Von Anne Zeisig
„Aber Klaus“, sagte Gisela, „vor zehn Jahren, in der Neun A, da waren wir fünfzehn“, sie nippte an dem Glas Prosecco und beobachtete, wie eine Fliege immer wieder vor die Scheibe des Fensters flog und hinab fiel, sich aufrappelte und abermals vergeblich versuchte ins Licht zu fliegen.
‘Sie ist eine Gefangene, wird keine Chance haben’, schoss es ihr durch den Kopf.
Gänsehaut überzog ihre Haut.
„Es wäre gut, wenn du das Fenster öffnen würdest, mir ist sehr warm“, hörte sie sich wie von weit her sagen und fächelte sich mit einer Fernsehzeitschrift Luft zu.
Gisela!
Hier!
In seinem kleinen Appartement einer heruntergekommenen Gegend.
Er hatte sie zufällig in einem Café getroffen und zu sich eingeladen.
Sie war seine erste große Liebe in der Neun A, hatte sich aber an den Hals von Werner geworfen, der ihn stets gemobbt hatte und Porky nannte.
„Hier wohnst du also“, sagte Gisela und goss sich ein weiteres Glas ein. „Klein und gemütlich.“
In Wirklichkeit war das eine ungepflegte Bude.
Sowas hatte die junge Frau selbst während ihrer Studienzeit bei Kommilitonen nie gesehen. Die Staubknäuel kräuselten sich zahlreich auf dem abgeschabten Teppich.
„Das ist meine Zweitwohnung, wenn ich in der Heimat bin“, log er und sein Gesicht wurde von einer tiefen Röte überzogen. Wie früher.
„Mein Hauptwohnsitz befindet sich in London, Nähe der Victoria-Station.“
Er machte eine kleine Pause und trank auch einen Schluck: „Dort habe ich allerdings eine Reinigungskraft.“ Er hob seinen Kopf in die Höhe. „Überlasse das Putzen der Fachfrau.“
Sie pfiff durch die Zähne: „Du hast also Karriere gemacht!“ Ihre anfängliche Skepsis wich. Gisela nahm ein Sofakissen und legte es sich auf den Schoß.
Er nickte und malte Kreise auf die verstaubte Glasplatte seines Sofatisches. „Ja, kann man so sagen. Aus dem verschüchterten Teenie ist ein selbstbewusster Kerl geworden.“
„Ich fühlte mich damals sehr schlecht, als Werner mich mit einem Jungen betrogen hatte“, erklärte Gisela matt und steckte sich eine Zigarette zwischen ihre vollen roten Lippen. „Werner und schwul! Wer hätte das gedacht! Dich hätte ich damals gerne als Freund gehabt, traute mich aber nicht, weil ich dir keine Hoffnungen machen wollte und dann bist du ja auch weggezogen und … “
Sie sprach nicht weiter, weil Klaus ihr das Feuerzeug entgegen hielt. Er bemühte sich, dass sie das Zittern seiner Hand nicht bemerkte.
„Danke,“, flüsterte sie und blies Rauchkringel in den Raum.
Die Fliege versuchte immer noch ins Freie zu kommen, stieß aber unentwegt gegen die Scheibe.
„Das Fenster?“, erinnerte sie ihn. „Mir ist wirklich heiß.“
„Lassen wir geschlossen“, antwortete er, „denn die Herbstluft kann recht kalt sein. Das mag ich überhaupt nicht.“
Sie atmete schwer. Sollte besser die Zigarette im Ascher ausdrücken. Das tat sie dann auch.
Ob es eine gute Idee gewesen war, diese Einladung angenommen zu haben?
„Kommt es dir auch immer so vor, dass der Herbst nur deshalb so schön ist, weil er sich für den kommenden Winter entschuldigen muss?“, begann Gisela ein unverfängliches Thema.
Die tiefstehende Sonne beleuchtete nun das zerwühlte Bett mit dem schmiedeeisernen Kopfteil.
Was sollte Klaus darauf sagen?
Weder war das hier seine Zweitwohnung, noch hatte er es beruflich zu was gebracht. Und trotz seiner 25 Jahre gab es in seinem Leben keine Partnerin, sondern ausschließlich Prostituierte. Und die hatten sich mit ihm nie darüber unterhalten, ob der Herbst sich für den nahenden Winter entschuldigen müsse.
