Von Raina Bodyk
„Neeeiin!“ Achim fährt schreiend im nassgeschwitzten Bett hoch. Panisch versucht er, die Dunkelheit des Schlafzimmers zu durchdringen. Gottseidank, es ist nicht die winzige Zelle mit nichts als der harten Pritsche, dem wackeligen Stuhl und dem kleinen Tisch. Seit seiner missglückten Republikflucht vor sechs Jahren suchen ihn immer wieder diese grausamen Erinnerungen heim. Tag und Nacht, aus heiterem Himmel. Sein Gehirn hat sie in Messerschärfe gespeichert. Erschreckende Szenen von brutalen Dauerverhören, beängstigenden Drohungen, quälendem Schlafentzug, von Hunger, Kälte, psychischer Folter rollen vor seinem inneren Auge ab.
Seine Frau ist von dem Lärm aufgewacht und drückt ihn beruhigend an sich. Aber im Moment kann er diese Nähe nicht verkraften. Innerlich fühlt er andere Arme um sich, uniformierte, muskelharte, die ihm die Luft abdrücken. Er stößt Mona weg. Weiß, dass er sie damit verletzt. Aber wie soll er ihr begreiflich machen, was er fühlt?
Beim Frühstück versucht er, sich zu entschuldigen: „Es tut mir leid, dass ich dich schon wieder in deinem Schlaf gestört habe. Soll ich nicht doch auf dem Sofa schlafen, damit du wenigstens deine Ruhe hast?““
„Ach, lass. Ich komme mit was anderem nicht klar: dass du damals einfach abgehauen bist. Mich hast du bedenkenlos zurückgelassen – ohne ein einziges Wort! Du bist an der Grenze fast erschossen worden! Die Stasi hat mich wochenlang in Untersuchungshaft gesteckt und pausenlos verhört.“
„Mona, nicht schon wieder! Das habe ich dir doch schon tausendmal erklärt.“
„Aber ich versteh’s nicht!“
„Wir beide wollten doch Kinder. Sollten sie dazu erzogen werden, alles kritiklos hinzunehmen, auf jedes Wort, das sie äußern, aufzupassen, stramm zu stehen, nur parteigenehme Musik zu hören? Nie verreisen können, ewig und einen Tag auf ein Auto warten müssen? Ich wollte dich doch auch gleich mit westlicher Hilfe nachholen. Ich hatte mir alles ganz genau überlegt und habe dir nur nichts gesagt, um dich nicht in Gefahr zu bringen.“
„Dir muss doch klar gewesen sein, dass sie zuerst zu deiner Frau kommen würden.“
Vorwurfsvoll fügt sie hinzu: „Jetzt leben wir in der Freiheit und was habe ich davon? Kinder jedenfalls nicht, da du dich ja anscheinend zum Mönch gewandelt hast.“
„Jemand muss der Staatssicherheit was gesteckt haben. Es war alles so gut geplant. Wenn ich je herauskriege, wer mich verraten hat …
Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie es in Bautzen war? Die sadistischen Wärter, die uns mit wahrer Freude gequält haben? Monatelange Isolationshaft, wo du mit dem Kopf zur Wand stehen musstest und zu Boden blicken, wenn ein Wärter eintrat? Wenn du in den Kältekarzer gesteckt wurdest, wo du über Stunden in knöchelhohem, eiskaltem Wasser stehen musstest? Einer, den wir nur den Schlächter nannten, hatte eine Schwäche für die chinesische Wasserfolter. Ganz was Feines! Stundenlang wird dir dabei kaltes Wasser auf den rasierten Schädel getröpfelt. Erst lachst du über die paar Tropfen, dann – irgendwann – brüllst du, weil deine Nerven vor Schmerzen beben. Du gibst jeden Widerstand auf und redest. Über deine Freunde, Lehrer, Kollegen, Verwandte. Was du nicht weißt, erfindest du, nur damit es aufhört.“
„Ach, Achim. Es tut mir wirklich alles sehr leid, was dir angetan wurde. Aber mir ging es auch nicht gut. Du musst doch irgendwann mal damit fertigwerden und nach vorn schauen! Die Mauer ist weg, wir sind frei, jetzt könnte es uns gut gehen.“ Mona klingt tief verzweifelt.
