Von Miklos Muhi
»Auf Wiedersehen!«
»Auf Wiedersehen!« – lüge ich und denke, wie schön es doch ist, wieder frei zu sein und die Nervenklinik, in der ich etwas mehr als ein Jahr lang von Steuergeldern gewohnt habe, hinter mir zu lassen.
Meine Einweisung erfolgte nach einer kurzen Verhandlung per Gerichtsbeschluss. So wurde meine Versorgung vorerst geregelt, das geehrte Gericht blieb schockiert und mein Anwalt erlitt einen Nervenzusammenbruch.
Angefangen hat das Ganze, als ich noch bei einer Versicherung tätig war und dafür sorgte, dass so wenig wie möglich ausgezahlt werden musste. Die Chefs wollten sparen und machten keinen Hehl daraus, zumindest nicht vor den Angestellten bei den Auszahlungen. Die Vertreter, die den Kunden Versicherungen angedreht haben, die diese gar nicht brauchten, haben selbstverständlich nie etwas von irgendwelchen Sparplänen gehört. Oh, liebe Provision, wir verehren dich, wir lieben dich, wir begehren dich, koste es, was es wolle und schade es, wem es wolle, bis in alle verdrehten Steuererklärungen, Amen!
Auf der anderen Seite flatterten Arztrechnungen, Totenscheine und Nachweise für Berufsunfähigkeit ins Haus. Die ganz offensichtlichen Fälle, die etwa zwei Prozent ausmachten, wurden praktisch sofort bearbeitet, damit die Firma sich schmücken konnte, wie schnell alles erledigt wird. Wenn nur ein klein bisschen Zweifel bestand, berechtigt oder nicht, baten wir schriftlich um etwas Geduld und nutzten dann die Zeit, um gar nichts zu tun.
Wenn unsere Untätigkeit eskalierte, schickten wir einen unserer sogenannten Hausanwälte zum Kunden. Wir reden hier von zwei Meter hohen Männern, breit wie ein Kleiderschrank und mit Narben im Gesicht. Sie konnten sich – was für ein Wunder – mit den meisten Kunden einigen und brachten Erklärungen zurück, in denen der Kunde, gegen die Auszahlung von einem Bruchteil der Summe, die ihm zustand, auf weitere Forderungen verzichtete.
Das alles lief ziemlich gut, bis es eben nicht mehr gut lief: Bei einem Kunden diagnostizierte man sechs Monate nach dem Abschluss einer Lebensversicherung einen Hirntumor. Wegen der Lage des Tumors konnte man nichts mehr machen, der Kunde verstarb kurz nach der Diagnose. Die Hinterbliebenen schickten uns den Antrag zur Auszahlung und dieser Antrag landete auf meinem Schreibtisch.
Ich ging genau so vor, wie vorgeschrieben: Habe um ein bisschen Geduld gebeten und auf den nächsten Brief gewartet. Als der Fall akut wurde, hat einer unserer Hausanwälte die Hinterbliebenen besucht und kam nicht zurück, denn er wurde verhaftet. Aus der Sache wurde eine riesige Show und wir kamen ins Fernsehen. Daraufhin meldeten sich viele unserer ehemaligen Kunden und erzählten ihre Geschichten.
Die Chefetage geriet unter Druck und musste einen Verantwortlichen aus dem Ärmel schütteln. Da meine Unterschrift unter den Briefen, die das Ganze ausgelöst haben, stand, wurde ich als Verantwortlicher ausgemacht und kurzerhand entlassen. Intern sah die Sache anders aus: Ich musste meine Kündigung und eine eidesstattliche Erklärung unterschreiben, dass ich in den nächsten fünf Jahren nicht arbeiten und nicht über versicherungsinterne Sachen sprechen oder schreiben werde, woraufhin ich ein hübsches Sümmchen als Abfindung bekam.
Einen Monat lang ging es mir ausgezeichnet, bin aber vom gut bezahlten Urlaub schnell satt geworden. Ich wollte Spaß haben, ich wollte wieder so richtig gemein sein, denn nur das konnte mich wirklich erheitern.
Im Laden um die Ecke habe ich mir einen Fisch gekauft und ich holte die aktuelle Ausgabe der Blöd-Zeitung aus dem Zeitungsautomaten. Als ich wieder in meiner Wohnung war, hatte ich die Zeitung, aber keinen Fisch mehr und die Aussicht von meinem Balkon auf den Zeitungsautomaten blieb unverändert. Sessel, Chips und Cola standen schon bereit. Ich ließ den Fisch, der wesentlich teurer war, als die Zeitung, im Automaten zurück, eine Art von Tauschgeschäft.
