Von Michael Voß

Sorgsam streute Duvinia den Löschsand über das Pergament und wartete einen Augenblick, bevor sie ihn fortblies. 

Ein letztes Mal überflog sie im Licht des Kerzenleuchters den gerade verfassten Brief: „Liebster! Wenn du diese Zeilen liest, bin ich bereits fort. Ich habe mich wieder meinen Leuten angeschlossen, dem fahrenden Volk der Zingero. Wisse, dass ich dich immer noch so liebe wie an dem Tag, als wir uns hier in Lagorna zum ersten Mal begegnet sind. Aber obgleich du mich auf Händen trägst und alles tust, um mir das Dasein auf dem Weingut zu versüßen, hat mich die Sesshaftigkeit dennoch unglücklich gemacht. Und als ich heute auf dem Marktplatz die Gaukler sah, mit denen ich einst herkam, wusste ich, dass ich keinen Augenblick länger warten darf. Wie gern würde ich dir sagen: Sei nicht traurig. Doch es wird nichts nützen; Du wirst traurig sein, so wie ich es bin. 

Am schwersten fällt es mir zu sagen, dass ich Sajida mitgenommen habe. Doch keine Angst: Unsere Tochter liebt dich sehr und will dich keinesfalls verlieren. Zum Glück machen wir weiterhin in jedem Herbst und Frühjahr zwei Wochen lang Halt in Lagorna. Du wirst sie also zweimal im Jahr wiedersehen. 

 

Wir hatten sieben wunderbare Jahre – dafür danke ich dir von ganzem Herzen.

 

In Liebe,

 

Duvinia“

 

Andächtig zog die Wahrsagerin ihren Ehering vom Finger und legte ihn mitsamt dem gesiegelten Brief auf den Tisch. Dann weckte sie ihr Kind. Zusammen verließen sie das heimelige Häuschen am Fuße des Weinberges nahe der Stadt Lagorna, was so lange ihr Zuhause gewesen war.

 

 

Lagorna, elf Jahre später.

 

Sajida setzte sich auf die Kleidertruhe, zog die Beine an und schlang ihre Arme um die Knöchel: „Mama? Wie war das eigentlich für dich, als du dich von Papa getrennt hast?

Duvinia legte die Kristallkugel zur Seite: „Warum fragst du? Du hast doch alles mitbekommen, seinerzeit.“

„Ich habe es durch die Augen eines Kindes gesehen. Jetzt bin ich eine Frau. Und ich bin verliebt: In einen Gajin, einen Sesshaften, so wie du damals. Nun weiß ich nicht, was ich machen soll. Weil ich Angst habe. Angst, dass es so endet wie bei dir. Daher will ich wissen, wie das war für dich. Vielleicht hilft es mir, mich zu entscheiden.“

Duvinia schüttelte den Kopf: „Wird es nicht.“

„Warum nicht?“

„Du bist über beide Ohren verliebt und zu keinem klaren Gedanken fähig!“

Sajida entgegnete: „Würde ich dann hier sitzen, nachdenken und dich um Rat fragen?“

„Wohl kaum“, räumte ihre Mutter ein. 

„Also?“

Duvinia seufzte: „Dein Vater war und ist ein Caldaner, wie er im Buche steht: impulsiv, leidenschaftlich und ehrversessen. Er liebt sein Land, die Pferde, den Wein, den Tanz und die Musik. Und er liebte mich, die Frau vom fahrenden Volk, eine Zingera. Nun sind unsere Völker miteinander verwandt. Treffen sich ein Zingero und eine Caldani, so sind sie oftmals fasziniert voneinander. Die Gemeinsamkeiten bewirken, dass wir uns gut verstehen und uns zu Hause fühlen in der Gegenwart des anderen. Die kleinen Unterschiede beflügeln mehr, als dass sie stören. Sie beleben und bereichern das Miteinander – es wird nicht langweilig.“

