Von Sarah Klein

Die eisige Luft lässt meine Lungen beinahe bersten. Ich erlaube mir nicht, dem Schmerz nachzugeben. Weiter, immer nur weiter.
Der Ring schmückt lautlos meinen Finger. Durch ihn ist mein Atem länger, meine Muskeln stärker, meine Beine schneller. Ich habe mich zwar zur Soldatin ausbilden lassen, verdanke ihm aber mein Überleben.
Abrupt flüchte ich mich in einen dunklen Verschlag. Bleibe für meine Verfolger unvorhersehbar. Nun rennen sie selbst in die Sackgasse, in der sie mich vermuten. Dank des Ringes kann ich im Dunkeln sehen, dass der Verschlag menschenleer ist.
Decken, Kleidungsstücke und Kinderspielzeug zeigen, dass das nicht immer so war. Eine Menge Verstecke stehen jetzt leer. Man hat ihre Bewohner alle weggebracht.
Mein Ring funkelt still in der Dunkelheit, spürt meine Ergriffenheit. Wenn sie mich erwischen, fallen er und seine Macht in ihre Hände.
Ich riskiere einen Blick nach draußen, sie sind schon längst an mir vorbei, haben das Ende der Straße erreicht und suchen mich wahllos in Müllcontainern.
Glauben sie wirklich, dass ich es ihnen so einfach mache?
Oder machen sie es mir einfach, weil die Welt vielleicht doch nicht so schwarz und weiß ist, wie die Regierung propagiert?
Möglich zwar, aber darauf verlassen darf ich mich nicht. Ich renne weiter, aber mein Vorsprung ist jäh dahin, als Sirenen hinter mir die kalte Luft in Fetzen reißen.
Sie kommen mich holen.
Aber ich bin schneller als sie.
In einem der leerstehenden Gebäude sprinte ich sieben Stockwerke hinauf, dank des Ringes nicht über die Maßen anstrengend.
Das Springen über Häuserschluchten habe ich bis zum Abwinken trainiert: Anlauf, Kraftschub, Absprung, Flugphase, Abrollen. Immer und immer wieder.
Wenn sie mich schon erwischen, dann hoffentlich in der Flugphase.
Wie ein erlegter Vogel abzustürzen, klingt nicht nur wunderschön, sondern auch praktisch: Ich würde spätestens beim Aufprall sterben und wäre sicher vor ihrer Folter.
Über vier, fünf, sechs, sieben Häuserschluchten tanze ich hinweg. Nach der achten zerre ich meine Umgebungskarte aus der Tasche, das Display aktiviert sich trotz einiger Risse.
Meine Position kann ich nur schätzen, aber ich sehe ihre.
Sie suchen in einer anderen Richtung nach mir, dafür aber mit dem kompletten Aufgebot.
Ich bin nicht überrascht, denn die gestohlenen Informationen können eine Revolte starten. Als die Lautstärke der Sirenen abebbt, gönne ich mir einen tiefen Atemzug.
Wieder entwischt.
Wieder überlebt.
Wieder für das Richtige mein Leben riskiert.

 

