Von Claudia Nierste

Darius stand an der Bushaltestelle und sah dem Regen dabei zu, wie er seine Schuhe durchweichte. Über ihm rauschte der Verkehr über die Brücke, ein nicht enden wollender Strom von Reifen auf Asphalt, die Wasser auf den Gehweg spuckten, und beschlagenen Windschutzscheiben, hinter denen verschwommene Gesichter schimmerten. In einer Pfütze neben seinem linken Turnschuh schwamm ein Zeitungsfetzen. Er musste einmal eine bedeutsame Schlagzeile getragen haben, wenn man nach der Menge an Druckerfarbe ging, die auf die Buchstaben verwendet worden war. Lesen ließen sich die verwaschenen Farbwolken, die davon übrig geblieben waren, jetzt allerdings nicht mehr.

Darius seufzte und spähte hinüber zur Brücke. Für gewöhnlich rollte der Bus wenige Minuten vor seiner Ankunft an der Haltestelle darüber, und das Wissen, dass er unterwegs war, war nach einem langen Tag an der Universität immer tröstlich. Von dem massigen Fahrzeug war jedoch nichts zu sehen. Der Regen fiel weiter undurchdringlich wie ein Vorhang. Darius wischte sich die nassen Haare aus der Stirn.

Auf der Brücke blinkten die ersten Scheinwerfer auf.

Da plötzlich sah er es. Auf dem Brückengeländer, so nahe am äußersten Stützpfeiler, dass darunter nur noch die Böschung lag, wo bei besserem Wetter die Raucher ihre letzte Kippe vor dem Bus nahmen, stand eine Gestalt, ein junger Mann. Mit ausgebreiteten Armen, um das Gleichgewicht zu halten, aber vornübergebeugt. Bereit zum Sprung.

Einen Moment lang konnte Darius nur hinaufstarren. Der Regen lief ihm in die Augen und ließ seine Sicht verschwimmen, doch er wusste, dass er sich nicht täuschte. Dort oben stand jemand, dessen Leben gleich ein abruptes Ende nehmen würde.

„Nicht!“

Das Wort war ihm herausgerutscht, bevor er es verhindern konnte. Unmöglich, dass ihn der Mann dort oben durch den prasselnden Regen und das Dröhnen der Autos hindurch hörte. Hektisch wühlte er in der Tasche nach dem Handy. Würde die Polizei überhaupt schnell genug eintreffen? Aber wen sollte er sonst rufen?

„Aus dem Weg!“

Eine zweite Gestalt stieß ihn zur Seite. Darius registrierte ein schiefes, vernarbtes Kinn und fettige Haare unter einem Regencape, da war sie auch schon an ihm vorbei und stürzte den Bürgersteig entlang auf die Böschung zu. Darius sah sie rennen und sein Herz schlug schneller. Wollte sie dem Mann auf der Brücke zureden? Kannten sich die beiden am Ende sogar? Gebannt sah er zu, wie sich die Gestalt im Regencape nahe dem Stützpfeiler aufbaute und das Gesicht in den Regen hielt. Die einsame Gestalt auf der Brücke hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Der Verkehr brauste noch immer an ihr vorbei, gleichgültig, als stünde dort nicht gerade jemand an der Schwelle zum Tod.

Der Mann auf der Brücke schwankte. Darius hielt den Atem an. Die Gestalt im Regencape breitete die Arme aus. Der Mann fiel. Die Gestalt im Regencape griff ihn aus der Luft, als wöge er nicht mehr als eine Feder, und packte seine zappelnden Arme mit eisernem Griff. Dann schmetterte sie seinen Kopf gegen den Stützpfeiler, dass der Schädel aufplatzte wie eine überreife Frucht. Darius schrie.

 

Als er über die Schwelle seiner winzigen Wohnung trat, wäre er am liebsten auf die Knie gefallen und hätte sich danach auf dem Fußboden zusammengerollt. Der Bus war schließlich doch noch gekommen, aber erst nachdem ein Polizeiauto durch die Pfützen geschlingert war und die Haltestelle blockiert hatte. Im verschwommenen Licht der Scheinwerfer waren die Polizisten auf den Körper unter der Brücke zugegangen. Routiniert, fast gelangweilt hatten sie ihre Arbeit getan, und Darius‘ Beteuerungen von einer Gestalt im Regencape keinerlei Glauben geschenkt. Aufgefangen, aus der Höhe, hatte der ältere der beiden Polizisten ungläubig gesagt. Dann müssten sie ja jetzt beide da liegen.

Sie hatten die Haltestelle geräumt, sobald klar war, dass keine Schwierigkeiten zu erwarten waren, und die Busfahrerin hatte auf die Hupe gedrückt, um ihre Fahrgäste aus der kleinen Gruppe der Schaulustigen zu locken, die sich nahe der Böschung gebildet hatte. Darius war nicht eingestiegen. Er war den Nachhauseweg zu Fuß gelaufen, während das Wasser ihn durchweichte bis auf die Knochen. Jedes Regencape, das ihm entgegenkam, hatte ihn zusammenfahren lassen.

Da saß er nun, den Laptop aufgeklappt vor sich, und versuchte zu denken. Sollte er den Vorfall googlen? Vielleicht hatte jemand eine Kamera dabei gehabt und die ganze Sache gefilmt. Der Gedanke ließ ihn schaudern. Er wollte die seltsame Gestalt nicht noch einmal sehen.

