Von Daniel Magar

Seine Hände schlossen sich fest um den Griff der Pistole. Er zielte direkt zwischen die Augen des Verbrechers.

„Du hast wohl geglaubt, du kommst davon“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Hast gedacht, ich könnte eins und eins nicht zusammenzählen. Aber ich weiß, dass du sie getötet hast.“

Er spuckte auf den Boden.

„Irgendwelche letzten Worte?“, knurrte er, während sein Finger sich langsam um den Abzug krümmte.

 

„Bämbämbäm!“, rief Oskar Haffner, und eine kleine Salve Plastikkugeln schoss aus dem Lauf seiner Waffe und in Richtung des kurzzeitig zum Verbrecher gewordenen Baumes, der zehn Meter von dem Mäuerchen entfernt stand, hinter dem sich Oskar verschanzt hatte. Die Kugeln prallten gegen die Rinde des Baumes und flogen in alle Richtungen davon. Oskar richtete sich auf und steckte die Pistole hinter seinem Rücken in den Hosenbund. Eigentlich eher etwas, das Verbrecher taten, aber Oskar hatte keinen Holster, und außerdem fand er, dass es ein verdammt cooler Move war.

Er nahm seinen Rucksack vom Mäuerchen, das die Grenze zwischen dem Garten der Haffners und dem Wald darstellte, und prüfte die Unterseite. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass sie trocken war. Es galt, um jeden Preis zu vermeiden, dass die Bücher darin nass wurden. Es waren Krimis, die seinem Vater gehörten, und genau genommen hatte er keine Erlaubnis, die Bücher mit nach draußen zu nehmen. Noch genauer genommen, hatte seine Mutter ihm sogar schlichtweg verboten, sie zu lesen, weil sie der Meinung war, dass Krimis dieser Art bei Kindern in Oskars Alter bestenfalls zu Albträumen führen würden.

Oskar hatte lange mit sich gerungen, was diese Ausleihen anging. Einerseits teilte er die Überzeugungen seines Vaters: Regeln und Gesetze waren da, damit man sie an sich hielt, und wer gegen sie verstieß, den galt es zu bestrafen – ohne Wenn und Aber. Andererseits waren diese Geschichten so etwas wie zu einer Sucht für ihn geworden, und Albträume davon bekam er auch quasi gar nicht. Also kam es in letzter Zeit immer häufiger vor, dass er sich zwei oder drei Bücher aus dem Arbeitszimmer seines Papas schnappte und sich damit in seinem Baumhaus verkroch, um ein paar Stunden ungestört zu lesen. Solange er sicherstellte, dass die Bücher keine Gebrauchsspuren davontrugen, war er auf der sicheren Seite.

Er schulterte den Rucksack und nahm Kurs auf sein Baumhaus, das sich in der Krone einer mächtigen Eiche befand. Vielleicht war Oskar gedanklich noch bei seiner Verbrecherjagd, vielleicht waren es auch die vom Regen glitschigen Sprossen der Strickleiter, die während des Hochkletterns Oskars gesamte Aufmerksamkeit beanspruchten. Jedenfalls hatte er die Leiter bereits hochgezogen und die Tür nach unten geschlossen, bevor er die Frau bemerkte, die in der anderen Ecke des Baumhauses kauerte und ihn mit großen, erschrockenen Augen ansah.

„W-Was machen Sie denn hier?“, fragte Oskar mehr verblüfft als ängstlich.

„Ich, äh … Ich war im Wald … unterwegs, und dann hat es angefangen zu regnen, und dann bin ich hier rein und wohl eingeschlafen.“ Die Frau sprach mit einem schwachen, ausländischen Akzent, den Oskar nicht genauer zuordnen konnte.

So waren Sie im Wald?“, fragte Oskar und deutete auf die Kleidung der Frau. Sie trug Jeans und eine dünne Weste und an den Füßen halboffene Hausschuhe.

Die Frau rieb sich geistesabwesend über ihre Arme. „Ja … Hat sich so ergeben.“

Oskar musterte die Frau. Ihr schwarzes, lockiges Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden und sah aus, als sei es mehrere Tage nicht gewaschen und gekämmt worden. Ihre Kleider hätte Oskars Mama ohne Umwege in die Waschmaschine befördert, wenn sie sie in die Hände bekommen hätte. Das Merkwürdigste war jedoch, dass Oskar diese Frau irgendwie bekannt vorkam, auch wenn er beim besten Willen nicht wusste, warum.

