Von Veronika Beckmann

Die Finger seiner Hand umschlossen zum dritten Mal in wenigen Minuten die kleine Schmuckschatulle in seiner Hosentasche. Seine Unruhe trieb ihn schließlich in den Vorraum der Herrentoilette, in dem er, allein und abseits vom geschäftigen Treiben des Hotels, das Kästchen aus der Tasche zog. Er öffnete es und betrachtete den Ring, der auf dem dunkelblauen Satin ruhte. Das Gold schimmerte edel.

In dem Moment, als er sie das erste Mal sah, hatte er sich in sie verliebt. Ihre langen blonden Haare, ihr Lachen, sein Herz hatte einen Augenblick still gestanden und sein Atem kurz ausgesetzt. Er spürte, dass es um ihn geschehen war, dass die Frau in seinen Träumen nun ihr Gesicht haben würde. 

In den nächsten Monaten lernte er sie besser kennen, ihre Bewegungen und ihre Art, die Welt zu sehen, wurden ihm vertraut und seine Gewissheit verstärkte sich, dass er sein Leben mit ihr verbringen wollte. Die Angst, dass sie eines Tages für immer einem anderen Mann gehören würde, hatte ihn jedoch nie losgelassen und nun …

Geräusche auf dem Gang rissen ihn aus seinen Gedanken. Er klappte den Deckel zu und ließ die Schachtel rasch wieder in seine Tasche gleiten. Als sich die Türe öffnete, stand er vor dem Spiegel, rückte seine Krawatte zurecht und prüfte, ob die Aufregung Schweißspuren auf seinem Gesicht hinterlassen hatte.

***

Das Anwesen aus hellem Sandstein, mit Erkern, Giebeln und weißen Sprossenfenstern, lag inmitten eines Parks und hatte Carrie bei ihrer Suche im Internet sofort angesprochen. Der ehemalige Landsitz in der Grafschaft Kent war zu einem stilvollen Hotel umgebaut worden und vereinte nun gehobenen Komfort mit der Idylle der Natur.
Es schien ihr sofort der absolut richtige Ort für ihre Hochzeit zu sein. 

Als sie am Vormittag des großen Tages die Eingangshalle betraten, kam Mr. Thomas, der Chef des Hauses, gerade aus seinem Büro. Lächelnd durchschritt er die Lobby und begrüßte sie.
„Guten Morgen, Miss Reynolds. Guten Morgen, Mr. Hughes. Was für ein herrlicher Tag! Sie werden eine wundervolle Feier haben! Mögen sie vielleicht erst eine Tasse Tee? Oder lieber einen Drink?“ Er zwinkerte Chris zu. 

Chris verneinte und fuhr sich müde mit der Hand über die Augen. Er war schon vor sechs Uhr aufgestanden, um  noch E-Mails ins Büro zu schicken. Dann waren sie früh in London aufgebrochen, aber vor allem in der Stadt war der Verkehr nur zähflüssig vorangekommen. Die Autofahrt hatte schließlich mehr als zwei Stunden gedauert.

Carrie nahm gerne einen Tee und sie setzten sich an einen kleinen Tisch, der im Kies am Rand der Rasenfläche stand. Das Wetter war wirklich hervorragend. Die Sonne schien und vom Meer her wehte eine leichte Brise. Chris ließ Carrie schon nach kurzer Zeit mit dem Tee allein, um den Fortschritt der Vorbereitungen im Hotel zu überprüfen.
Die junge Frau lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und genoss den Moment der Ruhe. Sie verstand ihren Freund manchmal nicht. Seit Wochen klagte er, bei ihm im Büro sei die Hölle los. Er schlief kaum noch und wirkte oft unkonzentriert und nervös. Jetzt hätte er doch alles dem wunderbaren Team von Mr. Thomas überlassen können, um ein wenig zu entspannen und sich auf die Feier zu freuen.
Die Trauung sollte um zwei Uhr stattfinden. In etwa einer Stunde würden die Gäste eintreffen, die noch etwas Zeit haben wollten, um sich im Zimmer auszuruhen oder sich frisch zu machen. Auch ihre Eltern hatten zugesagt, dass sie früh anreisen würden und Carrie freute sich sehr darauf, sie zu sehen.

Der erste Gast, der über den knirschenden Kies zu ihr kam, war jedoch Dave. 
„Hallo Dave!“ Sie erhob sich und begrüßte ihn lachend.
„Das wird Chris freuen, dass sein Trauzeuge mehr als pünktlich ist. Ich befürchte ja, dass meine liebe Janet erst um kurz nach zwei seelenruhig aus ihrem Auto steigt.“

„Hallo Carrie!“ Grinsend erwiderte der junge Mann die Begrüßung und küsste sie auf die Wange, bevor sie sich gemeinsam wieder an den Tisch setzten.
„Wo ist denn Chris?“, suchend sah er sich um.
„Er muss noch etwas regeln, aber er kommt bestimmt gleich zurück.“ 

Erneut sprang sie von ihrem Stuhl auf.
„Hallo Mum, hallo Dad, wie schön, dass ihr da seid!“
Sie lief ihren Eltern entgegen und umarmte beide. Dann machte sie ihren Vater und ihre Mutter mit Dave bekannt.

Etwa eine halbe Stunde später fand Chris seine Verlobte, seine Schwiegereltern und seinen Freund in ein entspanntes Gespräch vertieft. Die gereizte Bemerkung, zu der er gerade ansetzen wollte, schluckte er jedoch herunter, als Mr. Thomas gefolgt von einem Teil der Hochzeitsgesellschaft auf die Terrasse trat.
„Lasst uns hinüber gehen“, schlug Carrie vor. „Dann können wir sie begrüßen.“ 

In der nächsten Stunde trafen immer mehr Gäste im Hotel ein und das Brautpaar stellte nach und nach die verschiedenen Familienmitglieder und Freunde einander vor.
Nach einem kleinen Snack am Mittag ging Carrie mit ihrer Mutter hinauf in ihr Zimmer, um sich umzuziehen, und viele der Gäste folgten ihrem Beispiel.

