Von Gerhard Schönbeck
Das durfte nicht wahr sein.
Er sah noch einmal genauer hin. Doch, kein Zweifel. Warum zur Hölle taten sie das? Dass es für sie beileibe nicht gut ausgehen würde, konnten sie sich eigentlich ausrechnen. Die Exekutive hatte die Stadt in einem eisernen Klammergriff, durch den ihr nichts und niemand entging. Er musste es wissen, schließlich war er einer der fähigsten Beamten. Wieder und wieder las er die Zeilen.
„Es gibt ernstzunehmende Hinweise, dass die Gruppe ‚Mrs. Niggerbaiter Exploded‘ einen Auftritt in einem verlassenen Fabrikgebäude nahe der Grenze plant. Dies könnte eine ausgezeichnete Gelegenheit sein, möglichst alle Mitglieder der Gruppierung zu liquidieren; eine Festsetzung ist auf die Gefahr hin, einen Märtyrerstatus zu erzeugen, nicht erwünscht. In dieser Situation ist daher äußerst bedachtsam vorzugehen und die Veranstaltung verdeckt zu infiltrieren, damit der Zugriff rasch und möglichst ohne Aufsehen zu erregen erfolgen kann. Aufgrund Ihrer diesbezüglichen Diensterfahrung und bisherigen Leistungen werden Sie für diesen Einsatz in Aussicht genommen. Nähere Informationen folgen zeitgerecht.“
Er war auf die Gruppe gestoßen, als er um die zwanzig war und sie den (wie er fand) ultimativen Song herausbrachte – „My Time of Pondering“, einen Song, der seine damalige Situation, seine Ängste und Hoffnungen perfekt in Worte fasste und mit einer unbeschreiblichen Melodie unterlegte. Er war begeistert gewesen und hatte das zum Anlass genommen, auch das vorher veröffentlichte Material zu hören. Seitdem liebte er ihre Musik und die feinsinnigen, oft ein wenig hintergründigen Texte heiß. Die neue Regierung hegte jedoch unglücklicherweise eine gründliche Aversion gegen alles, was ihrer Meinung nach geeignet war, die Leute zu intensiv zum Nachdenken anzuregen. Die allzu freisinnigen Kunstschaffenden hatten das bald zu spüren bekommen und viele hatten sich dazu entschlossen, das Land zu verlassen. Auch seine Gruppe war ein Angriffsziel geworden, was zur Folge hatte, dass im freien Verkauf bald nichts mehr zu bekommen war. Es blieben Schleichwege, die zwar mühsam waren, aber was tat man nicht alles für seine Passion. Er, als Beamter, hatte es leichter als andere, da er vieles in einen offiziellen Mantel hüllen und etwa Ergebnisse von Razzien teilweise für sich abzweigen konnte. Nicht ungefährlich, aber machbar. So blieb ihm zumindest ein kleiner Trost, und er hatte bis jetzt gedacht, er könnte sich mit der allgemeinen Situation arrangieren. Einfach nicht auffallen, nicht zu laut reden, den Ball so flach wie möglich halten, wie es ja sein Naturell war.
Wirklich anfreunden hatte er sich mit den neuen Verhältnissen auch in anderen Bereichen nicht können – allerdings war das bis jetzt auch nicht notwendig gewesen. Seine Abteilung war eine der wenigen noch aus dem alten Regime transferierten, mehr auf wertneutrale Sacharbeit fokussiert und politisch relativ unvoreingenommen. Das hatte es ihm ermöglicht, weiter seine Arbeit zu erledigen, ohne sich allzu weit zu exponieren. Die bisherigen Fälle unter der neuen Ägide hatten ihn persönlich nicht berührt, darum war es ihm leicht gefallen, nach Vorschrift Dienst zu tun und dabei eine wohltuende emotionale Distanz zu wahren.
Bis jetzt.
Die Meldung kam von der Zentralen Beobachtungsabteilung. Die Agenten dort verstanden ihr Handwerk, man konnte also davon ausgehen, dass es stimmte.
Verdammt.
Was sollte er jetzt tun? Eine Liquidierung brachte er nicht übers Herz – neben den eigenen Befindlichkeiten war er der Überzeugung, dass ein derart herausragendes Künstlerkollektiv der Welt nicht einfach so entrissen werden durfte. Wenn er sie aber laufen ließ, hieß das entweder eine Degradierung oder ein Disziplinarverfahren. Auf beides konnte er getrost verzichten. Den Rest des Tages versuchte er erfolglos, sich auf seine Akten zu konzentrieren, bevor er schließlich entnervt seinen Computer herunterfuhr und sich auf den Heimweg machte.