Die Zeit verging mit der Beobachtung erschrockener Leute, die sich nur ihre tägliche Klatschdosis holen wollten. Mit der Zeit wurden die Menschen, aber hauptsächlich der Zeitungsautomat, immer stinkiger. Die 35 Grad im Schatten dürften eine gewisse Rolle daran gespielt haben, dass die potenziellen Käufer den Automaten immer mehr mieden, bis endlich die Feuerwehr gerufen wurde, um den Fisch zu entfernen. Nachdem die Feuerwehr abgezogen war, wurde der Automat abmontiert. Das war das erste Mal, dass ich mich so richtig gut gefühlt habe, seit meine Arbeit mir geraubt wurde.
Es war nicht schlecht, aber das Verlangen kam aber bald wieder und ich musste wieder gemein sein. Trompete spielen am Sonntag früh um drei (ich bin frei von jeglichem Talent oder musikalischem Gehör), Vertauschen der Kennzeichen in der Tiefgarage, Kunstblutspritzer im Treppenhaus vor der Tür eines Nachbarn, Kunstgehirnmasse auf die Stoßstange mancher Autos und weitere Scherze machten mir die nicht ganz selbst gewählte, aber gut bezahlte Arbeitslosigkeit erträglicher, doch ich spürte, dass das bei weitem nicht genug war.
Die Erleuchtung kam während einer Kriegsdokumentation im Fernseher, an einem Sonntagnachmittag. Die Idee war gut und ich machte mich am nächsten Tag auf den Weg. Zuerst ging ich in einen Laden für Bergsteiger und kaufte mir Seile und Ausrüstung zur Sicherung. Dann kam die Nähmaschine und das Set mit Theaterschminke. Als ich alles zusammen hatte, besorgte ich mir eine aktuelle Stadtkarte und habe die Schulen ausfindig gemacht. Schließlich bastelte ich, nach den Anweisungen eines Buches über Requisiten, alles zusammen, was ich brauchte.
Am Tag der Tage war ich schon in aller Herrgotts Frühe im Stadtpark. Ich suchte mir einen sympathischen Baum aus, westlich eines Gymnasiums, damit das trübe Licht der aufgehenden Sonne das Ganze optimal für die Schüler, die gleich kommen würden, beleuchtete. Ich schnallte mir das selbst hergestellte Gerät um und kletterte auf den Baum. Das eine Ende des Seiles befestigte ich an einem dicken, fast schon waagerechten Ast, das andere Ende an dem Karabinerhaken auf meinem Rücken und sprang in die Tiefe.
Das Seil hielt mich auf und ich musste nur warten. Nach kurzer Zeit sah ich, wie die Schüler sich unter mir sammelten und sich schrien herum, dass jemand sich erhängt hätte. Als ich dachte, dass es reichte, streckte ich mich und habe sie mit einem herzlichen »Guten Morgen« begrüßt.
Schreie, Fluchen und Laufschritte machten sich in der Frische des Morgens breit. Unter anderem konnte ich Tastentöne von Handys hören »eins, eins, zwei« – piepsten sie vor sich hin. Die Polizei war schnell zur Stelle, sie haben mich vom Baum geholt und in Handschellen abgeführt.
Die Details des Prozesses erspare ich Ihnen. Ich wurde wegen meiner Taten, die ich seit meiner Entlassung begangen habe, schuldig gesprochen und ganz im Sinne des Sachverständigen musste ich in die Klinik, obwohl die Staatsanwaltschaft eine Haftstrafe ohne Bewährung gefordert hat. Etwas mehr als ein Jahr habe ich gebraucht, um die Ärzte und die Pfleger davon zu überzeugen, dass ich geheilt war.
Es ist schön, wieder frische Luft zu atmen. Im Laden um die Ecke tut jetzt ein neuer Verkäufer seinen Dienst und die Sonne taucht die ganze Stadt in ein warmes, goldenes Licht.
Als ich die Ladentür öffne, klingeln die Glocken über der Tür. Der Verkäufer grüßt mich und fragt, was ich möchte.
»Bitte geben Sie mir einen Fisch. Wissen Sie vielleicht, junger Mann, wo ich hier in der Gegend einen Zeitungsautomaten finde?«
Das Leben geht halt weiter.
Version 3