„Das Problem ist, dass in mir drin alles noch da ist: der Grenzzaun, die Grausamkeiten, die Spitzel überall, die Angst. Es will einfach nicht verschwinden!“
***
Mona fragt sich nicht zum ersten Mal, ob sie gefühllos oder kaltherzig ist. Sie kann diese Geschichten nicht mehr hören! Kann er sich nicht zusammenreißen, ab und an mal was mit ihr unternehmen, einfach mal lachen?
Wenn nur das Telefon klingelt, zuckt er schon zusammen. Die geringste Kleinigkeit kann bei ihm traumatische Erinnerungen auslösen. Depressionen, Panikanfälle, Zittern. Überall wittert er Bespitzelung und Verfolgung. Er zieht sich immer mehr zurück, ist so schnell reizbar und immer rastlos. Seine Aggressivität ist jederzeit bereit zu explodieren. Manchmal hat sie Angst vor ihm.
Als er nach vier Jahren aus dem Stasi-Knast entlassen wurde, war er ein zerstörtes Wrack. Er hat ihr so leidgetan. Aber ihr schien es, als wollte er sich nicht helfen lassen. Psychologen und Ärzte haben hilflos die Waffen gestreckt.
Hätte sie in dieser Zeit nicht Werner, den besten Freund ihres Mannes, als Stütze gehabt, hätte sie sich nicht jederzeit bei ihm ausweinen können, hätte sie nicht bis heute durchgehalten.
„Hallo, Schatz!“ Werner rückt den Stuhl auf der Caféterrasse für die dunkelblonde Frau, die ein bisschen wie auf der Flucht wirkt, zurecht.
„Ist Achim wieder ausgerastet?“
„Nein, nur halte ich das alles einfach nicht mehr aus“, schluchzt Mona. „Wie lange soll das denn noch so weitergehen? Ich will leben! Aber ich kann ihn doch jetzt nicht in Stich lassen, so wie es ihm geht. Dann noch das mit uns … Ich fühle mich so schuldig. Er darf es nicht erfahren!“
„Aber du nimmst ihm doch damit nichts weg. Er sieht dich doch gar nicht mehr.“
„Er ist krank!“
Werner seufzt leise. Klar: Achim ist krank und Mona kann ihn nicht verlassen … Das ist so unfair!
Schon seit ihrer gemeinsamen Schulzeit ist sie seine große Liebe. Bis Achim kam und sie ihm wegschnappte. Nur um weiter in ihrer Nähe sein zu können, machte er gute Miene zum bösen Spiel, spielte sogar den Trauzeugen.
Die ganzen letzten Jahre hat er sich um sie gekümmert, sie gestützt und getröstet.
Hat er nicht verdient, mit ihr glücklich sein zu dürfen, ohne den Ehemann als Dritten im Bunde?
Achim wollte sie doch gar nicht mehr. Der tat ihm zwar leid, aber immer und immer die gleichen Leidensgeschichten! Musste er sich dauernd als ach so armes Opfer hochstilisieren? Er war es so satt!
***
Achim sitzt im Park und füttert die gefräßigen Enten. Ihnen zuzuschauen, ihrem ständigen Geschnatter zu lauschen, beruhigt ihn.
Mona ist sicher wieder bei seinem ‚besten Freund‘. Er hat nach der Entlassung schnell gemerkt, dass zwischen den beiden was läuft. Es ist ihm egal. Er weiß selbst, dass die Jahre im Knast ihn verändert haben. Hätte er nicht solche Schuldgefühle, weil er sie damals heimlich verlassen hat, wäre er schon längst verschwunden. Ihm hat sie viele infame Verhöre zu verdanken. Fast hätte sie sogar ihren Job verloren.
