Von Amelie Sorglos

Die Kinokarte findet Willi am Vormittag auf seinem Schreibtisch. Sie steckt in einem schlichten weißen Umschlag ohne Absender. Er kann bereits ahnen, wer sie dort abgelegt hat, darum grinst er und erledigt die anfallende Arbeit des Tages schnell und heiteren Gemüts.

 

Am Abend kehrt er nach Hause zurück, um mit Ilse, seiner Frau, eine kleine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Wie immer sitzen sie sich schweigend gegenüber. Die gähnende Langeweile, die sich nach sieben Jahren ihres gemeinsamen Lebens bereits in ihren Gesichtern abzuzeichnen beginnt, werfen sie sich nicht gegenseitig vor. Vielmehr sucht jeder für sich dem Leben ein gewisses Maß an Zufriedenheit abzugewinnen. Während Willi mehr Zeit als nötig in seinem Büro verbringt, kümmert sich Ilse um den Haushalt.

 

Nach dem Abendessen haucht Willi seiner Frau einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

„Ich treffe mich noch mit einem Geschäftskollegen“, erklärt er.

„Ja, so?“, sagt Ilse und trägt das Geschirr in die Küche.

 

Eine halbe Stunde später betritt er den Kinosaal der Lichtburg und sucht sich einen Platz in einer Reihe weit hinten. Zehn Leute zählt Willi, er ist viel zu früh gekommen. Seine Anspannung wächst in gleichem Maße, wie sich der Zuschauerraum füllt. Die Frau, auf die er wartet, ist noch nicht aufgetaucht, doch als sich das Licht bereits verdunkelt, huscht eine Gestalt an den Platzanweiserinnen vorbei und drängt sich in die mittlere Reihe.

Willi ist sich sicher, dass es die Frau ist, die ihn zu dieser Veranstaltung eingeladen hat. Er kennt Sabine Roth durch seinen Beruf als Steuerberater. Die Blicke, die sie ihm zuwirft, wann immer sie zusammentreffen, sprechen Bände. Klug und schön ist sie. Willi weiß beides zu schätzen und genießt das leichte Herzklopfen, das sich seiner plötzlich bemächtigt.

Nach der Werbung beginnt der Hauptfilm, doch Willi kann sich nur schwer konzentrieren. Seine Gedanken schweifen ab, beschäftigen sich mit dem Fortgang des Abends und mit Sabine, die er stets im Auge behält.

 

Als der Film noch lange nicht zu Ende ist, steht sie plötzlich auf, dreht sich kurz zu ihm um und verschwindet nach draußen. Willi eilt ihr nach, doch es dauert eine Weile, bis er sie am Ende der Gasse entdeckt. Sie stöckelt weiter, schon glaubt er sie eingeholt zu haben, da verschwindet sie bei Harrys in der Bar. Ohne zu zögern betritt Willi das Nacht-Lokal und lächelt der Frau zu, die sich gerade auf einen Barhocker schwingt. Er erstarrt. Diese wunderschöne Frau, deren schwarze Haare wie ein samtener Schleier auf ihre Schultern fallen, ist nicht Sabine. Er hat die Frau noch nie gesehen. Wer ist sie, schießt es ihm durch den Kopf. Willi gibt sich einen Ruck. Wenn schon, jetzt erst recht. Fast schwebt er zu ihr hin, doch dann hält er inne und lässt zwei Hocker frei zwischen ihrem und dem, auf den er sich setzt. Die Fremde trägt ein rotes Kleid mit einem tiefen Ausschnitt, in dessen Tiefen die Blicke des Barmanns versinken, als er ihr einen Drink bringt. Willi bestellt Bier, hebt das Glas und prostet der Frau zu.
„Auf Ihr Wohl, wenn‘s gestattet ist.“