„Trotzdem bist du gegangen. Und hast mich mitgenommen. Warum?“

Nachdenklich blickte die Duvinia ihre Tochter an: „Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten, sieben Jahren auf einem Fleck zu sitzen. Es hat mich krankgemacht. Und natürlich habe ich dich mitgenommen! Schließlich bist du mein Kind und liebst das Wanderleben ebenso wie ich, oder?“

Sajida überlegte: „Nun, am Anfang war es furchtbar – ich war so traurig, als wir gegangen sind. Ich dachte, ich hätte etwas falsch gemacht! Und wie sehr ich Papa vermisst habe! Nachdem ich erst einmal verstanden hatte, dass das nicht meine Schuld war und ich ihn zweimal im Jahr wiedersehe, ging es mir wieder besser. Seitdem freue ich mich jedes Mal, wenn wir in Lagorna Halt machen und ich ihn besuche.“ 

„Da siehst du es: das Nomadenleben ist das Richtige für dich!“

„Willst du mir sagen, ich soll die Finger von Ramon lassen und weiter mit dir und den Gauklern durch die Lande ziehen?“

Duvinia wand sich unbequem: „Nun, ich sollte dir da nicht hineinreden. Ich sehe ja, wie galant dieser Gardist dir den Hof macht und dich zum Strahlen bringt. Aber es ist gerade zwei Wochen her, dass du ihn auf dieser Audienz beim König kennengelernt hast. Und er ist Soldat! Heute hier, morgen im nächsten Feldzug, übermorgen verkrüppelt oder tot. Besser, du vergisst ihn.“

Sajida nickte traurig: „Danke Mama.“

Die junge Wahrsagerin erhob sich und verließ den Ochsenkarren.

Was soll ich nur machen?, dachte sie verzweifelt.

 

Übermorgen würden die Gaukler weiterziehen. Bis dahin musste Sajida eine Entscheidung treffen: Sollte sie hierbleiben, bei Ramon? Oder besser weiterziehen mit ihrer Mutter und ihren Freunden? Ganz gleich, wie ihre Entscheidung ausfiel, es würde sie in jedem Fall zerreißen. Tiefbetrübt lenkte Sajida ihre Schritte zum Flussufer nahe der Stadtmauer und suchte sich einen Platz unter einer Pinie. Ein bunter Schmetterling flatterte vorbei, schimmernde Libellen spielten über dem glitzernden Wasser und am Himmel zog ein Greifvogel seine Kreise. Doch nichts davon nahm Sajida wahr; voller Kummer begann sie leise zu weinen.  

Gras raschelte leise, dann verdunkelte der Schatten des halbelfischen Spähers die Sonne. 

„Darf ich?“, fragte Leif.

Sajida nickte beklommen.

Er setzte sich zu ihr: „Ramon, nicht wahr?“ 

Die Gegenwart des Freundes tat gut, doch der Kummer blieb.

Das Mädchen schluchzte: „Jahaa! Selbst wenn meine Mutter keine Bedenken hätte: Wie soll ich herausfinden, ob er der Richtige ist, wenn ich bei den Gauklern bleibe? Dann sehe ich Ramon nur zweimal im Jahr, nämlich wenn wir in Lagorna Halt machen. Was aber mache ich, wenn ich bei ihm bleibe und es schief geht? Dann stehe ich ganz allein hier! Und es kann schiefgehen, ich brauche nur an meine Eltern denken!“

Der Späher bot ihr sein Schnupftuch an. Dankbar trocknete Sajida sich das tränennasse Gesicht, dann lehnte sie sich an den blonden Halbelfen. 