Als sie später in ihrem Brautkleid die Treppe zur Lobby hinunterschritt, von der aus man gemeinsam zum Ort der Zeremonie in den Park gehen wollte, waren dort schon alle versammelt. Rufe der Bewunderung und Komplimente flogen durch den Raum, einige applaudierten sogar. Der Blick der lächelnden Braut suchte ihren zukünftigen Ehemann.

„Du hast was?“
Scharf und laut schallte die Frage durch den Raum und alle anderen Gespräche erstarben. Die Blicke wandten sich von der Braut zu dem geröteten Gesicht des Bräutigams. Vor ihm stand sein Freund Dave.
Die Erwiderung des jungen Mannes konnten nicht alle verstehen. Die nächsten Sätze klangen jedoch wie eine Anklage.

„Wie kann es sein, dass man so etwas vergisst? Das ist die einzige wichtige Aufgabe, die du als Trauzeuge hast!“ Chris starrte seinen Freund wütend an.
„Es tut mir wirklich leid, aber…“ Dave sah in Chris Gesicht und verstummte. Für Sekunden verengten sich seine Augen. Er schob ganz leicht den Unterkiefer vor und hob sein Kinn. 

Chris geriet völlig außer sich, Schweiß stand auf seiner Stirn und Hass verzerrte seine Mimik.
„Ich habe mich auf dich verlassen und jetzt enttäuschst du mich so! Ich fasse es nicht!“
Mit einer heftigen Bewegung griff er sich an die Stirn und sein Freund wich unwillkürlich einen Schritt zurück. 

Während Carrie sich einen Weg zu den Streitenden bahnte, versuchten die Umstehenden, den tobenden Bräutigam zu beschwichtigen.
„Was ist denn los?“ Ihr Gesicht war blass. 

Der Mann, der ihr Ehemann werden sollte, drehte sich zu ihr um. Sie erschrak, denn so aufgebracht hatte sie ihn noch nie erlebt.
„Er hat deinen Ring vergessen! Den Ring, mit dem ich dir den Heiratsantrag gemacht habe! Den Ring, den du in unserer Ehe tragen wolltest!“
Chris Lippen bebten während er sprach.
Carrie sah zu Dave, der etwas unbeholfen versuchte zu lächeln.
„Und wenn wir ohne den Ring…?“

„Carrie!“, schrie Chris sie an. „Das ist nicht dein Ernst!“
Seine Kiefermuskeln spannten sich und der Blick, der sie traf, war hart und kalt.
„Ohne den Ring heiraten wir gar nicht!“
Er wandte sich plötzlich um, drängte zum Ausgang und verließ das Gebäude.
In der Stille, die jetzt in der Lobby herrschte, hörten sie draußen eine Autotür zuschlagen und ein Wagen fuhr mit aufheulendem Motor davon.

Völlig perplex sahen sich die Zurückgebliebenen an, bis Carrie mit Tränen in den Augen ihr langes Kleid zusammenraffte und die Treppe nach oben rannte.
„Carrie, bitte!“ Dave sah ihr erst unglücklich hinterher. Dann folgte er ihr.

***

Zwei Tage später blinzelte Carrie träge in die Morgensonne, die durch einen Spalt zwischen den Vorhängen in das Zimmer drang. Durch das geöffnete Fenster blies ein leichter Wind und bauschte in unregelmäßigen Abständen die geblümten Chintzgardinen auf. Sie rollte sich in der duftenden Bettwäsche wieder zusammen und kostete das schöne Gefühl zwischen Traum und Wirklichkeit noch etwas aus. 

Es war richtig gewesen, zu bleiben. Die Anspannung der letzten Monate war endlich von ihr abgefallen. Bis zuletzt hatten die Vorbereitungen für die Hochzeit, obwohl sie insgesamt ein dreiviertel Jahr andauerten, viele Absprachen erfordert. Chris war jemand, der nichts dem Zufall überlassen konnte, und Carrie hatte wiederum darauf bestanden, dass er wichtige Entscheidungen nicht alleine treffen konnte, wenn er es gerade für nötig hielt. Dann war plötzlich, innerhalb von Minuten, ihre Zukunft an seiner Seite zerbrochen. In ihrem Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. 

Wieder tanzten Sonnenstrahlen über ihr Bett. Sie streckte sich und entschied, dass es der richtige Zeitpunkt war, um aufzustehen. Als sie sich aufrichtete, sah sie ein Stück Papier und einen Ring neben sich auf dem Bettlaken liegen.

„I’m sorry!“, stand auf dem Zettel.
Verwundert las sie die kurze Nachricht ein zweites Mal. 

Das Rauschen der Dusche war schon vor einer Weile verstummt und aus dem Badezimmer trat nun mit feuchten Haaren Dave. Sie sah ihn fragend an.
„Dave, was hat das zu bedeuten?“

Ihr Blick fiel wieder auf den Ring. Es war ihr Verlobungsring, sie hatte ihn sofort erkannt.
„Hattest du etwa die ganze Zeit…?“ 

Der junge Mann antwortete nicht, sondern wartete gespannt darauf, dass sie die Puzzleteile richtig zusammenfügen würde.
Carrie verbarg ihr Gesicht in ihren Händen und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. 

Schleppend vergingen die Sekunden. 

Dann hob sie endlich den Kopf.
„Du bist komplett irre!“, rief sie und strahlte ihn an.