Von Raina Bodyk

„Herr Spiegel, Sie sind des Betrugs in einem besonders schwerem Fall angeklagt“, dröhnt die strenge Stimme des Richters durch den Saal. „Es kommt auch eine Anklage wegen Heiratsschwindels in Betracht.“

„Herr Richter, äh – ich meine, Euer Ehren, ich habe nie etwas versprochen, das müssen Sie mir glauben! Ich bin ja schon verheiratet.“

Der Vorsitzende hustet in die vorgehaltene Hand. Im Saal ist leises Kichern zu hören. „Stopp! Erzählen Sie uns alles von Anfang an.“

„Ja, sehen Sie, es begann alles ganz harmlos. Meine Frau hat mich oft aufgezogen, dass ich ein richtiger Frauenmann sei. Eine fremde Dame hat mir sogar mal mitten im Supermarkt von ihren Wechseljahrsbeschwerden erzählt. Das wurde zum stehenden Witz bei uns. Ich will nicht angeben, muss aber sagen, dass es mir sehr leichtfällt, mit fremden Damen ins Gespräch zu kommen. Und so begann das ganze Spiel …“

„Na, ein ‚Spiel‘ würde ich das nicht gerade nennen, Herr Spiegel. Sie haben gutgläubige Menschen betrogen.“

„Jaaah, schon. Irgendwie. Aber ich habe sie auch glücklich gemacht!“

 

Clara lauscht etwas abwesend den Bemühungen ihres Mannes, sich zu entlasten. Thomas ist immer ein Charmeur gewesen. Jede Woche kam er mit einem Blumenstrauß für sie nach Hause. Er merkte sofort, wenn sie neue Sachen trug, sich extravaganten Modeschmuck gegönnt hatte oder beim Friseur war. Komplimente konnte er wirklich gut! Sie war immer wieder fasziniert, wie einfach es für ihn war, Frauen dazu zu bringen, ihm zu vertrauen und aus ihrem Leben zu erzählen. Sie weiß bis heute nicht, woran das eigentlich liegt. Klar, er ist charmant und aufmerksam, aber wie er immer sofort einen Draht zu ihnen findet, ist sein Geheimnis. Dabei ist er weder schön, noch besonders sportlich. Einfach nur normal. Die Haare lichten sich schon ein bisschen an den Schläfen, womit sie ihn gern ärgert.

 

In ihre Gedanken hinein schnaubt der Richter empört zur letzten Äußerung des Angeklagten. Dann winkt er ihm fortzufahren.

„Wir waren damals ziemlich pleite. Ich hatte gerade meine Stelle verloren, Clara erwartete ihr erstes Kind. Wir brauchten dringend ein Kinderzimmer und Babysachen. Da kam ich auf die Idee, mein Talent, Frauen beeindrucken zu können, zu nutzen.“

 

„Das ist nicht wahr, Euer Ehren, es war ganz allein meine Idee!“, mischt Clara sich ein.

„Wie das?“, wundert sich der Richter über den Zwischenruf.

„Ich saß beim Frühstück und las in der Zeitung eine Anzeige, in der eine Dame eine männliche Begleitung für einen Theaterbesuch suchte. Da fiel mir ein, dass ich sowas schon öfter gelesen hatte: Begleitung zum Essen, für eine Veranstaltung, zum Ausgehen gesucht. So kam ich auf den genialen Einfall und überredete meinen Mann, sich auf dieses Inserat zu melden.

Ich wollte für mein Baby einen schönen Kinderwagen, hübsche Kleidung, Spielzeug. Ich wollte nicht mehr meine Nase nur am Schaufenster plattdrücken.“

„Ihr Mann hat sich gleich dazu bereit erklärt?“

„Nein. Ich musste es ihm erst ein bisschen schmackhaft machen. Ich erklärte ihm, dass er diesen Frauen einen Gefallen täte, dass eine Frau sich unwohl fühlt, wenn sie allein irgendwo hingehen muss. Er solle sich ja nur mit ihnen unterhalten, ein paar Komplimente machen und fertig. Dafür solle er 150 € kassieren oder was immer die Taxe für solche Dienste ist. ‚Du verlangst sozusagen eine Vergnügungssteuer‘, amüsierte ich mich noch und kringelte mich vor Lachen. Aber gewarnt habe ich ihn auch: ‚„Mehr machst du aber nicht mit ihnen! Sonst kratz‘ ich dir die Augen aus und bin weg!‘ Ach, wäre ich doch nie auf diese Schnapsidee gekommen!“