Die Frau begann sich langsam aufzurichten. „Ich geh dann mal“, sagte sie. „Es hat ja auch aufgehört zu regnen.“

„Wie heißen Sie denn?“, fragte Oskar, ohne wirklich zu wissen, warum.

Die Frau zögerte kurz, als würde sie mit sich selbst ringen. Dann sagte sie mit leiser Stimme: „Nesrin. Und du?“

Oskar nannte ihr seinen Namen. „Brauchen Sie vielleicht Hilfe, Nesrin?“

Sie lächelte ihn traurig an. „Ja, die brauche ich wohl. Aber ich befürchte, dass du sie mir nicht geben kannst.“

„Ich kann meine Mama rufen, wenn Sie wollen. Oder Sie kommen mit und wärmen sich bei uns auf, und heute Abend kommt mein Papa heim. Er ist Polizist, und er kann Ihnen dann …“

Oskar verstummte. Eine Veränderung war durch Nesrins Gesicht geschossen, in dem Moment, wo er seinen Vater erwähnt hatte. Die vormals müden und traurigen Augen waren jetzt weit aufgerissen, und ihr dürrer Körper war angespannt. Sie machte einen zögerlichen Schritt auf Oskar zu.

Und plötzlich fiel Oskar ein, woher er sie kannte. Ein Adrenalinstoß schwappte durch seinen Körper, füllte ihn aus und verdrängte jedes andere Gefühl.

Ihr Bild hatte zwei oder drei Tage zuvor sämtliche Zeitungsständer der Stadt geziert. Oskar hatte sie nicht direkt erkannt, weil die Person, die jetzt vor ihm stand, nur noch entfernte Ähnlichkeit mit jener auf dem Bild hatte. Auf dem Bild war Nesrins Haar offen gewesen. Und sie hatte gelächelt. Von den dunklen Ringen, die ihre Augen jetzt umrandeten war keine Spur gewesen.

„Sie haben ihren Mann k.o. geschlagen und ausgeraubt“, sagte Oskar tonlos. „Sie sind auf der Flucht.“

Nesrin schaute ihn für einige Sekunden einfach nur schweigend an. Dann machte sie plötzlich einen großen Satz in Richtung der Tür nach unten. Bevor Oskar Zeit hatte, die Situation zu begreifen, schmiss er sich auf die Tür. Ein stechender Schmerz schoss durch sein Steißbein, als er auf etwas Eckigem und Hartem landete. Er fummelte hinter seinem Rücken herum und richtete seinen Blick auf Nesrin. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass Nesrin mit einem Mal wie erstarrt auf halbem Weg zwischen Wand und ihm stand. Ihre Augen wanderten langsam zu dem Gegenstand in Oskars Hand, und Oskar folgte ihrem Blick. Er hielt seine Waffe in der Hand.

Nesrin stieß einen spitzen Schrei aus, sank zu Boden und rutschte wie ein verängstigtes Tier zurück in ihre Ecke. Sie starrte Oskar und seine Pistole mit einer Mischung aus Entsetzen und Verwirrung an. Dann, mit einem Mal, löste sich etwas in ihrem Gesicht. Oskar brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie lachte.

„Sie ist nicht echt …“, presste Nesrin hervor, dann überkam sie ein erneuter Lachanfall, und irgendwann verwandelte sich das hysterische Lachen in einen Heulkrampf. Oskar stand mit offenem Mund da und sah zu, wie die Tränen Nesrins Gesicht hinabliefen.

„Du bist mutig“, sagte Nesrin einige Minuten später, als sie sich halbwegs beruhigt hatte. „Nicht viele Jungs in deinem Alter würden sich einer entlaufenen Verbrecherin in den Weg stellen.“

Es war dieser Satz, der Oskar das erste Mal ins Bewusstsein rief, in welcher Situation er sich befand. Er spürte, wie die Hand, in der er die Waffe hielt, zu zittern begann. Er versuchte sich seine Fernsehhelden ins Gedächtnis zu rufen. Er dachte an seinen Vater, und was der dazu sagen würde, wenn er sehen würde, wie Oskar hier wie der letzte Feigling vor einer gestellten Räuberin stand.

Offenbar war Nesrin das Zittern von Oskars Händen nicht entgangen. „Hast du Angst, dass ich dir wehtun werde?“

Oskar öffnete den Mund, um zu antworten, aber es kostete ihn drei Anläufe, bis es ihm gelang, so etwas wie Worte zu formen. „N-Nein. Kein Bisschen.“

Nesrin lachte wieder, und Oskar spürte, wie er trotz allem errötete. „Und was willst du jetzt tun?“, fragte sie.

