Von Daniela Recht

Ich säße lieber im Knast, als weiter meinen Sozialdienst zu schieben. Gleich muss ich auch noch mit einem Therapeuten sprechen und Lust habe ich keine. Nur, weil ich ein paar Ausländer gejagt habe. Aber ich war ja nicht der Einzige, die sollen sich nicht so haben. Es gibt sowieso viel zu viele hier. Das sagt auch mein Vater.

«Max? Bist du der Max? Komm’ doch bitte rein.» Ein Mann von mittlerer Statur, schwarze, kurze Haare, dunkle Haut bittet mich in sein Sprechzimmer herein.

«Mein Name ist Herr Öztürk und wir beide werden wohl demnächst eine Menge Zeit miteinander verbringen. Setz’ dich doch bitte.» Ein Türke. Das darf doch wohl nicht sein, schlechter Witz, oder? Wir hatten einmal einen Nachbarn, der hieß auch so.

Ich setze mich dem Türken gegenüber und grinse ihn an. Der wird mir nicht sagen, wo es hier lang geht!

«Max, wir sind heute hier, weil wir über ein paar Dinge sprechen müssen. Wie du weißt, hast du großes Glück, dass du noch nicht ins Gefängnis gekommen bist. Du hast Glück, dass die Anwälte dir nochmal eine Chance geben. Und dass du gerade erst 18 geworden bist. Doch du weißt auch, dass ich das mit meinem Urteil ändern kann, wenn ich denke, dass du weiterhin eine Gefahr für deine Mitmenschen bleibst.»

«Also, von Glück würde ich hier nicht sprechen. Auf den Sozialdienst habe ich null Bock. Ich habe keine Lust, mit diesen Flüchtlingen zusammen zu arbeiten. Und von wegen Gefahr, ich bin doch keine Gefahr!»

«Was hast du denn gegen diese Menschen?»

«Die sind überall. Die passen nicht hierher, beten den ganzen Tag und all diesen Schwachsinn. Grabschen unsere Frauen an, töten unschuldige Leute. Sieht man doch in den Nachrichten!» Ich balle meine Hand zu einer Faust.

Ich sehe, wie der Türke seinen Notizblock auf den Schoß legt, aufhört zu schreiben, mich ansieht. «Und du glaubst, wenn du diese Leute angreifst, löst du das Problem? Ein Jugendlicher lag wegen dir im Krankenhaus.»

Auch ich blicke dem Türken direkt ins Gesicht, ich lasse mich von ihm nicht einschüchtern. «Man muss denen doch irgendwie zeigen, dass wir sie hier nicht wollen. Die Politiker machen doch nichts.»

Ich weiß nicht, ob ich mir das einbilde, er hat ja so viele Haare, aber ich glaube, dass er die Stirn runzelt. Es ist mir egal. Der kann meine Meinung nicht ändern, der glaubt, ich bin ein dummer Jugendlicher. Nicht ich.

Danach fahre ich auf meinem Fahrrad ins Flüchtlingslager, an dem Ort, an dem ich meine Stunden abarbeiten muss. Das sind 25 Stunden pro Woche! Wochenende gibt’s so gut wie nicht mehr, samstags und sonntags stehe ich um acht auf der Matte, putze im doofen Heim, repariere Kleinigkeiten oder bringe denen Deutsch bei. Dabei will ich gar nicht, dass sie meine Sprache lernen. Verschwinden sollen die wieder. Ich hasse es jedes Mal, wenn ich dort bin. Die schauen mich immer so doof an, als ob sie noch nie einen Deutschen, einen Weißen, gesehen hätten. Manchmal kommt ein kleiner Junge zu mir, zupft an meiner Jacke, quasselt mich zu. Natürlich verstehe ich nichts. Ich ihn nicht und er mich nicht.

Hau ab, sage ich meistens zu ihm und er sieht mich dann nur mit seinen braunen Augen an und zieht ab wie ein streunender Hund. Zwei Mal die Woche treffe ich den Therapeuten. Weiß nicht, was das bringen soll. Der Türke geht mir total auf den Sack. Heute muss ich Fotos mitbringen und über meine Familie sprechen. Ziemlicher Psycho-Scheiß.

«Max, wo bist du aufgewachsen?»

«In München, das wissen Sie doch. Mann.» Ich fahre mir mit der Hand durch die Haare.

«Ja, wo in München? München ist groß.» Der Türke sieht mich erwartungsvoll an.