Erst als zwei Stunden später die Sonne untergegangen ist, erreiche ich unser aktuelles Versteck.
Wir alle betreten es erst, wenn wir uns absolut sicher sind, nicht verfolgt zu werden.
Große Erleichterung überkommt mich, als ich den modrigen Keller erreiche. Zumindest in der kommenden Nacht würde ich Frieden finden.
Es ist still hier, denn die meisten anderen nutzen den Schutz der Dunkelheit. Aber ich bin keine Ratte. John hat wie immer auf mich gewartet, kommt mir entgegen, will etwas sagen.
Bevor er Worte findet, halte ich ihm meine heutige Ausbeute in Form eines Speichermediums unter die Nase. Er nimmt es mir aus der Hand, meinen fragenden Blick ignorierend.
„Wir werden es nicht veröffentlichen.“
Auf diesen Schlag ins Gesicht war ich völlig unvorbereitet.
„Du weißt nicht, was das ist“, versuche ich zunächst, die Fassung zu wahren.
„Das ist jetzt egal. Hunderte Soldaten sind seit einigen Stunden hinter dir her, du stehst ganz oben auf ihrer Liste.“
Der bittere Geschmack in meinem Mund vertreibt die Süße des Erfolgs.
„Das beweist nur, welchen Schaden diese Informationen anrichten können“, würge ich hervor.
Er lässt sich davon nicht ablenken.
„Du bist in Gefahr.“
Ich mag seine Belehrungen nicht.
„In dem Moment, in dem du auf einer Überwachungskamera erfasst wirst oder das Web benutzt, bist du verhaftet. Und damit wir alle. Das darf nicht passieren.“
Ich werde ihm nicht zustimmen, kann ihm aber auch nicht widersprechen.
„Was sollen wir tun?“, will ich wissen.
Er starrt den Chip an wie das Kaninchen die Schlange.
„Wir geben diese Dokumente zurück.“
Ich fühle mich hilfloser als während der Verfolgungsjagd.
Und so müde.
„Vergiss es. Sie erklären in diesen Dokumenten detailliert, wie sie die Demokratie vernichten und beschreiben obendrein ein Virus, das alle Menschen tötet, die nicht ihren genetischen Vorstellungen entsprechen. Das muss an die Öffentlichkeit.“
Ich kann seinen Blick lesen. Noch nicht mal überrascht ist er, schon gar nicht entsetzt.
Er ist noch müder als ich.
„Wenn sie jetzt schon so weit sind, dann ist es zu spät. Wir können nichts mehr tun.“
Schnell genug wendet er sich ab, verwehrt der Verachtung in meinen Augen den Zutritt zu seinen Albträumen.
„Geh schlafen“, bittet er mich, sieht mich nicht an, „im Morgengrauen werden wir fliehen.“
Ich folge ihm, protestierend.
„Und wohin? Selbst die Grenze zu Mexiko ist dicht. Alle wollen sie in Frieden leben, aber niemand will Flüchtlinge, die Frieden suchen.“
Als er nicht reagiert, werde ich laut.
„Wenn wir nichts tun, legitimieren sie sich wieder bei der nächsten Wahl! Knapp 400 Millionen Menschen, regiert von Populisten und Rassisten. Von denen, die einfache Antworten auf alles haben. Willst du so leben?“
Ich kann nur fühlen, dass mein Ring wieder glüht. Er versteht mich besser, als John es tut.
„Wir sind doch nur Journalisten. Ganz normale Menschen. Als könnten wir irgendetwas ändern.“
Dass er so denkt, verstört mich.
Wieso ist er dann hier?
„Jeder, der in Zeiten moralischer Krisen keine Stellung bezieht, wird zum Täter“, erwidere ich, „und jede Veränderung wird von einem ganz normalen Menschen ausgelöst.“
Er ist nicht in der Lage, darauf einzugehen.
„Wenn sie dich finden, dann nicht nur deinen Ring, sondern auch endlich den Vorwand, uns alle zu verhaften. Dann ist nur noch die Staatspropaganda übrig. Willst du es ihnen so einfach machen?“
Wieder enttäuscht er mich.
Aber vielleicht hat er auch einfach nur etwas zu verlieren.
Zu meiner Überraschung bedarf es keiner großartigen Mühe, dem schlafenden John den Mikrochip zu stehlen. Ich schätze, er hat nicht damit gerechnet.
Hat mich nie wirklich gekannt.
Keine unserer Elektronik kann online gehen, hier kann ich in Sicherheit die Dokumente sichten und darüber schreiben.
Das tue ich die ganze Nacht lang.
Dann zerstöre ich alles, was ich benutzt habe.
Verwische meine Spuren.
Und beschränke die Abschiedsnotiz an John auf zwei Wörter und meinen Ring.

