Von Franck Sezelli

Karin wandte sich an ihren Sohn, der nach dem Wochenendbesuch die Sachen zusammenpackte.

»Alex, wenn du wieder in Frankfurt bist, denk bitte daran, Tantchen zu besuchen. Hier habe ich dir die Adresse aufgeschrieben. Das ist ein langes Gebäude mit mehreren Aufgängen, der richtige ist Aufgang B, steht mit auf dem Zettel. Wir waren ja nur einmal bei ihr, das ist nun schon viele Jahre her. Das Appartement ist leicht zu finden. Wenn du das Treppenhaus hochkommst, im zweiten Stock, nach links gehen. Da kommst du in einen Gang, einfach die sechste Tür, das ist die Wohnung deiner Großtante. Sei bitte rücksichtsvoll und höflich zu ihr. Sie wollte dich unbedingt wiedersehen, jetzt, wo du erwachsen bist.«

»Na klar, mache ich. Wenn ich die Zeit gefunden habe, sie zu besuchen, gebe ich per WhatsApp Bescheid. Da kannst du sie telefonisch noch darauf vorbereiten, das ist mir lieber.«

Karin drückte ihren Sohn noch einmal liebevoll, bevor dieser wieder für Wochen aus ihrem Leben verschwand.

*

Der Studienbeginn von Alex brachte viele Veränderungen. Vor allem der Mutter fiel die dauerhafte Trennung von ihrem Kleinen schwer. Sie fühlte sich jetzt manchmal etwas einsam, zumal ihr Mann Erhard arbeitsbedingt oft nicht zu Hause war. Umso mehr konnte sie sich in Tante Lisbeth hineinversetzen, eine Schwester ihres verstorbenen Vaters. Sie kannte sie immer nur als »Tantchen«. Tantchen wohnte weit weg von ihnen, sodass Besuche sehr selten waren. Alex hatte sie nur als kleinen Jungen kennengelernt. Das war, so glaubte sich Karin erinnern zu können, zur Feier des 70. Geburtstages ihres seligen Vaters gewesen. Und nun kam Tantchen gar nicht mehr heraus, ihre Beine machten nicht mehr richtig mit. Seitdem telefonierten sie öfters miteinander. Als sie hörte, dass ihr Großneffe in ihrer Heimatstadt angefangen hatte zu studieren, lag sie Karin in den Ohren, er möge sie mal besuchen kommen.

*

Alex fühlte sich wohl in seinem neuen Lebensabschnitt, obwohl ihn das Studium voll forderte. Über seinem Studienalltag hatte er Tantchen und das Versprechen, das er seiner Mutter gegeben hatte, fast völlig vergessen. Ehrlich gesagt, reizte ihn der Besuch auch nicht gerade. Eine Erinnerung an Großtante Lisbeth hatte er nicht mehr, er kannte sie nur aus den Erzählungen von Opa und Oma, die beide leider schon gestorben waren, und denen seiner Mutter.  Wenn er sich richtig erinnerte, war sie wohl ziemlich krank.

Es gab eigentlich nichts, was einen jungen Mann dazu bringen könnte, sie einfach mal so zu besuchen. Aber er hatte es versprochen! In letzter Zeit fragte Mama sogar immer drängender nach. Er verwies zwar stets auf den vollen Terminplan, lange konnte er Mutter aber nicht mehr hinhalten.

Also schaute Alex in den Kalender und suchte einen Nachmittag der nächsten Woche für den Besuch aus. Mit einer Nachricht an seine Eltern legte er sich gewissermaßen unausweichlich fest.

