Von Bruni Braun

Ich hatte eine Kunstausstellung in Baden-Baden abgewickelt, befand mich auf dem Rückweg nach Dortmund, näherte mich meinem Geburtsort in der Rhein-Mainspitze, lag gut in der Zeit und beschloss spontan, einen Stopp einzulegen, um meiner Tante Mausi guten Tag zu sagen und einmal über den Friedhof zu gehen.

 

Obwohl die Tante eigentlich von  avantgardistischem Charakter war, hatte sie dennoch nie ein Telefon gewollt. So hatte ich mich also nicht anmelden können und stand nun vor verschlossener Tür. Ich hinterließ eine Nachricht bei ihrer Nachbarin und ging zum Friedhof, der in so unmittelbarer Nähe zu Tantes Wohnung lag, dass man von ihrem Wohnzimmerfenster aus, im 6. Stock eines Hochhauses, direkt darauf schaute. Obwohl sie das Grab Onkel Ottos, ihres Mannes,  dadurch stets vor Augen gehabt hatte, war sie dennoch in all den Jahren, die er schon dort beigesetzt war, nicht ein einziges Mal hingegangen. So würde ich sie wohl auch heute dort nicht finden können. Die liebe Nachbarschaft hatte sich natürlich das Maul bereits darüber zerrissen und diesen Umstand für skandalös befunden.

 

„Das gehört sich nicht“, hatten Bekannte aus dem Dorf meiner Mutter bei einem ihrer Besuche gesteckt, doch meine Mutter hatte nicht darauf reagiert!

In ihrer Jugend waren die Schwestern das ganz dicke Ei gewesen. Im Laufe der Jahre aber war ihr Verhältnis aus ganz persönlichen Gründen derart abgekühlt, dass sie keinen Kontakt mehr pflegten, dennoch aber  weiterhin aneinander interessiert waren. Mutter fragte mich über die Tante aus und umgekehrt… 

Mutter hatte mir sofort von den Lästereien der Dorfbewohner  erzählt, wusste sie doch, dass ich für ihre Schwester eine gewisse Sympathie hegte, was ihr ein Dorn im Auge war. Diese hässliche Nachrede jedoch hat meine Wertschätzung für diese Tante nicht beschädigt. Sie würde sicherlich ihre Gründe haben…

 

Natürlich habe ich mir im  Stillen so meine Gedanken gemacht. Sie war eine patente Person, darum mochte ich sie auch so gerne und dass sie ihren Mann geliebt hatte, daran bestand für mich keinerlei Zweifel. Sie hatten keine Kinder gehabt, waren seinerzeit bei Nacht und Nebel aus Ostberlin zu uns in den Westen geflohen und hatten sich wieder eine Existenz aufgebaut, die ihnen großzügiges Reisen erlaubte, wovon zahlreiche Fotos zeugten: Tante Mausi in großer Robe bei einem Empfang in China, beim Captain’s Dinner, beim Kamelritt in Ägypten etc. Eine Reise hatte sie nach Japan geführt, von wo die Tante mir einen langen Brief schrieb. Sie erzählte davon, dass ihr Hotel in Sichtweite zum Fujiyama läge, der aber sein Haupt ständig in Wolken verhülle, weil er, wie Onkel Otto gesagt habe, sich schäme, dass so viele junge unglückliche Liebespaare schon in seinen Krater gesprungen seien.

 

„So unglücklich könnte ich nie sein, dass ich da hinein springen würde“, hatte er gesagt und, dass es ihm aber gefallen würde, sich als Asche dort verstreut zu wissen. Das machte doch wenigstens Sinn: Asche auf Asche, Asche zu Asche, Staub zu Staub. Es müsse ja auch nicht unbedingt der Fujiyama sein, der Ätna ginge auch. Schließlich sei Italien sein Lieblingsland.

