Von Karin Endler

Teures Hotel, luxuriöses Zimmer, es waren ihre Flitterwochen. Sie war nur kurz beim Pool gewesen, er wollte nachkommen, kam aber nicht, sie suchte ihn. Gefunden hatte sie diese nichtssagende Nachricht, ein aus seinem Notizbuch herausgerissener Zettel mit einem Ausdruck des Bedauerns und obenauf thronte sein Ehering. Der Kleiderschank stand offen, ihre Seite war durchwühlt, seine war leer. Die Handtasche lag auf der Couch, der Inhalt auf Tisch und Boden verstreut, Geld und Hausschlüssel waren weg. Sie sah sich schreckensbleich um – ihr Pass, wo war ihr Pass? …

 

Verweint und mit klopfendem Herzen stürzte sie aus dem Hotel, sah sich nach allen Seiten um, konnte sich nicht erinnern, das Zimmer verlassen oder den Lift benutzt zu haben. Dort vorne, der große Mann, der mit langen Schritten den Weg hinunter rannte, das war er! Sie lief ihm nach, wollte seinen Namen rufen, konnte sich in der Aufregung nicht daran erinnern, holt ihn ein, wollte ihn zur Rede stellen, kannte ihn gar nicht. Der Fremde joggte weiter, sie rang nach Atem, die Luft schnitt ihr eisig durch die Kehle…

 

Mit Halsschmerzen saß sie im Behandlungszimmer, wartete auf den Arzt. Er kam herein, er, der schmerzlich Vermisste, der stürmisch Gesuchte. Vor Heiserkeit brachte sie keinen Ton heraus, deutete nur auf ihren Hals. Seine Hand näherte sich mit einem Spatel ihrem Mund, am Ringfinger blitzte es golden auf, er war es nicht, wieder nicht…

 

Sie stürmte durch die Lobby des Hotels. Der Rezeptionist sah sie irritiert an, als sie ihren Schlüssel verlangte. Nein, unter diesem Namen hatte niemand eingecheckt, die Honeymoon-Suite stand schon seit Monaten leer, in keinem der Zimmer war ein Pass gefunden worden. Ihr Blick schweifte Hilfe suchend herum. Dort, an der Hotelbar, der Barkeeper, war er das? Sie lief hin, sprach ihn an, er drehte sich mit einem fremden Gesicht zu ihr um, war es auch nicht…

 

Schweißgebadet erwachte sie aus diesem Alptraum. Ihr Blick fiel auf das Kalenderblatt, auf den Spruch: Gib jedem Tag die Chance, der beste deines Lebens zu sein. Das wollte sie, ja, sie wollte sich von einem derartig blöden Traum nicht den Tag vermiesen lassen. Sie sprang aus dem Bett, machte sich frisch, machte sich schön.

 

Für ein Frühstück war sie schon spät dran, eine Steh-Melange im Café an der Ecke würde reichen müssen. Sie postierte sich an der Theke, der Kellner drehte sich zu ihr, wollte die Bestellung aufnehmen, ihr stockte der Atem. Das war zweifellos der Barkeeper aus dem Traum! Sie stürzte ihren Kaffee viel zu heiß hinunter und wie von einem Geist verfolgt aus der Tür hinaus. Waren Alpträume nicht mit Anbruch des Tages zu Ende?

 

Der vom Kaffee verbrühte Hals hatte den ganzen Tag geschmerzt. Sie blätterte lustlos in einer Illustrierten, während sie im Wartezimmer des von ihrer Kollegin empfohlenen Arztes saß. Die Sprechstundenhilfe forderte sie auf, ins Behandlungszimmer weiter zu gehen. Nichts an dem Raum kam ihr bekannt vor, doch beim Anblick des Mediziners, der hinter seinem Schreibtisch saß, stolperte sie. Das war der Arzt, der sie in ihrem Traum behandelt hatte! Sie ließ die Untersuchung äußerlich ruhig über sich ergehen, während ihre Gedanken Purzelbäume schlugen. Es war gewiss nicht möglich, dass sie von zwei Männern, die sie vorher noch nie gesehen hatte, träumte und sie danach im realen Leben traf, noch dazu in ganz ähnlichen Situationen. Sollte der Traum eine Botschaft für sie enthalten?

 

Mit den verschriebenen Medikamenten kam sie aus der Apotheke, lief dem Bus nach, versäumte ihn. Der laue Abend verführte sie, durch den Park nach Hause zu gehen. Einige Jogger kamen ihr entgegen. Jetzt war sie neugierig geworden. War jener aus ihrem Traum auch dabei? Sie sah in jedes vorbeikeuchende Gesicht, keines kam ihr bekannt vor. Zu Hause hörte sie ihren Anrufbeantworter ab. Ihre beste Freundin hatte sie noch für diesen Abend eingeladen. Und das Kalenderblatt munterte sie mit seinem Spruch auf, dem Tag noch eine Chance zu geben. Der Jogger war nicht aufgetaucht, der Alptraum hatte wohl keine Bedeutung. Was könnte schon geschehen?

 

Sie hatte eine Party erwartet, aber nur ihre Freundin und deren Mann waren hier. Es käme noch jemand, den sie ihr unbedingt vorstellen wollten. Nach einer halben Stunde läutete es an der Tür und sie hörte, wie ein Mann mit gehetzter Stimme seine Verspätung erklärte, er hatte sich verlaufen. Noch keuchend betrat er das Zimmer, wurde ihr vorgestellt, sie hatte ihn längst erkannt – den Jogger aus ihrem Traum!

 

Er war sympathisch. Sie merkte, dass sie sich in seiner Gegenwart wohl fühlte und gerne seinen Erzählungen lauschte. Nach dem Essen bat er die Gastgeber, auf dem Balkon rauchen zu dürfen. Während er sich erhob, kramte er das Zigarettenpäckchen aus seiner Jackentasche, dabei fiel ein Blatt Papier zu Boden, aus einem Notizbuch herausgerissen, dieselbe Schrift, dieselben Worte: I’m sorry!

 

Entsetzt starrte sie auf das Papier. Das Unbehagen der Nacht stellte sich sofort wieder ein. Überstürzt verabschiedete sie sich von ihren Freunden. Dieser Tag hatte definitiv seine Chancen vertan. 

 

Version 2