Von Eleni Liaskou

Christina hatte es überraschend eilig, zum Auto zu kommen. »Ich habe die Adresse von diesem Udo. Wir müssen schnell machen, ich gehe mal davon aus, dass sie ihn gewarnt hat. Er ist arbeitslos und aller Wahrscheinlichkeit nach zu Hause. Britta ist mitten in der Uni-Cafeteria in Tränen ausgebrochen – und dann hat sie mir gestanden, dass ihr Udo schon mehrmals mit der Polizei zu tun gehabt hat. Scheint auch irgendwie gewaltbereit zu sein. Sie hat so was angedeutet. Nichts Konkretes, aber es ging so in die Richtung, dass ich glauben sollte, auch gegen sie.

Schachtebeck nickte und stieg ein. Im Auto rief er im Kommissariat bei Martin an. »Check mal einen gewissen Udo Bode, Tischler.« Es dauerte eine Weile, dann kam die Antwort: »Mit fünfzehn Einbruchdiebstahl, Jugendstrafe; Widerstand gegen eine Festnahme, bewaffneter Raubüberfall, danach regulärer Strafvollzug. Dort Tischlerlehre. Seit der Entlassung vor zwei Jahren ein bisschen Drogenverticken, aber sonst nicht auffällig. Zur Zeit arbeitslos.«

Sie klingelten. Nichts tat sich. Schachtebeck klopfte: »Herr Bode?« Unschlüssig standen sie vor der Wohnungstür, da öffnete sich die benachbarte Tür einen Spalt, und ein knittriges Frauengesicht erschien: »Der ist sehr wohl zu Hause, vorhin hat er Musik gehört, bei dem Krach, den man heutzutage Musik nennt.« Wortlos zückte Christina ihren Dienstausweis und hielt ihn der Dame vor.

Schachtebeck klopfte noch einmal, diesmal fester, und rief: »Herr Bode, hier ist die Polizei. Wir wissen, dass Sie da sind!« Wieder kein Laut, dann hörte man ein Geräusch, als würde etwas umfallen. Die Dame schaute interessiert durch ihren Türspalt, der durch eine von diesen Ketten gesichert war. Das Treppenhaus war dunkel und schäbig, aber sonst sauber; und die Wände waren überhaupt nicht mit Graffiti beschmiert, obwohl die gut hierhin gepasst hätten. Die Nachbarin fragte: »Weswegen sind Sie hier?« Christina lächelte so freundlich wie sie nur konnte: »Mord.« Schachtebeck fügte hinzu: »Er ist Zeuge.«

Christina hatte nicht nur deswegen diese Antwort gewählt, um die Nachbarin zu ärgern, sondern vor allem, um ein Gespräch mit ihr anzustoßen. Die erzählte, dass er zwar laute Musik höre und Umgang mit »Verbrechertypen« habe, gern spät nachts mit unangemessener Lautstärke und in zweifelhafter Gesellschaft nach Hause komme, dabei aber sonst wirklich umgänglich sei und regelmäßig das Treppenhaus putze.

Schachtebeck zückte das Telefon: »Ich ruf mal einen Streifenwagen. Hast du eigentlich deine Waffe dabei?«

»Waffe habe ich keine, Streifenwagen find ich gut.«

 