 

„Ich bin 25 Jahre älter als du“, habe er zu ihr gesagt und weiter, wenn der liebe Gott die Reihenfolge einhielte, dann stürbe er lange vor ihr. Es wäre eine wunderbare Vorstellung für ihn, wenn sie dann mit der Seilbahn auf 2500 Meter zum Ätna hochführe und dabei ganz unauffällig seine Asche verloren ginge und der Wind sie über die weiten Aschefelder davontrüge. Asche, verloren auf Asche… –  Sie habe von diesen Reden nichts wissen wollen, schrieb sie weiter, denn schließlich hätten sie doch noch so viel vor…

 

Wieder einmal waren sie in die französische Schweiz gefahren, wohin es jedes Jahr einmal ging und hatten sich in jenem  Hotel niedergelassen, das sie immer bewohnten. Alles war schön. Dann geschah das Unglück. Onkel Otto lag morgens, ohne jegliche Vorwarnung, tot in seinem Luxusbett. Es war ein sehr vornehmes Hotel, das seinen Gästen auf gar keinen Fall negative Emotionen zumuten wollte und so wurde der Onkel auf einer Tragbahre, wie ein Kranker, hinten zum Dienstboteneingang hinausgetragen und in einem neutralen Wagen abtransportiert.

 

Wer verreiste damals schon mit einer Geburtsurkunde im Gepäck? Onkel Otto und Tante Mausi jedenfalls nicht. Doch ohne Geburtsurkunde keine Sterbeurkunde und auch keine Bestattung. So musste die Tante ihren Mann zurücklassen, allein im Zug nachhause fahren, um die erforderlichen Papiere zu beschaffen. Dann fuhr sie wieder zu ihrem toten Mann, regelte alles vor Ort und ließ ihn auch dort einäschern.

 

Zu zweit waren sie in die Ferien gefahren, allein fuhr sie im Rheingold-Express zurück, neben sich ihre Tasche mit Onkel Ottos Asche.

 

Was für ein Schmerz!

 

Zuhause stellte sie seine Urne auf die Fensterbank im Wohnzimmer und versuchte, mit dieser Tragödie zurechtzukommen.

Eine längere Zeit war bereits verstrichen, als eines Tages die deutsche Gründlichkeit herausfand, dass die Tante ihren Mann noch immer nicht dem Erdreich übergegeben hatte, wie es hierzulande Gesetz ist. Entsprechende Schriftstücke stellten sich bei ihr ein, zunächst behutsam freundlich, jedoch dann mit Druck und schließlich sogar mit Androhung gewaltsamer Maßnahmen.

 

Hier nun beginnt mein heimlicher Verdacht, für dessen Berechtigung ich nicht abgeneigt bin, mich zu verbürgen. Die Tante war immer eine sehr selbstbewusste Frau gewesen, die nie gekuscht hatte und schon gar nicht, wenn man ihr drohte. Auch eine Dame führt in ihrem Sprachschatz Wörter mit sich, die, wenn auch nur höchst selten, so doch bei passender Gelegenheit zügig von den Lippen gehen, wie sie mir sagte.

 

 „Ihr Arschlöcher!“, habe sie laut zu sich gesagt, „Ihr könnt mich mal! Was wisst ihr denn schon?!“

 

Der amtlich festgesetzte Termin der Urnenbeisetzung war gekommen und wer dachte, die Witwe mache nun eine Szene und es gäbe ein Gerangel um die Asche des Verblichenen, der hatte sich getäuscht. Alles lief absolut ruhig ab. Die Urne wurde widerspruchslos herausgegeben und beigesetzt. Efeu überwucherte schon bald das Grab, sodass man den Namen auf dem Grabstein nicht mehr lesen konnte. Das wiederum war den lieben Nachbarn  ein Dorn im Auge.  Es war ein Skandal! Warum kümmerte sich diese Witwe  nicht um das Grab ihres Mannes?

 

Warum sollte sie?

 

Scheinheiligkeit hatte ihr nie gelegen. Warum sollte sie sich also an einem Stück Erde zu schaffen machen, das für sie ohne jegliche Bedeutung war, ein Stück Erde, zu dessen Kauf man sie mit Nachdruck regelrecht gezwungen  hatte?

 

Aber es war doch das Grab ihres geliebten Mannes! Oder etwa nicht?

 

Die Tante war immer schon für Überraschungen gut gewesen, und so war es ihr ganz sicher gelungen, die Urne zu öffnen, die Asche an sich zu nehmen, einen Ersatz einzufüllen und wieder so zu verschließen, dass es niemals auffallen würde. Als man dann von Amts wegen erschien, um die Urne beizusetzen, waren die Vollstrecker so glücklich darüber, dass die Witwe keine Schwierigkeiten machte, sodass  niemand auf die Idee kam, die Urne noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

Tante Mausi hatte ihren Ottokar, wie sie ihn liebevoll-spöttisch genannt hatte, ganz sicher nicht herausgegeben, sie hatte bestimmt einen Dreh gefunden, seine Asche bei sich zu behalten.