Mit steifen Fingern gab er „Brückensprung“ in die Suchleiste ein. Artikel über Mutproben und leichtsinnige Jugendliche starrten ihn an. Er leerte das Feld. Tippte stattdessen „Selbstmord“ ein. Jenseits der klinisch gefühllosen Wikipedia-Artikel, der Selbsttests und Nummern der Telefonseelsorge begann das Dickicht der Foren. Er klickte sich durch Leidensgeschichten, geschmacklose Witze und Memes, die er nicht verstand. Schwarze Hintergründe, neonleuchtende Schrift, blinkende Emojis. Er las die Berichte von Menschen, die ihre Begegnung mit dem Tod überlebt hatten und schrieben, sie hätten den Moment der Entscheidung den Bruchteil einer Sekunde danach bereut. Eine Frau erzählte, wie sie im Rausch der Überdosis ein Gesicht angestarrt und sie das Grauen übermannt habe. Sie wisse nicht einmal wieso. So hässlich sei er nicht gewesen, der Tod. Der Kommentator unter ihr lieferte einen seitenlangen Erguss in Kapitälchen, der Darius‘ Kopf schmerzen ließ. Er klappte den Laptop zu.

Draußen ging bereits die Sonne auf.

 

In den darauffolgenden Tagen pendelte sich Darius‘ Leben in einen beinahe tröstlichen Rhythmus ein. Morgens, auf dem langen Weg zum massiven Gebäude der Universität, suchte er nach der Gestalt im Regencape. Er spähte aus dem staubverkrusteten Fenster, bis der Bus mit kreischenden Bremsen an der Haltestelle stoppte. Abends stand er neben der Brücke und beobachtete die Vorbeigehenden, bis die Sonne unterging. Dann kehrte er in seine Wohnung zurück, zu seinem Laptop und seiner Suchmaschine.

Im Hörsaal schenkte er dem Professor an der Tafel noch weniger Beachtung, als er es ohnehin getan hätte. Das Smartphone hinter dem Hefter verborgen, las er sich weiter durch die Foren, öffnete zwischendurch Twitter, um seinen Feed zu checken. Tatsächlich tauchte dort zwei Tage nach dem Vorfall an der Brücke eine kurze Meldung der Polizei auf. Ein junger Mann, vor kurzem obdachlos geworden. Eindeutig Suizid. Von der Gestalt im Regencape kein Wort. Dafür fand Darius in einem geschlossenen Forum einen weiteren Hinweis. Ein User mit dem Benutzerbild eines geköpften Hasen schrieb, dass er sie willentlich erscheinen lassen könne. Er müsse sich nur eine Schlinge um den Hals legen und so lange ziehen, bis er ihm schwarz vor Augen werde. Im letzten Moment, bevor ihm das Licht ausgehe, so sagte er, könne er einen Blick auf sie erhaschen. Darius hatte keine Schlinge, doch er entdeckte, dass er ebenso gut auf den Fernsehturm steigen und von dort in die Tiefe sehen konnte. Wenn er sich weit genug vorlehnte, den Blick so fest auf den Boden gerichtet, dass es in seinem Magen rumorte, und nur zwei Finger am Geländer behielt, erschien sie unter ihm als winzige Gestalt, um die sich das dunkle Regencape bauschte.

Er meldete sich im Forum an und antwortete dem geköpften Hasen. Auf seinem Handy sammelten sich derweil die Nachrichten, dann die unbeantworteten Anrufe. Er löschte sie alle. Das einzige Licht in seiner Wohnung kam jetzt von seinem Laptop, der auch in den frühen Morgenstunden noch lief. Er ging nicht mehr zur Uni. Stattdessen fuhr er jeden Tag zum Fernsehturm und spähte hinunter, lehnte sich stückchenweise weiter vor.

Der geköpfte Hase schlug ihm neue Methoden vor, die Gestalt zu sehen. Darius suchte sie an verschiedenen Orten in der Stadt, dann in seiner Wohnung. Er malte sich aus, wie es wäre, ihr endlich zu begegnen, und machte sich Sorgen, dass er nicht wissen würde, was er dann sagen sollte. Er hatte sich selbst so lange nicht mehr sprechen gehört. Sein Bart kitzelte ihn, wenn er den Kopf senkte, um eine neue Nachricht an den geköpften Hasen zu schreiben. Eines Abends kamen keine Antworten mehr.

 

Schließlich kam der Tag, an dem Darius sich sicher war. Er würde ihr begegnen. Noch heute. Der Gedanke elektrisierte ihn, ließ ihn die Lippen verziehen, dass es in den Wangen schmerzte. Er stellte sich unter die Dusche und schrubbte seine juckende Haut, bis sie rot war. Mit noch immer klatschnassen Haaren ging er zum Friseur und sah ungeduldig zu, wie die Büschel fielen. Er war so glücklich, wie er es lange nicht gewesen war.

Die Sonne schien.

Er nahm den nächsten Bus zum Fernsehturm. Er stieg die Stufen hinauf. Lehnte sich vor. Löste die Finger vom Geländer.

„Hallo.“

Da war sie, direkt neben ihm. Darius starrte sie an. In ihrem Gesicht war nichts von dem, was ihn einst hatte erschaudern lassen. Ihre Augen waren weich und dunkel, zwei stille Tümpel inmitten eines endlosen Felds.

„Ich…“, stammelte er. „Du hast… Die Böschung. Der Mann.“

Er hatte längst vergessen, was er ihr vorwerfen wollte. Ihr Lächeln zog ihn in den Bann und ihr warmer Duft nahm ihm jeden Willen.

„Wirst du dort unten stehen?“, fragte er leise.

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Haare streiften seine Wange wie dunkle Federn.

„Das ist nicht nötig. Ich weiß schon, dass du dich nicht wehren wirst.“