Von Anne Moog
Der Tee ist fertig. Ich stelle die dampfenden Tassen auf die Ablage meines Rollators und fahre damit ganz vorsichtig ins Schlafzimmer. Anton ist bereits wach. Ich bin dankbar für das Pflegebett. Mittels Fernbedienung hat er es geschafft, sich heute ohne meine zusätzliche Hilfe aufzusetzen. Das tut ihm gut. „Ich habe schon auf dich gewartet.“
Immer wieder bin ich von dieser Wärme in seiner Stimme fasziniert, mit der er mich auch nach so vielen Jahren noch tief berührt.
„Ich weiß“, antworte ich schlicht. Die aufkommenden Tränen schlucke ich runter. Ich öffne das Fenster. Frische, angenehm warme Luft strömt herein. Wie sehr sich unser Schlafzimmer verändert hat. Ich schaue auf die vielen medizinischen und pflegerischen Utensilien, die im Raum verteilt stehen. Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen. Ich muss mich zusammennehmen. Tief durchatmen. Ich will stark sein für Anton, ich will die wenige Zeit, die uns noch bleibt, nicht mit Weinen vergeuden. Abschied nehmen ist schwer, für immer sehr schwer, in Etappen nahezu unerträglich. Ich reiche ihm die Schnabeltasse. Dankbar nimmt er einen kleinen Schluck, doch dann muss er schon wieder husten. Schnell richte ich seine Sauerstoffzufuhr. Direkt entspannt sich Anton. Er schaut mich an und ich weiß, was jetzt kommt.
„Bitte erzähl es mir nochmal, Hanni, bitte!“
Ich setze mich in den Sessel, der direkt neben Antons Bett steht. „Es war das Schützenfest am 20. September 1958, das mein Leben für immer veränderte. Ich war 13 Jahre alt und durfte erstmals in Begleitung meiner älteren Schwester Lotte ausgehen. Für sie war ich natürlich ein lästiges Anhängsel, sie wollte sich amüsieren, den ganzen Abend tanzen, lachen und mit den Jungs poussieren. Das hatte sie mir mehrfach deutlich gemacht, nachdem unser Vater ihr eröffnet hatte, dass sie mich mitnehmen musste. Da es mein erstes großes Fest war, hatte ich keine Ahnung, was mich erwarten würde. Aber ich freute mich. Ich freute mich, mein neues rot-weiß gepunktetes Kleid zu tragen, ich freute mich, viele Menschen zu treffen und ich freute mich auf die Musik. Lotto kannte die Kapelle von anderen Festen und fand sie fantastisch.“
Ich erschrecke, als ich sehe, dass Antons Augen geschlossen sind. Erleichtert erkenne ich aber auch, dass sich sein Brustkorb regelmäßig hebt und senkt. Er lebt noch. Als hätte er meine Gedanken gehört öffnet er die Augen.
„Ich lausche deinen Worten mit geschlossenen Augen. Dann kann ich sie noch mehr genießen.“
Anton, der ewige Charmeur. Ich pausiere, um mich zu sammeln. Wie oft werde ich Anton diese Geschichte noch erzählen müssen, können, dürfen? Mit einem Schluck Tee versuche ich meine Gedanken wegzuspülen. Das Hier und Jetzt ist entscheidend.
„Tanzen konnte ich damals noch nicht“, erzähle ich weiter, bemüht darum, meiner Stimme einen positiven Klang zu geben. „Ich hatte lediglich meine Eltern beobachtet, wenn sie des Öfteren zu Hause Tisch und Stühle beiseiteschoben und loslegten. Aber für jenen Abend kam mir dies auch gar nicht in den Sinn. Ich war die kleine Schwester der schönen und beliebten Lotte, die nur mitgehen durfte, weil unsere Eltern nicht zu Hause waren.“
Anton unterbricht mich. „Du warst die wunderschöne kleine Schwester von Lotte.“ Er lächelt selig.
„Ach Anton.“ Ich schüttele den Kopf, aber er lässt sich nicht davon abbringen.
„Doch, so war es. Und alle wollten dich umwerben. Aber es hat sich keiner getraut, dich anzusprechen, weil du noch so jung warst.“ Nach einem weiteren Hustenanfall sagt er plötzlich mit einer viel stärker wirkenden Stimme. „Gut, dass ich so mutig war!“
Mein Anton!