„Ich erinnere mich noch gut, wie hervorragend du Gedichte im Deutschunterricht vortragen und interpretieren konntest“, unterbrach Gisela das Schweigen.
„Ach, wie ist es kalt geworden und die Sonne scheint nicht mehr, grauer Nebel zieht von Norden und die Welt ist öd und leer“, trug sie den Beginn von Hermann Hesse vor.
Doch Klaus hörte nicht zu, denn ihm war klargeworden:
Gisela war seinerzeit dem schwulen Werner auf den Leim gegangen.
Dieser Arsch! So ein Schwein! Er hatte Gisela benutzt! Billig missbraucht, um den Schein des starken Hetero-Mackers zu wahren!
Wie er gelitten hatte, als die beiden sich vor seinen Augen auf dem Pausenhof abgesabbert hatten, als gäbe es kein Morgen.
Zeit also für einen potenten Mann!
Außerdem hatte Gisela doch erwähnt, dass sie ihn, Klaus, viel lieber als Freund gehabt hätte.
Er dachte an die Handschellen, die in der Schublade des Nachtschränkchens lagen, weil er diese Spielchen gerne mochte, wenn eine Nutte ihn besuchte.
Er goss ihr ein weiteres Glas ein, weil Gisela ihm zu zurückhaltend erschien, so wie sie da saß und das Kissen gegen ihren Bauch presste.
Sie sah mit ihren Sommersprossen immer noch gut aus. Und ihr Haar, auch wenn sie es jetzt zurückgebunden trug, schimmerte in der Abendsonne.
Gisela und Werner!
Das hatte ihm damals das Herz gebrochen, denn ER war in Gisela verknallt. ER war der einzig Richtige für sie!
Heiß überlief Zornesröte sein Gesicht.
* * *
Und nun hängt sie mit ihren zarten Handgelenken an meinem metallenen Bettgestell und wimmert unverständliches Zeug, weil ich ihr einen Stoffknebel in den süßen Mund gesteckt habe.
Denn ich mag es nicht, wenn Weiber beim Sex dummes Zeug reden.
„Ich verzehre mich nach dir“, murmele ich nach Luft schnappend, „bist mir nie aus dem Kopf gegangen.“
Und just bibbert die zarte Gisela in ihrer Nacktheit vor Erregung auf meinem Bett und zerrt an den Fesseln.
Dieses Temperament hätte ich ihr überhaupt nicht zugetraut.
Langsam und sehr sachte fahre ich mit dem Zeigefinger ihren Bauchnabel hinab bis zum Zentrum ihrer Wollust.
Gisela zuckt kurz und schlägt mit den Beinen um sich. Ich liebe diese Wildheit und dringe hart in sie ein.
Zehn Jahre habe ich von diesem Moment geträumt.
Drehe dennoch mein Gesicht von ihr weg, als müsse ich mich wegen meiner Forschheit entschuldigen.
Aber ich bin halt nicht mehr das fette rosa Schweinchen von damals.
Ich gebe den Rhythmus der heftigen Stöße vor. Und nicht der schwule Werner!
Sie fühlt sich feucht und warm an.
Ich verliere mich in ihr.
Gisela ist eine heiße Braut! Liebkose ihre Brüste und sauge die Nippel mit meinen Lippen auf.
Immer noch schlägt sie die Beine um mich.
Ja! So liebe ich das! Diese Geziere.
Wie oft hatte ich früher die Vorstellung, mir meine rosa Haut mit einem Hobel abzuschaben, wenn andere Jungs nach den Ferien braungebrannt in der Schule erschienen sind.
Endlich wird sie ruhiger und wimmert vor Befriedigung.
Aber plötzlich zerrt dieses geile Weib ununterbrochen an den Handschellen. Gisela weiß genau, wie sie mich anstacheln muss!
Mehrere Explosionen in meinem Hirn übertreffen alles, was ich bisher erlebt habe. Ich ergreife ihre Schenkel und ziehe sie eng zu mir heran, damit ich noch inniger und tiefer in meine Geliebte eindringen kann.