 

„Nun, Frau Spiegel, bis hierhin ist es ja noch keine Straftat. Aber später … Angeklagter, erzählen Sie weiter.“

 

„Ja, ich ließ mich also von Damen buchen. Es war ganz einfach. Ich muss in aller Bescheidenheit sagen, ich war ein voller Erfolg!“

Der Richter schüttelt den Kopf über den offensichtlichen Stolz des
Angeklagten auf seine Wirkung.

„Anfangs ging ich einmal in der Woche mit einer Dame aus. Dann öfter.  Einige der Frauen wollten mich häufiger buchen oder empfahlen mich ihren Freundinnen. Wir konnten sogar den Preis erhöhen, ohne dass die Nachfrage nachließ.“

„Haben Sie die Situation nie ausgenutzt?“, fragt der Richter äußerst ungläubig.

„Nein, nie, das schwöre ich. Ich liebe meine Frau. Aber ganz ehrlich, Euer Ehren, einfach war es manchmal wirklich nicht, standhaft zu bleiben. Manche Dame hätte mich, glaube ich, ganz gern vernascht, andere wünschten sich eine echte Beziehung.“

„Sie hatten es wirklich schwer“, wirft der Vorsitzende ironisch ein und verkneift sich ein Grinsen. „Wie sind Sie dann dazu gekommen, Ihre Verehrerinnen auszunehmen?“

„Ich konnte nichts dafür!  Sie haben es mir förmlich aufgedrängt.“

„Und Sie Ärmster konnten sich nicht wehren!“

„Nein, Herr Richter. Ich wollte ja nicht unhöflich sein. Eine wollte mir unbedingt einen Anzug für einen Theaterbesuch kaufen. Meiner sei nicht elegant genug. Was hätte ich tun sollen? Es war schließlich ihr Abend. Andere Damen hatten Mitleid wegen meiner Arbeitslosigkeit. Ich habe es nie verlangt!“

„Aber dann ist es doch nicht bei den Geschenken geblieben, Angeklagter.“

„Das tut mir ehrlich leid. Clara, meine Frau, wurde durch die Schwangerschaft immer gereizter. Es war manchmal kaum zum Aushalten. Na ja, da habe ich halt gedacht, wenn ich ihr eine kleine Freude mache, wird sie wieder umgänglicher. Also habe ich eine der Damen um etwas Geld gebeten. Ich wollte Clara überraschen.“

„Wofür das Geld ausgegeben werden sollte, wusste besagte Dame aber nicht, oder?“

„Nein, natürlich nicht. Das hätte sie doch verletzt! Clara wünschte sich so sehr einen schicken Kinderwagen. Als ich ihr einen schenkte, war sie glücklich und für ein paar Tage war alles wieder gut. Dann begann das Genörgel von vorn …“

Der Richter forscht unerbittlich weiter: „Bei einem Mal blieb es also nicht?“

„Leider nicht. Ich habe die Damen dann immer wieder gebeten – mal für meine kranke Mutter, mal für eine Autoreparatur, die ich mir gerade nicht leisten oder eine Rechnung, die ich nicht bezahlen konnte. Sie waren immer sehr großzügig“, gesteht er zerknirscht.

 

Clara nickt auf ihrem Stuhl. Das verdammte Geld! Dauernd trug Thomas neue Klamotten aus teuren Läden, konnte es sich leisten, mit ihr groß auszugehen. Sie fühlte die Eifersucht köcheln. Ob er ihr wirklich treu blieb? Das viele Geld kriegte er doch sicher nicht nur fürs Ausgehen. Ihre Fantasie malte sich immer quälendere Szenen aus.

Aus dem Köcheln wurde schließlich ein ordentliches Kochen. Es gab nur noch Streit. Als sie ab dem achten Monat immer dicker und unansehnlicher wurde, die Hormone Purzelbäume schlugen, überzeugte sie sich selbst immer mehr davon, dass er sein Vergnügen anderswo suchte. Er konnte sie doch gar nicht mehr attraktiv finden, egal, was er beteuerte. Schließlich war er auch nur ein Mann! Die anderen Frauen waren schlank, hatten keine geschwollenen Beine, keine Probleme, vom Sofa wieder hochzukommen, waren nicht dauernd müde. Kein Zweifel: Er war ihr untreu!