„Hanni, bitte erzähl weiter. Jetzt wird es ja erst spannend.“
„Ich saß zusammen mit Lotte und ihren Freundinnen an einem großen Tisch. Die Musik war so laut, dass man sich nicht unterhalten konnte und brauchte. Mir war das recht. So konnte ich alles in Ruhe beobachten. Ich fand es spannend und aufregend. Lotte und ihre Freundinnen waren albern, aufgedreht und tuschelten ständig. Ihr Interesse galt den etwas älteren Jungs, die an der nur wenige Meter von unserem Tisch entfernten Theke standen. Für mich sah es so aus, als würden die Jungs beraten, wer jetzt welches Mädchen in welcher Reihenfolge zum Tanz auffordern sollte. Vom Sehen kannte ich sie alle. Wenn wir auch in getrennten Schulen waren, so nutzten wir ja doch meistens denselben Bus. Mit manchen hatte ich auch schon sonntags nach der Messe geplaudert. Mit dir nicht, aber du warst mir aufgefallen. Während die anderen Jungs versuchten auszusehen wie Elvis, schien es, als wolltest du niemandem ähnlich sehen, als wolltest du du sein. Und das war so anders. Das hat mir gefallen. Das hat mich sehr beeindruckt.“ Mein Mund ist trocken. Ich trinke wieder etwas Tee und halte mich an der Tasse fest. Heute ist wieder so ein Tag, an dem die Erinnerungen für mich nur schwer zu ertragen sind. Anton dagegen strahlt mich an.
Wie kann ein Mensch, der so strahlt, bald sterben?
„Als die erste Tanzrunde begann, saß ich plötzlich alleine am Tisch. Das war mir etwas unangenehm. Ich überlegte gerade, die Toilette aufzusuchen, da kamst du.
‚Darf ich bitten?‘
Mit nur drei Worten brachtest du mich vollkommen aus der Fassung. Ich drehte mich um, weil ich zunächst dachte, das wäre ein Irrtum. Ich war erst 13 und mich hatte noch nie jemand zum Tanz aufgefordert. Aber da war niemand. Ich starrte dich an. Du sahst so gut aus, so elegant in deinem grauen Anzug mit dem weißen Hemd und der hellblau gestreiften Krawatte. Die Krawatte war so außergewöhnlich wie du. Deine blonden Haare hattest du in einem ordentlichen Scheitel nach hinten gekämmt. Das kannte ich bislang nicht an dir. Aber es gefiel mir, es betonte deine feinen Gesichtszüge. Du lächeltest mich an und sagtest:
‚Wollen wir?‘
Dieses Wir berührte mein Innerstes zutiefst.“
Meine Stimme bricht, weil mich gerade die Gefühle übermannen. Die von damals und die von heute. Was ist von dem jungen Anton von damals noch übrig geblieben? Innerlich erschauere ich. Sei stark.
„Von einer Sekunde auf die andere war alles anders, ich kannte mich selbst nicht mehr. Ich war eigentlich nie um ein Wort verlegen, galt sogar als vorlaut, aber als ich dich jetzt anschaute, fiel mir nichts ein. Du nahmst einfach meine Hand, ich erhob mich und folgte dir wie hypnotisiert auf die Tanzfläche. Immerhin schaffte ich es noch dich zu warnen. ‚Ich kann gar nicht tanzen‘, stammelte ich mit glühenden Wangen.
„Ich aber“, sagtest du selbstbewusst. Du brachtest mich in Position und platziertest meine Hände an die Stellen an deinem Körper, wo sie hingehörten. ‚Hör auf die Musik und lass dich einfach von mir führen. Vertrau mir‘.“
Leise stimme ich unser Kennenlernlied an: ‚Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe …‘.
Anton summt die Melodie weiter. Ganz sanft streichele ich seine Hand. Ich muss vorsichtig sein wegen der Kanüle.
„‘Vertrau mir‘, sagtest du.
Wieder waren es nur zwei Worte, die mich verzauberten. Deine Stimme war so klangvoll. Und dann diese blauen Augen, die mich wie funkelnde Sterne anstrahlten. Ich war verwirrt, verlegen und trotzdem fühlte ich mich so gut. Unser erster Tanz, ein langsamer Walzer. Wir schwebten über die Tanzfläche. Wir waren eine Einheit. So hat es Lotte später beschrieben. Es war magisch und in dem Moment wusste ich, dass ich dir mein Herz geschenkt hatte, auch wenn es noch Jahre dauern sollte, bis wir ein Paar wurden.“
Meine heutige Version ist etwas kürzer als die der letzten Tage, weil ich spüre, dass Anton sehr müde ist. Er wird immer weniger. Anton öffnet die Augen, Tränen laufen seine Wangen hinunter.
„Auch ich habe dir bei diesem Tanz mein Herz geschenkt.“ Wieder überkommt ihn ein Hustenfall und ich sehe, wie viel Kraft der ihn kostet. Aber er lässt es sich nicht nehmen, noch das „Für immer!“ hinzuzufügen.
„Für immer“, sage ich.
Unsere knorrigen Hände finden sich und wir schauen uns so tief und intensiv in die Augen. Wie damals beim Tanz auf dem Schützenfest. Wir sind immer noch eine Einheit. Und die Erinnerung lässt uns lächeln.