In diesem Moment bemerkte Schachtebeck, dass sich hinter dem Türspion etwas tat. Er versuchte, die Wohnungstür freundlich-beruhigend anzulächeln. Christina lehnte sich indessen an das Treppengeländer. Dann ging überraschend schnell die Tür auf. Udo war gut einen Kopf größer als der eher zarte Schachtebeck, hatte einen kurzen schwarzen Bart; und was an Armen aus seinem T-Shirt herauslugte, war lückenlos tätowiert. In der rechten Hand hielt er einen Baseballschläger, mit der dicken Seite nach unten. Er versuchte ihn nach oben zu bekommen, verhakelte sich aber in den Jacken an der Garderobe. Alles ging unendlich langsam, glaubte Schachtebeck. Er hatte viel, viel Zeit, um sich für eine Reaktion zu entscheiden. Nichts überstürzen. Dann fasste Udo den Schläger mit beiden Händen und hob ihn – für Schachtebeck immer noch wie in Zeitlupe – in die Höhe und rief dabei: »Verpisst euch, Scheißbullen, ihr kriegt mich nicht.« Auf einmal wurde alles wieder schnell. Unglaublich schnell, viel schneller als vorher. Schachtebeck wich dem Schlag aus und drückte sich hilfeheischend in die Nische der Nachbarstür, aber der Spalt hatte sich geschlossen. Er sprang drei Stufen treppauf, fluchtbereit. Jetzt hatte Udo Christina erblickt, die ihrerseits drei Stufen hinunter gestiegen war. Udo zögerte, als würde er überlegen, ob es sich geziemte, eine Frau zu schlagen, dann verschwand er in den Tiefen seiner Wohnung. Schachtebeck stieg ihm nach, mehr aus Interesse als um ihn zu stellen. Der Mann hatte Oberarme, die so dick waren wie Schachtebecks Oberschenkel. Er hörte ein Krachen und dann, wie ein Fenster oder eine Balkontür geöffnet wurde. Schachtebeck war inzwischen im Wohnzimmer angelangt. Die Einrichtung stammte aus den Siebzigern, nur die Death-Metal-Plakate, die auf die grün-orange gemusterte Tapete geklebt waren, passten nicht zu dieser Zeit. Bode stand auf dem Balkon mit einem Bein über der Brüstung. »Verschwinde, Bulle, sonst spring ich vom Balkon.« Bitte sehr, dachte sich Schachtebeck, dann brichst du dir ein Bein, und wir können dich in aller Ruhe vernehmen. Sie hatten das trainiert, talking down hieß das: »Bitte Herr Bode, wir haben doch nur ein paar Fragen.« Er blickte sich im Wohnzimmer um. Alles war blitzblank und ordentlich. Die Aussicht aus dem Fenster war selbst zu dieser Jahreszeit schön. Er versuchte sich von der einigermaßen angenehmen Umgebung anstecken zu lassen, um den Mann zu beruhigen. Er schaute durch die Küchentür und sah einen Berg Geschirr, frisch abgewaschen. »Herr Bode, das ist doch kein Anlass. Setzen Sie sich rein, und dann besprechen wir das Ganze.« Er ging ganz lässig in die Küche, immer noch eher aus Interesse, und bemerkte zu spät, dass sein Fluchtweg nun abgeschnitten war. Die Topflappen waren selbstgehäkelt. Von Udo oder von Britta? Da stürmte Udo vom Balkon, immer noch mit dem Baseballschläger in der Hand, quer durchs Wohnzimmer, aus der Wohnungstür, durchs Treppenhaus (wo war Christina?), und Schachtebeck sprintete ihm nach. Aber er wusste, Christina konnte locker doppelt so schnell laufen wie der Muskelmann, und ging fast gemächlich das Treppenhaus hinunter. Die Nachbarin lugte. Unten angekommen bot sich ihm ein schönes Bild. Der tätowierte Muskelmann lag in den Armen der braven Britta und weinte. Ihr Fahrrad war umgefallen. Britta sah Schachtebeck flehentlich an, Udo war dagegen zu sehr mit Weinen beschäftigt, um ihn wahrzunehmen. Schachtebeck wollte das Bild nicht zerstören und drehte sich um; Christina stand vor der Haustür, etwas blass, aber lächelnd. Die zerzausten Haare standen ihr gut. Udo schaute zu ihr hin, dann zur Straße, wo inzwischen ein Streifenwagen stand, dann wieder zu Schachtebeck. Die beiden Uniformierten stiegen aus. »Beziehungsstress« lächelte Christina. Der eine der uniformierten Kollegen ging auf das Paar zu. »Hat er Sie bedroht?« Der Baseballschläger lag in den Büschen vor dem Hauseingang, unsichtbar für die Besatzung des Streifenwagens. »Auf gar keinen Fall« antwortete Christina. Sie ging auf Bode zu, der inzwischen zu weinen aufgehört hatte.