 

„Frau Spiegel, kommen Sie jetzt einmal nach vorn“, fordert der Richter sie auf. „Sie haben den Kundinnen Ihres Mannes verraten, dass er verheiratet ist und nur hinter ihrem Geld her wäre. Warum das? Das Ganze ist doch sozusagen auf Ihrem ‚Mist‘ gewachsen.“

„Was hätten Sie gedacht, Euer Ehren? Plötzlich hat er dauernd Geld und kauft mir einen teuren Kinderwagen, süße Möbel für das Kinderzimmer. Das stank doch zum Himmel. Er sollte büßen. Ich lasse mich nicht betrügen!“

Vereinzeltes Nicken bei den Frauen auf den Besucherrängen. Verständnisvolles Mitleid für den Angeklagten bei den Herren.

Der Richter klopft mit seinem Hammer auf den Tisch und ruft: „Gerichtsdiener, die erste Zeugin, Frau Hambach, bitte.“

 

Eine zierliche, etwas schüchtern wirkende Frau erscheint vor der Richterbank. Ihr folgt eine weitere Zeugin, hochgewachsen, energisch, das krasse Gegenteil zur Aufgerufenen.

Der Richter schielt fragend über den Rand seiner Brille und heftet einen bösen Blick auf die ungefragt Erschienene: „Frau, äh, wie heißen Sie eigentlich?“

„Ich bin Frau Eisenstein“, tönt diese, „ich habe etwas zu sagen.“

„Und das kann nicht warten, bis Sie aufgerufen werden?“

„Nein, Herr Richter. Es ist ganz dringend. Dieses zarte Fräulein vermurkst es vielleicht.“

„Also, das ist wirklich gemein!“, piepst die andere.

„Also Ruhe jetzt! Sie erklären mir, was dieser Aufstand soll.“

Frau Eisenstein reißt das Wort an sich und dröhnt: „Euer Ehren, wir haben beschlossen, unsere Anklagen zurückzuziehen!“

Jetzt ist der Richter wirklich verblüfft, das hat er nicht erwartet. „Wie bitte? Wann haben Sie das denn beschlossen?“

„Na ja, eben, draußen in der Halle. Wir kannten uns ja vorher nicht.“

 

Der Richter schaut etwas mitleidig auf die furchtsame, kleine Dame. „Nun Frau Hambach, Sie sind aufgerufen und werden uns aufklären. Wir sind alle sehr gespannt. Sie, Frau Eisenstein, verlassen den Saal.“ Die rauscht mit hoheitsvoll erhobener Nase hinaus.

 

„Ja, Euer Ehren. Wir Zeuginnen haben uns draußen unterhalten. Jede hat erzählt, was sie mit dem Angeklagten erlebt hat und wie enttäuscht sie war, dass er sie so ausgenutzt hat. Erst waren wir alle richtig wütend. Aber dann … Wir erinnerten uns, wie wir mit ihm ausgegangen sind, wie wohl wir uns gefühlt haben, wie sehr er uns zum Lachen gebracht hat, wie ihn jedes Thema interessierte. Sein Charme …

Euer Ehren, wir sind uns einig: Wir haben ihm das Geld geschenkt. Etwas anderes werden wir nicht aussagen und werden Sie nicht beweisen können.“

 

Seiner Ehren verschlägt es verdutzt die Sprache. Er ringt sichtlich nach Worten:“ Er hat Sie geschädigt, betrogen! Das können Sie ihm doch nicht durchgehen lassen?!“

„Doch! Bei ihm fühlten wir uns verstanden, beachtet, hübsch und begehrenswert. Einige von uns hatten das lange nicht erlebt: In gewisser Weise sind wir ihm dankbar.“

 

Clara rollen ein paar Tränen über die Wangen. Ja, so war er, ihr Thomas!

 

Der Richter schlägt mit dem Hammer auf den Tisch: „Herr Spiegel, Sie sind frei und können gehen!“ und murmelt in sich hinein: „Lerne einer, die Frauen verstehen!“