Von Sebastian Kluge

Deine schwachen Augen gebären noch immer Sonnen in mir. In ihnen ist genug Wärme, dass ich sie fühlen kann. Abgekämpft und ausgemergelt, liegt dein Körper unter einer schneeweißen Decke. Alltäglichkeiten fallen Matt durch das große Fenster in das Krankenzimmer hinein. Meine Hand umgreift liebkosend deine. Eine, die mittlerweile von veränderten Landschaften erzählt. Hügel aus Fingerknochen. Täler mit Flussbetten aus tiefen Furchen. Seit Wochen fehlt dir die Kraft, um sprechen zu können. Doch es waren immer diese Momente, wenn mein Kopf auf deiner Brust lag, die mir alles von dir erzählten. Wenn ich deinem Herzschlag lauschen kann, bin ich erfüllt. So wie jetzt. Ich hatte mich neben dich gelegt, weil ich die Distanz überbrücken musste. Ich liege neben dir auf der Decke. Mein Kopf auf deiner Brust. Dein Herzschlag ist schwach und ich versuche, dass jeder Schlag mein Leben wieder befüllt. So, dass ich mich dahin fühlen kann, wo die Krankheit noch nicht war. In der Unwirklichkeit dieses Moments füllen wir den Raum mit Schweigen aus. Ich versuche nicht zu denken und schließe meine Augen.

 

Ich konnte nichts mehr erkennen, als ich vor den Einkaufsregalen stand. Mit dem Gefühl, nichts mehr fühlen zu können, hatte sich meine Realität verzerrt und zersplittert. In meiner Brust rast das Bewusstsein, dass alles einmal ein Ende findet. In allem sehe ich dich und in allem finde ich nur noch pures Entsetzen. Die Taubheit zieht sich über alles. Befleckt es mit Makeln. Es sticht, es bricht in mir. Ich will fliehen. Ich sehe dein Gesicht und Tränen verirren sich über meins. Ich weiß nicht mehr, ob sich das alles noch lohnt, hämmern die Gedanken ihr blendendes Monument aus meinem Hirn. Ich rede mir ein, dass ich hier nicht mehr sein kann, sobald du fort bist. Hastig lege ich einfach irgendwas in den Einkaufswagen, um der Funktion des Einkaufens wieder gerecht zu werden. Doch mir entflieht sich jeglicher Sinn einer logischen Handlung. Ich will ihn vollräumen, mit all dem Mist, der in mir wächst. Ihn dann stehen lassen und einfach aus dem Gebäude fliehen. Ich will dahin rennen, wo am Ende meiner aussichtslosen Flucht deine wärmende Umarmung auf mich wartet. Ich will dein Lachen wieder zurück. Ich will dein Leben wieder zurück. Ich verachte mich für meinen Egoismus, dass du mich glücklich machen musst, aber ich halte das Gegenteil nicht mehr aus. Ich will dich lieben, aber es ist, als würde ich Stacheldraht in meinen Schlaf mithinein nehmen wollen. Es zerrt so sehr, dass du bald fort bist. Und ich kann die Blutungen nicht mehr rechtzeitig stillen. Ich stürze ab, aber werde ohne dich aufprallen. Dabei hast du einmal gesagt, du würdest niemals mehr ohne mich gehen. Und selbst wenn, dann würdest du mich mitnehmen und mich von mir selbst entführen. Und doch lebe ich vor meinem Entführer in Schutzhaft. Schutz vor dem Tag, der ohne dich kommen wird. Dir und mir. Da fehlt langsam die Kraft, um unsere Beziehung aus der Geisel der inneren Verzweiflung zu befreien. Dein eisbrechendes Lachen fehlt. Ich sehe in deinen Augen wärme, die langsam nach innen entschwindet. Mir wird kalt. 

 

Die Besucherzeit nähert sich dem Ende. Ich presse Tränen hinter die Absperrung zurück. Trete sie und presche mit imaginären Knüppeln auf ihnen ein. Nicht hier. Nicht vor dir. Ich muss stark sein. Für uns. Dabei fehlst du mir gerade in diesem Moment so sehr. Ich vermisse dich, während ich neben dir liege. Ich weiß nicht mehr wohin mit mir. Du bist der einzige Mensch, dem ich mich je anvertrauen konnte. Wenn du gehst, gehen so viele verratende Geheimnisse mit dir und dann machst du wahr, dass du jedes meiner geteilten Geheimnisse in dein Grab nehmen wirst. Für einen Menschen wie dich wäre ich brandstiften gegangen, damit die Welt sehen konnte, was für ein Gefühl du in mir entfachst. Ich stehe auf. Küsse dir zärtlich Stirn und Lippen. Du schläfst bereits. Ich hoffe, deine Träume sind andere, als die meinen. Mein Blick haftet auf deinem leblosen Gesicht und ich versuche mir vorzustellen, wie du aufspringst und rufst, es sei alles nur ein riesen Irrtum gewesen und du sofort aus diesem Krankenhaus raus willst. Ich verhelfe dir zur Flucht, als ich dich in meinen Gedanken von hier wegbringe. Kaum aus dem Krankenhaus heraus, befiel mich kurz der Schwindel. Der Schwindel darüber, dass ich dich nicht mehr mitnehmen werde. Dass du nie wieder aus derselben Tür hinaus 

gehen wirst, aus der ich gerade gekommen bin. Mir ist kalt.