 

„… und als im Jahr 2045 der Biowaffenkrieg endlich ein Ende fand, war die weltweite Bevölkerung auf drei Milliarden Menschen dezimiert worden…“
Aya verdrehte genervt die Augen, stieß ihre Freundin an.
„Ich kann es echt nicht mehr hören“, wisperte sie, „wie oft haben wir das schon durchgekaut?“
Sun pflichtete ihr bei.
„Schon tausend Mal. Klar ist das schlimm und so, aber das Hier und Jetzt zählt.“
Einer der Jungs gesellte sich zu ihnen.
„Damals wollten sie es auch nicht mehr hören“, warf er ein, „deshalb, sagt mein Vater, haben wir die Chips.“
Die Leiterin der kleinen Gruppe wurde aufmerksam.
„Jax, möchtest du etwas sagen?“
Der Fünfzehnjährige nickte.
„Mein Vater sagt, dass wir diese Chips bekommen, damit genau so etwas nie wieder passiert.“
Sie nickte dankbar.
„Genau. Deshalb gibt es Museen wie dieses hier. Um zu verstehen, wozu Menschen früher in der Lage waren.“
Eines der anderen Mädchen meldete sich zu Wort.
„Es gab doch hundert Jahre vorher schon einen ähnlichen Fall. Beginnend in Deutschland, hat es sich wie ein Virus ausgebreitet. Wie konnten die Rechten nochmal an die Macht kommen?“, wollte sie wissen.
Die Pädagogin dachte kurz nach. „Das können wir zwar heute kaum noch begreifen, aber damals war die Technologie noch lange nicht soweit. Dass alle Vierzehnjährigen einen Mikrochip in den Kopf bekommen, der rechtes und populistisches Gedankengut unterdrückt und kriminelle Handlungen verhindert, war damals bestenfalls eine Horrorvision, weil es die Meinungsfreiheit einschränkt.“
Erstaunen flutete den Raum.
„Die wollten Freiheit, um anderen die Freiheit zu nehmen?“
Gemurmel brach aus.
„Das hast du sehr gut auf den Punkt gebracht“, lobte die Lehrerin, „ihr wart diesem Gedankengut nie ausgesetzt, weil seit Jahren kein Erwachsener neurophysiologisch zu solchen Gedanken in der Lage ist.
Heute wissen wir, dass die Anfälligkeit für diese Ideologie ein Schutzmechanismus war, die Erde und benachbarte Planeten vor menschlicher Überbevölkerung zu bewahren.
Weil aber unsere Chips auch die Fortpflanzung einschränken, brauchen wir diesen Mechanismus nicht mehr.“
Sie deutete auf einen der Schaukästen.
„Der Raum hier ist der freien Presse gewidmet, die bis heute eine Schlüsselrolle in der Gesellschaft spielt.“
Unter einer Laserhülle lag ein unauffälliger Ring. Unmittelbar über dem Kasten materialisierte ein Hologramm, welches eine junge, sehr entschlossen wirkende Frau zeigte.
„Das ist der Ring der Journalistin Alexis“, ertönte die Erklärung.
„Sie hat der rechten Regierung Informationen gestohlen, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
So wurden die Ziele der Regierung der Zivilbevölkerung bekannt. Ihr letzter Diebstahl fand im Jahr 2037 statt“, führte die Stimme weiter aus, „woraufhin nach ihr gefahndet wurde.
Die Ringe, zunächst das Erkennungszeichen der Journalisten, verliehen angeblich außergewöhnliche körperliche Fähigkeiten.
Heute weiß man, dass es allein ihr Glaube daran war. Um die anderen Journalisten vermeintlich zu schützen, ließ Alexis ihren Ring zurück.
Nachdem sie die Dokumente veröffentlicht hatte, wurde sie sekundenschnell geortet. Auf der kurzen Flucht erschoss sie sich selbst.
Die Dokumente waren lange genug online, um die Bevölkerung zu alarmieren und diese Veröffentlichung reihte sich in eine Kette von Ereignissen ein, die letztendlich den Systemsturz auslösten.
Alexis‘ Glaube daran, dass sie etwas verändern kann, hat das ermöglicht, auch wenn er sie letztendlich das Leben gekostet hat.“