Von Jochen Ruscheweyh

Christoph goss sich Kaffee ein, den ersten seit Monaten.

Der Bohnensud schmeckte bitter und stark und brannte auf seinen Lippen, die vom vielen Kneten spröde und rissig geworden waren.

 

Ich kann dich nicht verstehen, wenn du ständig deine Hand vor dem Mund hältst.  

 

Nein, verstanden hatte Hartmut ihn nie.

Das war ein Problem.

Gewesen.

 

Oder vielmehr, dass Christoph es nicht über sich brachte, Hartmut dies konkret zu sagen.

 

 

 

Es hatte vorsichtige Versuche gegeben.

Momente, in denen Christoph aus der ihm zugewiesenen Rolle ausgebrochen war.

Situationen, die Hartmut meist als männliches PMS oder Prinzessinnengehabe abgetan hatte.

 

Hartmut, das Aggregat ihrer Beziehung.

Ein Vielstoffmotor, der ständig lief, Pläne machte, für sie beide dachte, den man hier starten und in Mailand ausmachen konnte, der niemals heiß lief und auch am nächsten Tag noch zuverlässig startete.

 

Welche Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Hartmut wegen einer verpassten Inspektion liegen blieb.

 

Als der Mensch, der er war und auch sicherlich immer sein würde, besaß Hartmut Servicekarten diverser Automobil-Clubs.

Club Nr.2 schickte einen Engel, der in jeglicher Beziehung himmlisch zu sein schien und zusätzlich einen dieser handwerksgegerbten und maskulinen Körper besaß, zu denen Hartmut schon immer gerne hingeschaut hatte.

Den Rest hatte Christoph nicht mehr gelesen.

 

 

Sorry.

 

Sorry wofür?

 

Dass Hartmut ihre Beziehung mit einer unpersönlichen Notiz auf einem Schmierzettel beendet und den gemeinsamen Ring symbolisch gleich mit dazu gelegt hatte?

 

 

Christoph erhob sich und genoss das Gefühl, dass der Kaffee weder an seiner Magenschleimhaut zwickte, noch ein Sodbrennen in der Kehle hinterließ, sondern einfach nichts bewirkte.

 

Ich verstehe nicht, wie du an nichts denken kannst. Mir geht immer etwas durch den Kopf.

 

Hartmut, der Tüftler, das Brain, der Intellektuelle, dessen Verstand nie zu ruhen schien. Der zum Spaß – war es wirklich Spaß? – einmal behauptet hatte, er läge vor allem deswegen keine Denkpausen ein, weil sich sonst keine neuen Synapsen in seinem Hirn bilden würden.

 

Christoph dachte hauptsächlich mit dem Bauch.

Was letzterer mit chronischen Magenschmerzen quittiert hatte.

Zuletzt.

 

Hartmut hatte Christoph abgenommen, zu sagen, zu tun, zu lassen, wozu er, Christoph nicht fähig gewesen war.

 

Also, warum sorry?

 

 

 

Auf dem Weg ins Bad musste Christoph – anders als sonst – nicht aufstoßen.

Er machte Licht, stellte sich so gerade, aufrecht und überzeugend, wie er konnte, vor den Spiegel und sprach aus, was sich tief in seinem Magen festgesetzt hatte:

 

„Ich bin nicht schwul.“

 

Anschließend ging er in sein Wohnzimmer, öffnete das Fenster zur Straße, schloss die Augen und wiederholte noch einmal gegen den Lärm der B 253: „Ich bin nicht schwul.“

 

 

Während er Sabines Nummer wählte, überlegte Christoph, ob das, was er gerade durchgemacht hatte, möglicherweise ein Coming in war.

Er musste lächeln, da ihm die Vorstellung so absurd vorkam.

 

 

„Bleib, wo du bist, ich komme sofort vorbei.“

 

,Wo sollte ich auch hingehen?’, überlegte Christoph, während er neuen Kaffee aufsetzte.

Er hatte schließlich nicht vor, sich einen Baum oder eine Brücke zu suchen, eher das Gegenteil, etwas Lebensbejahendes.

Das Gartencenter.

Er könnte eine Pflanze kaufen.

Sabine würde verstehen, würde zuhören, so wie er seit Jahren ihre Probleme mit ihr durchging.

Er hatte sie kurz aufschluchzen gehört, als er ihr erklärt hatte, ihm sei klar geworden, dass er nicht / nachdem Hartmut ihn / und die Magenschmerzen wären nun / und dass alles jetzt.

An den genauen Wortlaut erinnerte er sich nicht mehr.

,Wie glücklich ich mich schätzen kann’, dachte Christoph, ,dass Sabine heute mal mich auffängt.’

Obwohl er sich nicht sicher war, ob er überhaupt aufgefangen werden musste.

 

Die zweite Kanne Kaffee kam ihm stärker vor, obwohl er nicht mehr Löffel als bei der ersten genommen hatte.

Vielleicht würde er sich eine Palme zulegen, irgendetwas, das pflegeleicht war und zu seiner Einrichtung passte.

Besser gesagt, der Einrichtung, die Hartmut ausgesucht und in der er bis jetzt gelebt hatte.

Einem spontanen Impuls folgend schob er alle Möbel seines Wohnzimmers in die hintere rechte Ecke und platzierte die Couch unter dem Dachfenster.

Und vielleicht würde er endlich den Führerschein machen.

 

„Wieso hast du nie …?“

„Komm doch erstmal rein“, empfing er Sabine an der Tür, die seine Hand ergriff und ihn ins Wohnzimmer zog.

„Ich habe etwas umgeräumt, was sagst du dazu?“

„Scccchhhhht!“, legte sie ihren Finger auf seinen Mund. „Wieso hast du nie …?“, wiederholte sie, bevor sie ihn zu küssen begann, und er realisierte, dass gerade etwas gehörig falsch lief / sie etwas vollkommen missverstanden / und dann noch die Möbel.

Ja, die verdammten Möbel / hätte er sie doch an ihrem Platz / dann hätte sie vielleicht nicht angenommen, dass er ihr Raum einräumte / dachte sein sich mit Batteriesäure füllender Magen, während seine Unterlippe unter ihren Neckungen und Bissen aufplatzte wie ein poröser Autoreifen.

Er durfte sich nicht von Sabine / wie von Harmut / wie von / durfte sich nicht / überfahren lassen.

Langsam löste er sich von ihr.

 

„Sabine, dass ich nicht mehr mit Hartmut zusammen bin und dass ich jetzt weiß, dass ich nicht schwul bin, heißt nicht …“

 

Als sein Blick ihren traf und er mehr als nur den Anflug von Enttäuschung in ihren Augen zu erkennen glaubte, wurde ihm klar, dass er niemals frei sein würde, und dass die Hürde, für sich selbst und seine eigenen Wünsche einzustehen, so unüberwindbar war, dass er es nicht versuchen würde.

„ … heißt nicht, dass ich mir nicht schon die ganze Zeit über gewünscht hätte, mit dir … zusammen zu sein.“