„Ich werde heimlaufen und meinen Papa anrufen. Die Polizei findet Sie, auch wenn Sie abhauen.“

„Bist du denn gar nicht an meiner Seite der Geschichte interessiert?“

Oskar schüttelte den Kopf.

„Warum nicht?“

„Weil Verbrecher hinter Gitter gehören. Mein Papa sagt auch immer, dass mit so Leuten wie Ihnen viel zu nett umgegangen wird.“

„Mit Leuten wie mir?“

„Na ja … Mit Flüchtlingen eben.“ Plötzlich fühlte sich Oskar, als müsste er seinen Standpunkt weiter erläutern. „Mein Papa hat mir den Artikel vorgelesen. Sie kommen aus Pakistan …

„Afghanistan.“

„Dann eben Afghanistan. Mein Papa sagt, dass das eh alles dasselbe ist. Und Sie sind seit drei Jahren hier und haben vor ein paar Tagen ihren Mann bewusstlos geschlagen und sein Geld geklaut und sich davongemacht.“

„Er war mein Verlobter“, sagte Nesrin.

„In der Zeitung stand …“

„In der Zeitung stand viel.“

„Haben Sie ihn denn nicht k.o. geschlagen?“

„Doch. Aber ich hatte keine andere Wahl. Und ich weiß, was du jetzt sagen willst“, setzte sie nach, als Oskar den Mund öffnete, „Dein Papa sagt, dass Verbrecher immer eine Wahl haben.“ Sie lächelte freudlos. „Aber in Wahrheit hatte ich keine. Es war entweder er oder ich.“

„Wieso?“

Anstatt zu antworten schob Nesrin die Ärmel ihrer Weste hoch und hielt Oskar ihre Arme hin. Sie waren übersäht mit Flecken. Oskar schluckte, als er erkannte, dass es sich um Blutergüsse in verschiedenen Stadien der Heilung handelte.

„Ich habe noch andere Verletzungen und Narben, die ich dir nicht zeigen kann und will.“, sagte Nesrin. „Sie stammen alle von ihm.“

Oskar löste sich vom Anblick ihrer Arme. „Warum sind sie denn nicht zur Polizei gegangen?“

„Glaubst du, die hätten sich für mich interessiert? Denkst du, dass dein Papa Verständnis für mich gehabt hätte?“

Oskar dachte über die Frage nach. Sein Papa war der Meinung, dass jeder, der nach Deutschland kam, sich anzupassen hatte. Wer aus welchem Grund auch immer auffällig wurde, gehörte wieder zurück zu den Kameltreiben geschickt, Ende der Diskussion. „Vermutlich nicht“, sagte er leise.

„Die hätten mich abgeschoben. Und wenn sie mich nicht abgeschoben hätten, dann hätte mich mein Verlobter umgebracht. Das hat er mir oft genug versprochen.“

Für einige Momente herrschte Schweigen. Dann fragte Oskar: „Und was machen Sie jetzt?“

„Eigentlich wollte ich in den nächsten Tagen nach Frankfurt fahren zu einer Freundin von mir. Aber vermutlich hast du Recht. Die Polizei wird mich finden, wenn du ihnen von mir erzählst.“

In Oskars Kopf rasten die Gedanken, und es fiel ihm schwer, einen von ihnen zu fassen zu kriegen und zu Ende zu denken.

„Warum haben Sie das Geld genommen?“, fragte er schließlich.

„Was hättest du denn an meiner Stelle gemacht? Ich brauchte das Geld zum Überleben.“

„Aber es war doch Diebstahl. Und von anderen Leuten stehlen darf man nicht.“

Nesrin verdrehte die Augen und schnaubte. Oskar sah sie schweigend an, während sie nachzudenken schien. Sie setzte zweimal vergeblich an, aber als sie schließlich sprach, war ihre Stimme fest. „Ich werde jetzt gehen. Ich schätze, es gibt nichts, was ich tun kann – oder besser gesagt tun will – um dich davon abzuhalten, deinem Papa alles zu erzählen.“ Sie schob Oskar mit erstaunlicher Kraft zur Seite, öffnete die Tür nach unten und schubste die Trittleiter hindurch. „Mach‘s gut, Oskar“, sagte sie, bevor sie runterkletterte und in den Wald verschwand.