Von Ingo Pietsch

Thorsten Rieger fuhr mit seinem Streifenwagen langsam die Straße entlang.

Die Sonne begann am Horizont zu verschwinden und er schaltete die Heizung höher.

Herbstböen wirbelten bunte Blätter durch die Vorgärten und über die Wege.

Thorsten musste herzhaft gähnen. Er hatte sich seinen ersten Tag auf Streife ein wenig aufregender vorgestellt. Aber vielleicht war es so ruhig doch besser für ihn. Schließlich hatte er ein halbes Jahr Therapie und Schreibtischarbeit hinter sich.

Und er hoffte, dass er seine Dienstwaffe nicht so schnell wieder gebrauchen müssen würde.

Er nippte an seinem Coffee-to-go und schaute mal nach links und dann wieder nach rechts aus dem Fenster, ob ihm nicht irgendetwas Ungewöhnliches auffiel.

Aber was war in der heutigen Zeit schon ungewöhnlich?

In dieser Gegend war es relativ ruhig. Es gab wenig Kriminalität und bis auf ein paar Nachbarschaftsstreitigkeiten passierte hier eigentlich gar nichts.

Wahrscheinlich war Thorsten deshalb hierher abkommandiert worden.

Im Polizeifunk gab es keine Durchsagen und die Schicht war bald zu ende.

Thorsten machte sie in Gedanken schon auf den Rückweg zum Revier, als er jemanden an einem Rosenspalier hantieren sah.

Er erkannte einen jungen Mann, der sich mit einer Hand am Holzgestell festhielt und mit dem Schraubendreher in der anderen an einer Hausnummer herumschraubte.

Thorsten hielt an, überprüfte, ob seine Waffe gesichert war, nahm seine Mütze und stieg aus.

Der Mann bemerkte anscheinend nicht, was um ihn herum geschah und arbeitete ungestört weiter.

Thorsten setzte seine Mütze auf und räusperte sich.

Der Handwerker reagierte immer noch nicht.

„Hallo?“, fragte Thorsten, „was machen Sie da?“

Jetzt erst schien ihn der andere zu bemerken. Er wandte seinen Kopf, sah Thorsten an, sagte aber nichts.

Thorsten zückte seine Taschenlampe und leuchtete den Mann ab. Es war ein Südländer, Mitte Zwanzig, mit traurigen Augen. Er trug auf den ersten Blick keine Waffe, bis auf den Schraubendreher.

„Sie kommen jetzt herunter und dann unterhalten wir uns.“ Thorsten strahlte den Weg vom Spalier bis auf den Gehweg.

Der Südländer kletterte nach unten und blieb mit hängenden Schultern vor Thorsten stehen.

„Was haben Sie dort oben gemacht? Repariert? Abmontiert? Verstehen Sie mich überhaupt?“

Der Mann nickte: „Bissgen“

„Das ist doch schon mal ein Anfang. Ausweis dabei? Aber langsam.“

Der angesprochene zog ein abgewetztes Portmonee aus seiner Gesäßtasche und reichte es Thorsten.

Es enthielt nur eine Aufenthaltsgenehmigung und ein Foto seiner Familie.

„Farid, wo kommst du her?“

„A-a-afghanistan.“ Farid sah sich hilfesuchend um.

Thorsten bemerkte es: „ Hattest du schon öfter Ärger mit Polizei?“

Farid nickte. Sein Blick ruhte auf einem Strauch unter dem Spalier.

Thorsten schwenkte seine Taschenlampe dorthin und entdeckte dort einen alten, prall gefüllten Rucksack.

Farid blickte betroffen zu Boden und wippte von einem Fuß auf den anderen. Er wollte fliehen, hatte aber sein Portmonee noch nicht wieder bekommen.

Der Rucksack schepperte blechern, als Thorsten ihn schüttelte.

„Deine Beute?“

Farid blieb stumm.

Aus dem Rucksack purzelten verschiedene metallene Gegenstände:

Eine Fahrradklingel, ein kleiner weißer Topf mit blauen Punkten, der als Blumenvase gedient hatte, eine Türklinke und sogar ein Straßenschild.

„Wenn ich nicht Rucksack voll wiederbringe, Vater mich schlagen.“ Farid zog seine Flanellhemdsärmel hoch und zeigte Thorsten die vielen blauen Flecken.

„Das tut mir leid“, meinte er ehrlich, „aber trotzdem geht das nicht in Ordnung. Du kannst nicht einfach irgendwelche Gegenstände entwenden, die dir nicht gehören. Ich werde dich mitnehmen müssen.“

Thorsten hockte sich hin und packte die Sachen zurück in den Rucksack.

Farid wurde immer nervöser, bis er schließlich etwas unternahm. Er schubste Thorsten zur Seite, entriss ihm die Genehmigung und rannte los.

Thorsten rappelte sich auf und zog seine Waffe: „Stehenbleiben oder ich schieße!“

Farid stoppte augenblicklich und hob die Hände.

„Umdrehen!“, befahl Thorsten in barschem Ton. Er handelte instinktiv, ohne nachzudenken.

Langsam drehte sich Farid um. Tränen liefen über sein Gesicht. „Bitte nicht wieder schießen! Soviel geschossen auf Flucht. Und Vater mich immer schlagen.“

Thorsten konnte echte Panik in den Augen des jungen Mannes sehen. War die Waffe wirklich nötig gewesen?

Nach nur einem kurzen Moment steckte er seine Pistole wieder weg und sagte. „Geh, bevor ich es mir anders überlege.“

„Danke, vielen Mals.“ Farid verschwand in der Dunkelheit.

Obwohl Thorsten so laut geschrien hatte, war an keinem der Fenster jemand erschienen. Die Straße war immer noch leer.

Hatte er überreagiert? Hatte er dann das Richtige getan? Ihm kamen immer mehr Zweifel, ob er noch diensttauglich war.

In Gedanken versunken, packte er den Rucksack und warf ihn auf den Beifahrersitz.

Der Funk ging an: „Hier 321. Irgendein Spaßvogel hat die Gefahrenschilder am Hafen bei der Fähre geklaut. Da wäre beinahe ein Auto ins Wasser gefahren.“

Thorsten schaltete den Funk aus und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.