Wenn man vom Leben und vom Lebendigen spricht, weiß ich mittlerweile nicht mehr, ob ich irgendwo dazwischen gefangen gehalten werde. Unter der Dusche laufen die Tränen in ihrer Revolution der Befreiung endlich ungehindert. Deckungsgleich ziehen sie mit dem Duschwasser über meinen Körper und verrinnen dann im dunklen Nichts des Abflusses. Mein Blick starrt auf den Wasserstrudel, das sich wie um ein schwarzes Loch in dessen Fänge begeben hat und beobachte, wie alles den Bach runter geht. Ich sehe dich, wie du mir entschwindest. Langsam, Tropfen für Tropfen. Ich will deinen letzten Geist einfangen, als ich nach der Dusche Urlaubsbilder von uns auf dem Laptop betrachte. Dein wilder Blick, das Leben, das sich an dir abzeichnet, verschmilzt mit meinem inneren, monotonen Schmerz und ich mache innerliche Schreie daraus. Ich klappe den Laptop zu. Klappe alles zu. Schließe die Schlafzimmertür hinter mir ab. Schließe somit jegliches Entkommen aus.

Ich hatte versucht, mich auf diesen Moment vorzubereiten. Malte ihn mir aus. Hatte es mir bildlich vorgestellt, um Vortrauer zu leisten. Aber als der Anruf aus dem Krankenhaus kam, verlor alles seine Farben. In den Tagen, dein leeres Krankenbett unempfindlich zu betrachten und den Anrufen, dem abwiegeln, dem Bedanken um die Trauerbekundungen, verlor ich mich.  Ich war da irgendwo. Ich kann es jetzt in meinen Erinnerungen sehen. Da war mein Körper, aber in dem Moment, als du gestorben warst, hattest du mich von mir selbst entführt. Jedenfalls in den ersten Tagen. Irgendwann hörte das Rauschen in meinen Ohren auf. Das Druckgefühl, das sich über meine Haut gespannt hatte. Bei deiner Beerdigung kam die Realisation. Nach deiner Beerdigung ein tiefgehendes Nichts an Gefühlen. Mittlerweile habe ich einen ungefähren Umgang damit gefunden.

„Mit dem Erhalt des Briefes?“, fragt die Psychologin.
„Ja, als der Brief kam, war das eine gewisse Art von Kehrtwende“, Paul spielte nervös an dem Ring, den er an einer Kette trug, „als ich den Brief von Kathrin erhielt, das war ein ganz seltsamer Moment. Wissen sie, sie war ja Tod. Und plötzlich liegt da ein Brief von ihr im Briefkasten. Ich konnte das alles erst gar nicht richtig einsortieren. Da zog sich alles in mir zusammen. Heisskalt, so war mir plötzlich.“ „Und, als sie den Brief dann geöffnet und gelesen hatten, was war da für sie?“
„Naja, erst Mal verstand ich überhaupt nichts. Von wegen ‚Sorry‘ und dann dieser Ring. Aber als ich den Brief las, war das wie ein Befreiungsschlag. Ich konnte endlich wieder Weinen. Verstehen sie? Nach ihrem Tod war alles in mir wie abgestorben und plötzlich schafft Kathrin es, nur sie es, mich wieder zum Leben zu erwecken. Sicher, ja, es wäre schöner gewesen, hätte sie wieder lebendig vor mir gestanden und ich hätte nichts mehr, als unsere Liebe fühlen können. Aber ich war irgendwie glücklich, auch die Trauer wieder fühlen zu können.“, Paul spielte nun liebkosend weiter am Ring. „Und, was bedeutet dieser Ring nun für sie? Ist es eine Art neuer Anfang, oder betrachten sie es eher als Abschluss?“
„Das ist für mich bis heute noch nicht ganz klar. Zum einen lebt Kathrin damit für mich weiter. Es erinnert mich, dass alles, was ich von ihr gelernt habe, all diese Eindrücke, die sie mir hinterlassen hat, nun in mir weiterleben. Zum anderen stand da natürlich etwas mehr, als nur ‚sorry‘, aber das ist ein Geheimnis zwischen mir und ihr. Unser letztes, lebendiges Geheimnis. Es ist darin auch ein Abschluss gefunden worden. Es ist irgendwie schizophren für mich, aber ich versuche das langsam alles aufzuarbeiten.“
„Stimmt, daher sind sie ja auch zu mir gekommen und ich bin froh, dass sie diesen Schritt gewagt haben. Ich würde sagen, die Zeit ist um. Ich sehe sie dann kommenden Montag zur selben Uhrzeit?“ „Sehr gern“, Paul und die Psychologin erheben sich, geben sich die Hand. Dann kehrt Paul in den Alltag zurück, ohne weitere Fluchtgedanken.