut der Lehrkräfte waren alle Kinder zur Zeit der Explosion außerhalb des Gebäudes, im Pausenhof. Die Ethiklehrerin, welche zu dieser Zeit Aufsicht über die Klasse meines Sohnes hatte, beteuerte vor dem Direktor, der Feuerwehr und der Polizei, sieben Kinder gezählt zu haben: vollzählig.

Sieben Kinder – sechs davon bereits sicher bei ihren Eltern auf dem Weg nach Hause. Die anderen Kinder sind entweder noch auf die Krankenwägen verteilt oder ebenso schon fern ab dieser Katastrophe.

7 – ich liebte diese Zahl. Sie ist eine Primzahl, sie symbolisiert den Menschen, da sie sich aus der 3, dem Geist, und der 4, den vier Elementen – dem Körper, zusammensetzt. Ich war nie gläubig gewesen, doch diese Kombination machte mich immer stolz, denn mein Sohn war damals am 07. Juli 2007 um sieben Uhr morgens geboren worden. Er verkörperte für mich die sieben, er war das perfekte Weltwunder für mich, mein ein und alles, der Inbegriff des Lebens. Nun hing sein Leben an diesen Schwachmaten, welche mir nicht glauben wollten. Ich spürte es genau, sie hatte die Dreistigkeit besessen in dieser Sache zu Lügen um den Konsequenzen zu entgehen, genau wie der Idiot eines Direktors.

Da heute, Montag der 07. Juli, der siebte Geburtstag meines Sohnes war, brachte ich ihn vor der Arbeit persönlich in die Schule. In der Eingangshalle verabschiedete ich mich von ihm mit einem Kuss auf die Stirn und einer festen Umarmung. Um den Hals hatte er sein neues Geburtstagsgeschenk, einen silbernen Schlangenanhänger, auf dessen Rückseite sein Name eingraviert war. Er liebte Schlangen, sie faszinierten ihn seit wir seinen ersten Ausflug in den Zoo unternommen hatten. Vor ein paar Wochen waren wir für ihn Klamotten einkaufen gewesen und in einem Schaufenster eines Juweliers hatte er diesen Anhänger gesehen und hatte seit her von nichts anderem mehr gesprochen. Stolz präsentierte er den Anhänger seinen Freunden.

Weil zur Krankheit des Menschen gehört, Gefahren zu erschnüffeln wo keine sind, roch ich, als ich mich dem Ausgang zuwandte, eine Art Klebstoff. Beunruhigt, da der klebstoffartige Geruch bedeuten konnte, dass Gas austritt, suchte ich besorgt das Rektorat auf und sprach mit dem Direktor. Dieser nickte, warf jedoch ein, dass das Gebäude ein Neubau sei und es deswegen an den einen oder anderen Stellen durchaus nach dergleichen riechen könne. Auf mehrere Bitten hin, versprach er mir, den Hausmeister zu kontaktieren. Ein wenig entspannter verließ ich das Gebäude, nicht ahnend, dass ich wirklich eine leibhaftige Gefahr erkannt hatte.

Schuldgefühle plagen mich, wieso ich diesen Lügner nicht früher durchschaut hatte. Er hatte mit Sicherheit nicht den Hausmeister kontaktiert, ansonsten hätte er die defekte Gasleitung gefunden und richtig gehandelt. Doch Lügen ist das Werkzeug der Schwachen. Lügen, etwas, das der Mensch aus Bequemlichkeit tut, die Chance unangenehmen Konsequenzen aus dem Weg zu gehen, so funktioniert das Gehirn der Masse – wie ich sie alle hasse!

Von der Polizei hin zur Feuerwehr, sie alle sind Ignoranten, jämmerliche Diener ihres minimalen Verstandes. Daten und Fakten zählen für sie, ein Gefühl, die Intuition, scheint sie nicht zu interessieren. Wie sie sich um das Gebäude verteilen, die Gaffer und Journalisten zurückhalten, und die Feuerwehr, welche mit ihren Schläuchen versucht gegen ein Ungetüm zu kämpfen, eine Naturgewallt, die bereits ganze Zivilisationen verschlungen hat. All das scheint mir wie ein Traum, nicht wahr, nicht unwahr, eine Sphäre, die wie eine Ohnmacht wirkt, unabwendbar, darauf wartend, dass sie endet.

Die Rufe der Umstehenden wirken seltsam dumpf, unterbrochen von einem klirrenden Geräusch, einem klingelndem Handy, welches auf dem Schreibtisch vibriert. Merkwürdig, wie ein Anruf ein gesamtes Leben verändert. In einem Moment ist man noch der glücklichste Vater der Welt und mit dem nächsten Anruf verliert das Leben allen Sinn.

Welchen Sinn hat es noch für mich hier zu verweilen? Nachdem mein Sohn geboren war, die Mutter war ohne ein Wort verschwunden, unauffindbar, lebte ich einzig für ihn. Ein Ersatz der Mutter, ein zu junger Vater, Student, diese Kombination war von meinem Umfeld als »unmöglich« und »nicht gut« bezeichnet worden.

Was ist gut? – Diese Frage war meine tägliche Sorge. Gut bedeutete für mich, die Kraft besitzen, handeln, Stärke beweisen, für meinen Sohn da sein.

Was ist unmöglich? – Die Tatsache, keine Stärke zu beweisen, aufgeben ohne gehandelt zu haben.

Somit beschloss ich, auf eigene Verantwortung hin, meinen Sohn großzuziehen. In den ersten zwei Jahren arbeitete ich als Werkstudent und hatte im Wohnheim eine Wohnung bekommen. Nach dem zweiten Jahr hatte ich meinen Abschluss und begann mit einer Teilzeitstelle. Wir zogen in eine Zweizimmerwohnung. Zu Beginn der Schulzeit, wechselte ich auf Vollzeit und wir konnten in eine schöne Dreizimmerwohnung mit Balkon ziehen, welche nicht weit von der Schule entfernt lag.

Die Straße leert sich. Die Eltern sind mit ihren Kindern allesamt in die Sicherheit geflohen. Erste unruhige Blicke der Lehrerin, des Direktors, ja der Feuerwehr, ruhen auf mir. Ich merke es kaum, starre auf die Flammen, deren Kräfte vom Wasser allmählich beraubt sind.

Man sieht, wenn die Seele brennt, wie diese Idioten versuchen eine Maske aufrecht zu erhalten und daran langsam zu Grunde gehen. Das Gebäude und ich, wir sind Verbunden durch ein Feuer, welches von innen her unsere Eingeweide, unsere Seele zerfrisst, wir haben sie gewarnt, doch geglaubt hat uns niemand.

Verschwommen sehe ich, wie gelbe Neonstreifen an mir vorbei ziehen, in der Ferne heult eine Frau, sie schreit etwas von »sechs«, wiederholt ihre klagende Melodie in Endlosschleife.

Wo der Wille zur Hoffnung besteht, einer Kerze ähnlich, gibt es einen Unwillen, einen Lufthauch, das Ende.

Hiermit bin ich an diesem Unwillen angekommen. Ein Feuerwehrmann kam aus dem Gebäude, in der Hand, durch das Feuer rotsilbern glänzend, eine Kette – eine Schlangenkette. Ich stürzte nach vorne, mit dem Schwergewicht eines verfluchten Lebens auf den Schultern, schlug ich auf dem Boden auf – ausgebrannt.

 

 

(Version 1)