Nachdem einige Jahre vergangen waren und sie den schmerzlichen Verlust angenommen hatte, begann sie wieder zu reisen. Ich bin sicher, sie hat seine Asche mitgenommen an jenen Ort, von dem er einst gesprochen hatte! Sie war in Onkel Ottos Lieblingsland Italien gereist, hatte auf Sizilien die Seilbahn zum Ätna bestiegen und beim sanften Hochgleiten seine Asche unauffällig einfach verloren… Ein kräftiger Wind hatte sie wohl aufgefangen und über die endlose Weite der Aschefelder gestreut, Asche, verloren auf Asche…

 

Darum hatte es also für sie keinen Grund gegeben, den Friedhof jemals wieder zu betreten und das Grab zu pflegen. Sie nahm dieses Geheimnis mit in den Tod. In der beglückenden Vorstellung, den Rechtshütern eine lange Nase gemacht zu haben und die Asche ihres Mannes an einem Ort zu wissen, den er sich gewünscht hatte, nahm sie es billigend in Kauf, dass sie selbst in jenem Grab allein ruhen würde, allein, nur neben der leeren Urne ihres geliebten Mannes…

 

„Das hätte zu ihr gepasst“, sagte ich zu Gerd, einem ehemaligen Freund aus Volksschultagen, dem ich nach Tante Mausis Tod bei einem späteren Besuch zufällig auf dem Friedhof begegnet war und ihm schmunzelnd von meiner Mutmaßung erzählt hatte.

„Jetzt kann ich ja ruhig darüber sprechen“, fügte ich hinzu. „ Onkel und Tante sind tot. Wer sollte sich heute noch dafür  interessieren, ob Onkel Otto am Ende gar nicht in seiner Urne hier beigesetzt wurde?“

 

„Ich!“, rief Gerd, wie aus der Pistole geschossen.

 

„Und wieso?“, fragte ich erstaunt.

 

„Nun“, antwortete er, „ich arbeite in Mainz bei der Zeitung, und manchmal schreibe ich auch für unser Gemeindeblättchen hier eine Kolumne. Das wäre ein toller Stoff, um die dörflichen Gemüter mal so richtig wieder in Wallung bringen zu können und der deutschen Gründlichkeit samt jenen, die es ja schon immer kommen gesehen und gewusst haben, noch einmal ein Schnippchen zu schlagen.“

 

„Und wie willst du das angehen?“, fragte ich höchst interessiert.

 

„Nun, ich sehe die Überschrift schon buchstäblich vor meinen Augen“, meinte Gerd verheißungsvoll, „ »Verloren auf Asche«! Ich werde es als Kurzkrimi anlegen und eine heiße Spur zum Grab konstruieren, damit es geöffnet werden muss…“

 

„Und wie geht es aus? Was wird man finden?“, wollte ich wissen.

 

„Tja“, sagte Gerd mit süffisantem  Grinsen, „die Urne wird wohl hinüber sein, aber zwei Hände Rheinsand mit den Trauringen der beiden, zusammen mit einem kleinen weißen, beschrifteten Stück Plastik, wie aus einer Plastik-Tragetasche herausgeschnitten, das wird man finden.“

 

„Einen beschrifteten Plastikfetzen? Wieso das denn?“, fragte ich verwundert.

 

„Ja, ein  unkaputtbares weißes Stückchen Plastik!“, gab Gerd zurück.

 

„Und was soll das? Was hat dieses Plastikstück für eine Funktion?“, wollte ich wissen.

 

„Auf dieses unkaputtbare Stück Plastik hat deine Tante den gestrengen Ordnungshütern etwas für die Ewigkeit geschrieben!“, lachte Gerd, seinen Einfall sichtlich genießend.

 

„Mann, lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen! Was steht denn da drauf!“, rief ich ungeduldig.

 

Gerd genoss noch einen Moment meine große Spannung und sagte dann grinsend: „ Da steht    

 

» Er ist dann mal weg…«