Erlöst mich eine Ohnmacht? In mir lodern Flammen!
Sie hechelt nach Luft und die Freudentränen rinnen an ihren geröteten Wangen hinab.
Ich fühle mich erleichtert, als ich mich in sie ergieße, trunken küsse ihr die Nässe aus dem Gesicht und rolle mich mit einem Ruck zufrieden zur Seite.
Zische die restliche Luft aus meiner Lunge.
„Habe zehn Jahre auf dich gewartet, meine Liebste.“
Schmatze abermals ihren Tränenstrom trocken und lasse ihr seidiges Haar zwischen meine Finger gleiten.
Gisela seufzt.
Ich grunze benommen in die Dämmerung hinein, die den Raum wohlig eingehüllt hat.
Mein Mädchen gurgelt unverständliches Zeug zwischen dem Knebel hervor und schlägt wieder wild mit ihren Beinen umher.
Ich lache ein bisschen zu laut, weil ich überdreht bin.
„Hat meine Kleine immer noch nicht genug? Fräulein Nimmersatt?“
Ihr Kopf schnellt ruckartig hin und her, sie hat ihre Augen weit aufgerissen.
„Alles ist gut, meine Liebste“, flüstere ich ihr zu, „wenn du dich beruhigt hast, bekommst du noch mehr Zuneigung.“
Die Fliege liegt mit gekrümmten Beinen tot auf dem Boden vor dem Fenster.
Ich komme zu mir.
Schlage mir meine geballten Fäuste mehrmals vor die Brust und kreische.
„Selbstverständlich gehöre ich deiner Meinung nach bestimmt in den Knast!“
Und verliere mich in ihren weiten verwässerten Augen.
Sie schüttelt ihren Kopf wild auf dem Kissen umher.
Ich wühle mit meiner Nase in ihren Haaren! Sauge den frischen blumigen Duft in mich hinein, damit ich ihn nie mehr vergesse.
Bin ja kein Unmensch. Ziehe ihr sachte den Knebel aus dem Mund und verschließe ihre Lippen sofort mit einem innigen Kuss.
„War es schön mit mir?“
„Ja“, flüstert meine Geliebte gepresst, als ich mich von ihr löse. „Es war schön mit dir.“ Sie atmet tief ein und aus.
„Aber nun würde ich uns beiden gerne was Leckeres zum Essen holen“, hauch Gisela einfühlsam, um die vertraute Stimmung nicht zu zerstören.
Ich widerspreche ihr! Wenn hier einer was Tolles besorgt, dann bin ich das! Einschließlich Schampus!
Und wische die Flasche mit dem billigen Prosecco vom Tisch. Sie zerschellt klirrend auf den Fliesen.
Gisela hat sich inzwischen aufgesetzt. Sie zuckt zusammen.
„Scherben bringen Glück!“ Ich lache übermütig. „Wie beim Polterabend!“
‘Soll sie uns etwas Leckeres kaufen´, überlege ich, `in einer Partnerschaft muss man vertrauen können.´
Gisela zieht sich an.
Zugegeben: Nackt gefällt mir meine Schöne besser.
Bevor sie die Tür öffnet, halte ich sie am Ellbogen fest. Meine wilde Maus fährt herum.
„Hey! Kleines“, beruhige ich meine Zarte und streife über ihren Busen, „es gibt keinen Grund, ängstlich zu sein. Ich bin es doch. Dein Klaus.“
Sie lächelt, geht langsam ins Treppenhaus und steht vor den Stiegen.
Ich werfe Gisela einen Handkuss zu: „Und den Schampus nicht vergessen!“
Warum ist ihr Lippenstift verschmiert?
So kann ich sie auf gar keinen Fall gehen lassen! Was sollen denn die Leute denken!
Ich packe Gisela um die Taille, ziehe sie hinter meine Wohnungstür und schleife die wild um sich schlagende abermals auf mein Bett.
DAS nenne ich Temperament!
„Kann denn Liebe Sünde sein?“, säusele ich ihr ins Ohr, binde ihr den Knebel um und lasse die Handfesseln einklicken.
„Den Schampus gibt es morgen“, verspreche ich ihr.
Aber jetzt muss ich diese tote Fliege vom Teppich entfernen.
ENDversion