Sie überließen das junge Paar sich selbst und besprachen, in einigem Abstand zu den beiden Uniformierten, die Lage. Schachtebeck fragte: »Wo warst du, zum Teufel?«

»Nachdem du ihm so heldenhaft nachgestürmt bist, was sollte ich denn anderes als nachkommen?«

»Und als ich im Wohnzimmer war?«

»Seinen Schuhschrank inspiziert. Scheußlicher Geschmack, der junge Mann.«

Die Streifenpolizisten kamen näher. Sie stellten sich vor. Schachtebeck kannte sie nicht. Die beiden waren etwas verwundert, warum die Kriminalpolizei zuerst vor Ort war, sie konnten aber die Lage schnell erklären. Der ältere der beiden nahm die Mütze ab und hielt sie wie ein Lenkrad vor der Brust. »Das ist ein sozialer Brennpunkt hier. Waren Sie in einer gefährlichen Situation?«

Schachtebeck schaute Christina an, Christina schaute zurück. Sie sagte: »Kann man eigentlich nicht sagen.« Schachtebeck nickte. Der Schlag, den Bode gegen ihn ausgeführt hatte, war nicht ernst gemeint, eher angedeutet, und hatte ihm Zeit genug gegeben, um sich wegzuducken. Der Lenkrad-Mann bemerkte: »Dem müssen Sie ja ganz schön Angst eingejagt haben, so wie der rausgerannt kam.« Schachtebeck nickte stolz, aber Christina sagte: »Es war nicht so, wie Sie sich das denken. Er wäre auch ohne uns rausgelaufen.« Sie hatten keine besonders große Lust auf weitergehende Erläuterungen. Der Mann sagte: »Aber wenn Sie den Bericht fertig haben, teilen Sie mir bitte die Vorkommnisse mit. Wir müssen in diesem Viertel hier arbeiten und haben ein Recht darauf zu wissen, was hier alles vor sich geht.«

Schachtebeck sicherte ihnen den Bericht zu und ging zu dem Paar hinüber, das sich inzwischen aus der gegenseitigen Umarmung gelöst hatte. Er winkte Britta zu sich und sagte leise zu ihr: »Hör zu, Mädchen. Fahr nach Hause. Sag ihm, du hättest etwas Wichtiges an der Uni zu erledigen. Du bist nicht auf der Welt, um diesen Mann zu erlösen. Wenn er gegen dich gewalttätig geworden ist, lass mich das wissen, mich persönlich, Schachtebeck, Kriminalkommissariat 1.1 Gewalt. Hier ist meine Karte. Wir werden nichts gegen ihn unternehmen, wenn du JETZT auf dein Fahrrad steigst und davonfährst.« Das war glatte Erpressung, aber wirkungsvoll. Das brave Mädchen küsste den wilden Mann noch einmal und radelte davon. Der verzog sich ins Haus, und Christina und Schachtebeck gingen aufs Auto zu.

»Ludwig, glaubst du, wir haben heute etwas zu einem positiven Gesamtbild der Polizei beigetragen?«

»Machen wir sowieso immer.«

»Nein, im Ernst.«

»Überleg dir lieber, was wir in diesen Bericht schreiben. Ich will dem Tischler nichts reinwürgen, aber die Frau muss man vor ihm schützen.«

»Das ist nicht unser Job. Wir sind keine Sozialarbeiter«

»Die beiden Streifenpolizisten sehr wohl, auch schon bevor es das bescheuerte neue Polizeigesetz gab. Übrigens Gesetz: Dienstzeit ist grade vorbei. Halt mal da an der Tankstelle, ich brauche jetzt einen Korn.«

»Ich muss eh dringend aufs Klo.«