Plötzlich keimte Hoffnung in ihr auf: „Leif? Du kannst doch zaubern. Würdest du…“

„Es tut mir leid: Ich vermag Wunden zu schließen und beherrsche ein paar Kampfzauber. Zudem ist Magie auch nicht der richtige Weg.“

„Warum?“

„Weil die Lösung in dir ist. Es liegt bei dir, sie zu finden.“

Sajida schniefte: „Ich sehe nur zwei Wege: Der eine macht mir Angst, der andere bricht mir das Herz.“

„Warum vertraust du nicht auf das Schicksal, auf dass es dir den richtigen Weg offenbart?“

„Den richtigen Weg?“

„Du bist das Kind eines Gajin und einer Zingera. Vielleicht kannst genauso gut sesshaft wie auch umherziehend glücklich sein.“

„Ach! Ich habe sowohl der Liebesgöttin als auch dem Gott der Reisenden geopfert und zu ihnen gebetet. Doch bis jetzt ist nichts geschehen, ich drehe mich immerzu nur im Kreis.“

Wieder begann sie zu schluchzen.

Der Halbelf bewegte die Hände und murmelte eine Formel. Einen Flügelschlag lang war Sajida von einem feinen Glitzern umhüllt, dann hörte sie auf zu weinen.

„Was sagt dein Herz, Sajida?“, hörte sie die Stimme des Freundes neben sich.

Mit geschlossenen Augen horchte das Mädchen in sich hinein. 

Als sie den Späher wieder anschaute, war ihre Stimme fest: „Danke.“

Auf dem Rückweg fragte sie: „Ich dachte, du kannst nur Kampfzauber?“

„Es war ja auch einer.“

Fragend schaute Sajida den Halbelfen an.

Leif erklärte: „Ein Zauber zur Abwehr angriffslustiger Kreaturen. Er verwandelt Angst in Besinnung und Wut in Kraft. Die vormals Aufgebrachten gehen dann wieder ihrer Wege.“

Er grinste: „Das letzte Mal habe ich mir damit eine mordlustige Harpyie vom Hals gehalten.“

 

Die letzte Vorstellung war beendet. Lachend und weinend zugleich feierten die Gaukler an diesem Abend den Abschied von Leif und der Tänzerin Isha. Nassan, der Capitano, hatte seine Rede beendet und schnäuzte sich, gerührt und betrübt zugleich. Dann wurden weitere  Fackeln entzündet und die Musik spielte zum Tanz auf.

 

Der neue Tag war heraufgezogen. Nach und nach leerte sich der große Platz, der bis gestern noch das fröhliche, von quirligem Leben erfüllte Lager der Gaukler beherbergt hatte. Zurück blieb eine junge Frau, die in der Mitte der verwaisten Fläche stand und wartete. Der Klang einer fernen Fanfare kündigte die Durchfahrt eines Wagenzugs durch das Stadttor an. Sajida wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, dann schulterte sie entschlossen ihr Bündel und wandte sich zum Gehen. 

Überrascht keuchte sie auf: Vor ihr stand ein Mann in Reisekleidung, einen Packesel an der Leine. Aus haselnussbraunen Augen schaute er sie voller Wärme an.

Sajida stotterte: „Ramon!“

Zärtlich fuhr der junge Gardist mit der Fingerspitze die Kontur von Sajidas Wange nach: „Ich habe meinen Abschied eingereicht.“

Er reichte ihr die Hand: „Komm, bis Mittag haben wir die Gaukler eingeholt.“

Ungläubig fragte Sajida: „Du willst wirklich mitreisen?“

„So ist es. Es heißt, sie suchen jemanden, der den Begleitschutz übernimmt.“

Irritiert fragte Sajida: „Wie kommt es…?

„Ich war neulich bei einer fähigen Wahrsagerin namens Sajida. Damit sie mich nicht erkennt und mich unvoreingenommen berät, hatte ich mich verkleidet. Im Laufe der Konsultation wurde deutlich, dass mich das Soldatendasein auf Dauer nicht glücklich macht und auch, an wessen Seite mein Platz ist.“

Sajida fiel es wie Schuppen von den Augen: „DU warst das! Der Mann, der für sein Glück ein Wagnis eingehen muss und dessen Liebste verzweifelt mit ihrer Angst ringt! Das Paar, welches füreinander bestimmt ist, ohne Mut aber keine Zukunft hat!“ 

Ramon lachte: „Genau der! Du hast uns beiden die Karten gelegt!“

 

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