Ihre Lippen scheinen sich zu bewegen. Unruhig rutscht sie auf dem Hocker hin und her, dann lockt sie ihn mit einer Zigarette, die sie zwischen ihren rot lackierten Fingernägeln hält, zu sich herbei. Während er ihr Feuer gibt, beobachtet er mit Wohlgefallen den Saum ihres Kleides, wie dieser sich immer weiter nach oben schiebt.
„Willi, mein Name ist Willi“, sagt er mit rauer Stimme und setzt sich neben sie.
„Rosemarie, doch meine Freunde nennen mich Rosie.“ Das Lächeln, das sie ihm zuwirft, ist geheimnisvoll und verlockend zugleich.
„Ein wunderschöner Name. Ich werde Sie auch Rosie nennen, wenn ich darf.“
Sie rauchen beide in tiefen Zügen, sie sehen dem Rauch nach, der nach oben an die Decke schwebt. Willis Blicke ruhen auf Rosies Schenkeln, ihren wundervollen glatten Schenkeln, die sie ein wenig spreizt und dann schnell wieder schließt. Feurige Hitze schießt durch seinen Körper. Er starrt auf das pfirsichfarbene Fleisch ihrer herrlich geformten Brüste, die aus dem Kleid hervorquellen. Schweißtropfen bilden sich auf Willis Stirn. Der dünne Stoff ihres Kleides zeichnet jede Rundung ihres Körpers nach. Rosie, wie schön sie ist! Jetzt schließt sie die Augen und inhaliert den Qualm durch die Nase. Der Barmann tauscht die vollen Aschenbecher aus und bringt kalte Getränke.

Er stellt die Musik lauter. „Parlez-moi d’amour …“
Willis feuchte Hand sinkt auf Rosies Knie, er lässt sie dort liegen und sie wehr sich nicht dagegen.  
Sie flüstert in sein Ohr: “Ich will mit dir weggehen. Jetzt.“
„Ich will auch mit dir weggehen“ flüstert er zurück, obwohl er keine Ahnung hat, wohin sie gehen sollten.


Draußen auf der Straße legt Willi den Arm um Rosies Taille und Rosies Hand rutscht auf seinen Po. Sie kommen in eine enge Gasse mit alten Häusern, an denen streunende Katzen herumstreichen und sie sagt: „Wenn du willst, können wir zu mir raufgehen.“
Sie sagt es so natürlich, dass es wie eine freundschaftliche Einladung klingt, doch ihre Stimme ist sehr nah und ruft ein Kribbeln hervor, wie Willi es schon lange nicht mehr gespürt hat. Rosie zieht einen Schlüsselbund hervor, schließt hastig auf, zur Seite spähend, als fürchte sie, von jemandem überrascht zu werden. Willi folgt ihr die enge Steintreppe nach oben.

 

Die Decke der Wohnung ist niedrig, die Maße auf ein Minimum beschränkt, doch es ist angenehm und wohnlich und es gibt Bücher nicht nur in Regalen, sondern auch auf dem Boden und zwischen den Kissen auf dem Sofa.

„So viele Bücher“, wundert sich Willi. „Was machst du beruflich?“

„Chemielaborantin“, antwortet Rosie.

„Gefährlich“, meint Willi. Doch sie lacht nur.

„Willst du Musik hören?“, fragt sie ihn und ohne auf eine Antwort zu warten legt sie eine der herumliegenden Kassetten ein. Ein immer wiederkehrender Singsang, von einer hohen Frauenstimme gesungen, übt hypnotische Wirkung auf Willi aus. Wie ein unterirdisches Beben durchströmt das Summen sein Blut. Er geht auf Rosie zu, fasst sie am Arm und drückt sie an sich. „Du bist so schön, Rosie, so wunderschön!“ Seine Hand findet den Weg in ihr Kleid, doch  Rosie windet sich geschickt aus seiner Umarmung. „Warte“, sagt sie, „ich hole uns etwas zu trinken, du bist sicher durstig.“

Mit zwei Gläsern kommt sie zurück, drückt ihm einen Kuss auf die Wange und eines der Gläser in die Hand. Eisstücke schwimmen in der goldbraunen Flüssigkeit, die Willi hastig hinunterkippt. Rosies Gesicht scheint sich vor seinen Augen aufzulösen. Ein Schwindel erfasste ihn, er hat das Gefühl zu fallen, seine Hand sucht Halt, greift ins Leere, er stürzt, dann verliert er das Bewusstsein.

 

Willi ist tot. Herzinfarkt diagnostiziert der Notarzt, dann tragen sie ihn die steile Treppe hinunter.

 

Rosie hat Champagner mitgebracht, nach zwei Gläsern fängt sie zu kichern an.

 

„Du bist zauberhaft, wenn du beschwipst bist“, sagt Ilse, küsst Rosies Hals und  knöpft ihr die Bluse auf.