Vor drei Monaten hat er einen Antrag auf Einsicht in seine Stasi-Akten gestellt. Fast zwanghaft stellt er sich immer die gleiche Frage nach dem Verräter. Manchmal zweifelt er sogar an seiner Frau. Wollte sie frei sein für Werner? Achim weiß, dass sein Freund – Ex-Freund – damals in Mona verliebt war. Doch sie hat ihn vorgezogen. Er ist Werner sehr dankbar gewesen, dass darüber nicht die Freundschaft zerbrach. Er wurde sogar ihr Trauzeuge. Aber wie war das später? Hat sein Kumpel den Weg für sich frei machen wollen?
Haben ihn Familienmitglieder, Nachbarn oder Kollegen bespitzelt?
***
Endlich hält er den ersehnten Brief vom Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen in den Händen.
Nur ein einzelnes kopiertes Blatt. Fast ist er enttäuscht, hat er doch gehört, dass es Akten geben soll mit hunderten und mehr Seiten. Andererseits scheint ihm der geringe Umfang ein gutes Zeichen zu sein. Falls die Behörde alles geschickt hat …
Berlin, 29. September 1992
Betr.: Verhinderung der Republikflucht des Achim Franck, geb. am 14. Mai 1957
Ende März 1986 erhielt die Abteilung III der Bezirksverwaltung Berlin-Mitte durch IM Käfer Hinweise, dass der A. Franck am 10. oder 11. April 1986 illegal die Republik verlassen will. Grenztruppe wurde informiert.
Achim atmet ganz tief durch. Seine Hände zittern unkontrolliert. Endlich Gewissheit!
IM Käfer – haben sie früher Werner nicht immer mit seiner Sammlung von aufgespießten Insekten aufgezogen? Ein Beweis ist das nicht, aber ein tiefinneres Gefühl sagt ihm, dass er recht hat. Er weiß es einfach und verschwendet keinen weiteren Gedanken an die Identität des Denunzianten.
Mona betritt das Zimmer und starrt neugierig auf den offiziell aussehenden Brief.
Achim ist so versunken in seine Gedanken, dass er beim Knarren der Tür wie aus einer Trance erwacht. Begreift erst jetzt richtig die Bedeutung der Nachricht.
Und dann kommt er, der alles hinwegfegende Zorn, der so lange in ihm geglüht hat, ihn fast verzehrt hat. Unbeherrscht schreit er seiner Frau entgegen: „Hast du das gewusst?“
Sie blickt in seine grimmigen Augen, vernimmt den barschen Anklageton und versteht sofort, ohne den geringsten Zweifel, wovon er spricht. Unbewusst hat sie längst darauf gewartet.
„N-nein! Geahnt vielleicht … Ich weiß nicht … Ich wollte es nicht wissen.“
***
Nach seinem beängstigenden Ausbruch, in dem Achim seine erste, unbeherrschte Empörung herausgeschrien hat, wird es seltsam still in ihm. Merkwürdigerweise fühlt er sich erleichtert.
Zeitweilig hat er fast jeden aus seinem Umfeld in Verdacht gehabt. Jetzt fällt ihm ein Stein vom Herzen, dass weder seine Frau noch seine Familie ihn denunziert oder sich auch nur verplappert haben.
Sein glühender Hass, der ihn jahrelang buchstäblich am Leben gehalten hat, schwindet.
Endlich weiß er auch, dass er sich wegen Mona nicht mehr schuldig fühlen muss. Sie und ihr verräterischer Liebhaber sollen miteinander glücklich werden. Sie hat geahnt oder gewusst, wer ihn ins Unglück gestürzt hat, und sich trotzdem von diesem trösten lassen. Sie haben einander verdient!
***
Ein mit Bleistift bekritzelter Zettel auf dem Küchentisch wird das letzte, was Achim mit seinem alten Leben verbindet:
Mona, ich gehe. Ich will endlich frei sein, kein schlechtes Gewissen mehr haben. Es tut mir leid. Leb wohl.
Leise schließt er die Haustür und geht – anfangs noch mit zögerlichen Schritten, dann weiter ausholend und bestimmt. Mit seiner Frau und seinem ‚Freund‘ lässt er endlich ein Stück seiner belasteten Vergangenheit zurück. Vielleicht gibt es doch noch eine Zukunft für ihn …?