«Schwabing.»

 «Dann zeig’ mal ein paar Fotos her. Wer ist das zum Beispiel?»

«Meine Mutter.»

«Ihr seht euch sehr ähnlich. Was macht sie?»

«Tot.»

«Das tut mir sehr leid, Max. Wann ist sie gestorben?»

«Vor vier Jahren. Autounfall. Ein Kanake hat sie überfahren. Einfach so.»

Da bleibt sein Mund zu. Endlich hält er die Klappe. Die blöde Fragerei geht mir auf die Nerven. Ich habe keine Lust über meine Mutter zu sprechen. Das geht niemanden etwas an. Das sage ich ihm auch ganz deutlich.

«Wir sind nicht hier, um über meine Mutter zu sprechen. Also, lassen Sie dieses doofe Spiel. Ist reine Zeitverschwendung.» Ich klappe das Fotoalbum zu und dabei fällt ein Bild auf den Boden. Der Türke hebt es auf, hält es in der Hand und betrachtet es eine ganze Weile. Es zeigt meine Mutter als sechsjähriges Mädchen an ihrem ersten Schultag. Neben ihr sitzt ein Junge. Er hat schwarze Haare, eine Zahnlücke wie sie und hält stolz seine Schultüte in der Hand. Auf ihrem Schoß liegt ein kleiner Cocker Spaniel. Ich sehe, wie der Türke dieses Foto immer noch anstarrt und dann räuspernd zu mir sagt: «Den Welpen hat deine Mama an ihrem Schultag bekommen, nicht wahr?»

Ich nicke. «Wo-woher wissen Sie das?»

Er zeigt auf den Jungen. «Das bin ich. Ich bin mit deiner Mutter zusammen in die Erste Klasse gekommen. Wir waren vorher im Kindergarten und schon dort die besten Freunde.»

Er lächelt, als er das sagt und fährt beinahe liebevoll mit dem Finger über das Gesicht meiner Mutter. «Zwei Jahre später musste ich dann wegen einer Familiengeschichte zurück in die Türkei und habe deine Mutter nie wieder gesehen. Mit dem Internet wären wir vielleicht in Kontakt geblieben, wer weiß.» Er zuckt mit den Schultern. Seine Augen werden feucht und er nimmt die Brille ab, um sich die Augen zu trocknen. Ich habe ein komisches Gefühl im Bauch. Eigentlich will ich nichts mehr davon hören, doch der Typ erzählt weiter. Er schildert mir, wie meine Mutter an Familienfesten zu ihm nach Hause gekommen sei, dort mit seinen Onkeln und Tanten getanzt habe und sich auf das Buffet gestürzt habe, das seine Mutter Tage vorher zubereitet habe. Baklava sei die Lieblingsspeise meiner Mutter gewesen. Er lächelt und reicht mir endlich das Foto. Ich stopfe es in meine Hosentasche und kehre ihm den Rücken zu, verschwinde, so schnell ich kann.

Ich flitze wie ein Verrückter, baue dabei fast einen Unfall mit dem Rad, absolviere wie immer meinen Dienst im Flüchtlingsheim, wobei mir meine Mutter und dieser Öztürk nicht aus dem Kopf gehen. Der kleine Junge kommt, wie jedes Mal, auch heute zu mir, zupft an meiner Jacke.

«Was willst du von mir? Lass mich verdammt nochmal in Ruhe.» Ich mache eine Handbewegung, dass er abhauen soll. Er gibt mir ganz schnell etwas in die Hand und rennt davon. Ich öffne sie und schiebe mir den Keks in den Mund. Verdammt nochmal, können die Leute mich nicht einfach in Ruhe lassen!

 

Zu Hause fragt mein Vater, was ich in den Kisten zu suchen habe und ich antworte ihm kurz angebunden, dass ich etwas suchen würde. Es sind die Fotos meiner Mutter, die ich seit ihrem Tod nicht mehr in den Händen gehabt habe. Ich sehe sie als Baby, als Kleinkind und entdecke endlich, wonach ich die ganze Zeit gesucht habe. Mein bester Freund Emre – steht in kritzliger Kinderhandschrift. Sie hat den Arm um ihn gelegt und lacht. Lange betrachte ich dieses Foto und stelle mir vor, was sie heute von mir hielte, wenn sie mich so sähe. Zum ersten Mal schäme ich mich und möchte mich verstecken.