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Wehmütig blickte er vom Rand des Zuschauerraums auf die improvisierte Bühne. Wenigstens konnte er die Gruppe so noch einmal sehen. Sie war an diesem Abend in bestechender Form, gerade als wüssten die Beteiligten genau, dass dies ihr letzter Auftritt wäre. Der Gedanke, dass ausgerechnet er für ihr Ende verantwortlich sein würde, wurde ihm immer unerträglicher. Egal, er musste es tun, sonst war seine Karriere und wahrscheinlich noch mehr im Eimer. Aber musste er wirklich? Konnte er es nicht so drehen, dass es so aussah, als wäre ein Zugriff nicht möglich gewesen? Darüber hatte er sich die letzten Tage ausführlich den Kopf zerbrochen, ohne Ergebnis. Das konnte nicht sein. ‚Denk nach!‘ schalt er sich selbst, ‚wozu bist du einer der Besten in deinem Metier?‘ Plötzlich riss ihn etwas aus seinen Gedanken.
Nicht im Ernst.
Leise und so eindrucksvoll wie selten zuvor erklangen die ersten Akkorde seines Songs, nur mit akustischer Gitarre unterlegt. Das Publikum war verstummt und lauschte gebannt, man konnte die andächtige Stille förmlich greifen. Das war große Kunst.
Ewig scheinende Sekunden, nachdem die letzten Töne verklungen waren, brandete frenetischer Applaus auf. Still lächelte er in sich hinein, während in ihm ein Entschluss reifte.
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Vergnügt vor sich hinsummend schloss er die Tür zu seinem Büro auf und freute sich auf eine schöne Tasse Kaffee. Die Woche versprach unaufgeregt zu werden, keine heiklen Einsätze drohten – allzu viele Zielobjekte waren auch nicht mehr übrig. Genügend Zeit also, offene Akten abzuarbeiten und sich seinem neuen geheimen Spezialprojekt zu widmen. Nach einem reichhaltigen Mittagessen blätterte er gedankenverloren in seinen Unterlagen, blickte auf seine Armbanduhr und entschied, dass es an der Zeit war. Sorgfältig verstaute er den Aktenordner im Schrank und machte sich auf den Weg.
Nach einer halben Ewigkeit fiel die letzte Stahltür schwer hinter ihm ins Schloss. Ihm wurde wieder bewusst, wie riesig das Direktionsgebäude war. Vor wenigen Wochen noch hatte er den Trakt, den er jetzt durchschritt, nur vom Hörensagen gekannt. Er war noch vor seiner Zeit in der Spezialabteilung aus menschenrechtlichen Erwägungen nicht mehr benutzt worden, und selbst das neue Regime hatte ihn nicht wieder belegt. Der Gebäudeteil war aber auch nie von der Stromversorgung abgekoppelt worden – ob absichtlich oder weil man ihn vergessen hatte, wer wusste das schon. Jedenfalls verirrte sich freiwillig niemand hier herunter, perfekte Bedingungen also für seinen Plan. Und selbst wenn jemand Fragen stellen sollte, konnte er sich immer noch auf Staatssicherheitsinteressen herausreden, der nunmehrige Passepartout.
Er schloss die Tür auf.
„Wer ist da?“, fragte eine nervöse Stimme.
„Bitte um Ruhe.“
„Wie spät ist es? Welchen Tag haben wir? Wie lange…“
„Ich sagte: Bitte Ruhe.“
„Aber…“
„Ich werde Ihre Fragen beantworten. Zuerst möchte ich Sie aber um einen Gefallen bitten.“
„Und zwar?“
Er öffnete eine Schranktür und nahm eine akustische Gitarre heraus. „Spielen Sie ‚My Time of Pondering‘.“
„Wie bitte?“
„Ich habe Sie gebeten, zu spielen.“
„Aber… Das ist meine Gitarre! Woher…“
„Ich möchte nicht mit Ihnen diskutieren müssen. Vor allem, wenn wir uns alle denken können, wie die Diskussion ausgehen wird. Und jetzt spielen Sie.“
Resignierendes Schnaufen.
„My time of pondering is coming to an end…“
V2