*

Nun stand der junge Student vor dem Eingang zum Appartementhaus. Es machte einen nicht luxuriösen, aber soliden Eindruck. Die Tür war nicht verschlossen, sodass Alex sogleich die Treppen hinaufsteigen konnte. Auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock angekommen, öffnete er die Tür zu den Gängen, die rechts und links abgingen. Er entfernte das Papier vom Blumenstrauß, den er auf den Rat seiner Mutter hin gekauft hatte, wandte sich nach links und sah eine lange Reihe von Türen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs: Das musste sie sein. Mit klopfendem Herzen betätigte er die Klingel neben der Tür. Ein Namensschild gab es nicht, nur eine nichtssagende Nummer. Es dauerte eine Weile, ehe Alex Schritte hinter der Tür hörte. Er erwartete, sogleich einer alten, vielleicht buckligen, kleinen Frau gegenüberzustehen – jedenfalls hatte er sich Tantchen immer so vorgestellt.

Aber als sich die Tür öffnete, erblickte er eine hochgewachsene, attraktive Blondine. Sie mochte wohl Ende Zwanzig sein und trug ein schwarzes Negligé, das ihre prallen Brüste keineswegs verbarg. Mit einem Lächeln machte sie eine einladende Bewegung und rief erfreut aus: »Da bist du ja, mein Junge! Ich dachte zwar, dass du erst später kommst, aber es ist mir recht. Komm herein!«

Ich habe mir Tantchen völlig anders vorgestellt, dachte Alex. Was haben meine Eltern mir da erzählt? Das soll eine Schwester meines Opas sein? Wenn, dann vielleicht eine viel jüngere Halbschwester aus einer späteren Beziehung meines Urgroßvaters.

Verwirrt folgte der junge Mann der halbnackten Frau in das Wohnzimmer.

»Du hast es aber sehr schön hier, Tante!«, stammelte Alex höflich. »Darf ich dir diese Blumen überreichen?«

»So schöne Blumen! Danke sehr, das bin ich von meinen Besuchern gar nicht gewöhnt. Da hast du etwas gut bei mir, mein Jungchen!«

Alex starrte auf die Brüste, deren dunkelrote Spitzen durch den hauchdünnen Stoff des Negligés verführerisch leuchteten.

»Gefällt dir, was du siehst?«, fragte die aufreizende Blondine, woraufhin Alex errötete.

»Ich soll dir beste Grüße meiner Mutter ausrichten«, lenkte der eingeschüchterte junge Mann ab.

»Von deiner Mutter? Du meinst sicher deinen Vater, der dich mir ans Herz gelegt hat? Genieße nur ruhig deinen Besuch hier, es ist alles geregelt.«

»Geregelt, Tante? Was meinst du? Du meinst, meine Mutter hat mich angekündigt?«

»Für dich ist das egal wer, Vater oder Mutter. Ich werde es dir schön machen. Aber warum sagst du immer Tante? Sag doch einfach Lilli zu mir!«

Lilli ist sicher der Kosename von Lisbeth und passt zu der jungen Frau auch viel besser. »Gern, Lilli!«, antwortete Alex brav. »Meine Mutter hat gemeint, du kommst gar nicht mehr raus. So sieht das gar nicht aus.«

»Na ja, meine Besuche empfange ich schon gern hier im Appartement. Darf ich dir ein Glas Champagner anbieten?«

»Champagner, Tantchen? Äh, Lilli! Gern, wenn du mittrinkst.«

Lilli stand auf, um die Flasche und Gläser zu holen. Sie schwenkte beim Gehen aufreizend die Hüften. Als sie sich am Schrank bückte, um die Gläser herauszuholen, hatte Alex einen erregenden Blick auf den wohlgeformten Po und zwischen die Beine der Lady. Das Höschen zeigte mehr als es verdeckte. Dafür wurde nun die Hose des jungen Mannes recht eng.

»Ich freue mich, wenn du dich bei mir wohlfühlst«, stellte Lilli nach einem wissenden Seitenblick auf die Beule fest.

»Lass uns auf unser Zusammentreffen und die Lebensfreude anstoßen!« Die junge Frau schenkte ein und prostete ihrem Gast zu. Nach den ersten Schlückchen ergriff sie Alex‘ Hand und sagte zu ihm: »Nimm dir dein Glas, wir können es uns noch gemütlicher machen.«

Dann zog sie den immer noch etwas überraschten Jüngling ins Nachbarzimmer. Hier empfing die beiden ein breites Bett mit roten Laken und weichen Kissen. Die Jalousien an den Fenstern waren heruntergelassen, es herrschte gedämpftes Licht. Lilli nahm Alex das Glas ab und stellte es mit ihrem auf das kleine Tischchen neben dem Bett. Dann legte sie sich rücklings auf das Laken, öffnete das Negligé, sodass nur noch das durchsichtige Höschen einen winzigen Teil ihres makellosen Körpers bedeckte. Sie stützte sich auf die Ellenbogen und lächelte Alex auffordernd an. »Na, komm, mein Jungchen, komm zu mir, du süße Sahneschnitte. Oder hast du etwa Angst?«

Auf einmal schien Alex alles zu begreifen. Aber warum nur haben sich seine Eltern so etwas einfallen lassen? Er hatte keine Zeit, darüber nachzugrübeln, denn die verführerische Blondine lockte schon wieder: »Du willst das doch auch? Oder bist du etwa kein richtiger Mann?«

Das wollte sich Alex auf keinen Fall nachsagen lassen!

*

In der Folge wusste der Student nicht so recht, wie er sich seinen Eltern gegenüber verhalten sollte. Es war ihm einfach nur peinlich, er verstand überhaupt nicht, was da in seinen Vater oder auch beide Eltern gefahren war. Was hatten sie sich dabei nur gedacht? Er kam sich total übertölpelt vor.

Seine Mutter erkundigte sich immer mal wieder nach dem Besuch bei Tantchen, aber Alex wich ihr zunächst aus. Bis es ihm zuviel wurde und er eine empörte Nachricht per WhatsApp an sie schrieb. Sie reagierte allerdings nicht darauf. Seinen Vater konnte er auf diese Weise sowieso nicht erreichen, er lehnte dies als moderne Kinderei ab.

*

Einige Wochen später kam Alex zum lange geplanten Besuch bei seinen Eltern an, die aber noch unterwegs beim Einkauf waren. In der Küche fand er einen Zettel mit Vaters Handschrift: »I’m sorry!«

Na endlich!, dachte sich Alex, hat er eingesehen, dass so etwas gar nicht geht.

Nach der Rückkehr der Eltern stellte Alex seine Mutter zur Rede. Etwas vorwurfsvoll platzte er heraus: »Warum habt ihr das gemacht? Wir leben doch nicht mehr im 18. Jahrhundert oder früher, wo eine derartige Initiation vielleicht in Adelsfamilien für den Sohn des Hauses gang und gäbe war.«  Alex redete sich in Rage: »Habt ihr das organisiert, weil ihr denkt, ich bin vom anderen Ufer? Wolltet ihr das testen?«

»Wie? Ich verstehe dich nicht, mein Junge! Was hat Tantchen dir denn erzählt?«

»Erzählt? Sie hat nicht viel erzählt, sondern mit mir nur das gemacht, was Vater bestellt und bezahlt hat. Was denn sonst? Es war schön, aber ich habe es doch nicht nötig, mich von euch in dieser Beziehung versorgen zu lassen.«

Karin verstand noch immer nichts. Es dauerte ziemlich lange und bedurfte genauerer Ausführungen ihres Sohnes, bevor es ihr dämmerte, bei wem Alex gelandet war.

»Um Gottes Willen! Das ist ein furchtbares Missverständnis und zusätzlich sicher ein dummer Zufall, dass diese Dame gerade einen jungen Mann erwartete. Damit habe ich und auch Vater nichts zu tun!«

»Und der Entschuldigungszettel von Papa?«

»Ach, der war für mich. Wir hatten uns ein bisschen gestritten.«

Ratlos schaute sie ihren Alex an. Sie standen beide in der Küche bei der Vorbereitung des Abendbrotes.

»Bist du nicht den linken Gang lang gegangen, die sechste Tür?«

Dabei zeigte Karin in Richtung des Fensters.

»Mama, natürlich bin ich links entlang gegangen und habe auch richtig gezählt! Aber du hast jetzt rechts gezeigt! Bestimmt meintest du das andere Links?«

 

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