Von Agnes Decker

 „Wenn du den Regenbogen sehen willst, musst du den Rücken zur Sonne drehen und dich deinem Schatten zuwenden.“  Er weiß nicht mehr, wer es gesagt hat. Zu viel Zeit und zu viel Leben liegt zwischen damals und heute.

Das Knistern des Feuers und das Plätschern der Wellen sind fast die einzigen Geräusche an diesem Ort, der aussieht, als wäre er am Ende der Welt. Der Wind pustet in die zuckenden Flammen, lässt die Funken aufstieben und hoch vor dem nachtdunklen Himmel ihren ungeselligen Tanz tanzen. Die Männer, die sich um das Feuer gruppiert haben, sitzen auf Bierkästen oder im Sand, einige haben die Arme verschränkt  oder formen kreisrunde Ringe aus Zigarettenrauch, der aus ihren Mündern strömt. Einer klopft einen nicht erkennbaren Rhythmus auf seinen Oberschenkel. Gestrauchelte, könnte man denken, Menschen, die kein zu Hause haben. Denn, wer sonst würde sich in einer solchen Nacht und an einem solchen Ort niederlassen?

Zehn Männer. Schweigend sitzen sie da und schauen ins Feuer, jeder in seiner eigenen Welt. Es ist kalt. Die Luft riecht modrig, nach Wasser und nach beginnendem Winter. Irgendwo raschelt Papier. Man hört jemanden schlucken, eine Flasche wird herumgereicht.  

 „Sie haben Hunde, Schwarzer, Dobermänner, drei oder vier.“ Ein Mann hat sich aufgerichtet. Seine Stimme klingt heiser, als hätte er viel geraucht in seinem Leben.

Der Mann, den sie „Schwarzer“ nennen und der auf der anderen Seite des Feuers sitzt, schaut auf. Er trägt dunkle Kleidung, so wie alle hier. Dadurch hat er seinen Namen wohl nicht erhalten.  Vielleicht wegen seiner Haare, die ihm wirr ins Gesicht hängen oder wegen des Bartes, den silberne Fäden durchziehen und der ihm zum Zopf geflochten, bis auf die Brust hängt. Er trinkt einen Schluck aus der Flasche, die ihm gerade in die Hand gedrückt wird, und noch einen, bevor er sie weitergibt.

„Drei sind es, drei Dobermänner. Sergio übernimmt sie.“ Die Stimme des Schwarzen ist tief und melodisch und hat das Potential, mit ihrem Klang ohne Anstrengung eine Kathedrale zu füllen.  Beim ersten Ton sind alle aufgeschreckt. Jetzt hängen sie an seinen Lippen, warten darauf, dass er das Kommando gibt.

„Habe alles dabei, leckere Sachen. Schön schlafen werden sie, die Jungs.“ Der Mann neben dem Schwarzen spricht leise und aufgeregt.

„Wie lange wird es dauern?“ Der mit der heiseren Stimme ist aufgestanden und nahe ans Feuer getreten.

Jemand hustet unterdrückt. Das Feuer zaubert Schatten in die Gesichter, die jetzt zu Fratzen verschwimmen, Schreckgespenstern gleich mit dunklen Augenhöhlen und Mündern.

„Schnell, ganz schnell, zwei Minuten, drei, dann fallen sie um. Zack, so schnell.“ Sergio erhebt seine Hand. Mit einer hastigen, wischenden Bewegung deutet er an, wie er sie ruhig stellen wird. Dabei grinst er und zwinkert mit den Augen, die durch die dicken Brillengläser riesengroß erscheinen.

 

„Okay, Männer. Es geht los.“ Der Schwarze nimmt die Flasche, die gerade wieder bei ihm ankommt, stellt sie ab, ohne daraus getrunken zu haben und steht auf. „Jeder weiß, was er zu tun hat.“ Die Blicke der Männer sind auf ihn gerichtet und, als er beginnt, seinen Schal über Mund und Nase zu ziehen, tun sie es ihm nach, setzen ihre Helme oder Kapuzen auf und folgen ihm zu ihren Fahrzeugen, die, hinter einem Gebüsch versteckt, auf sie warten.

 

Kurze Zeit später hört man Motorengeräusche. Dann rasen sie los, eine unheilvolle “ Wilde Jagd“  voran die Bikes, Mensch und Maschine miteinander verschmolzen wie ein Wesen. Dahinter die Autos, deren gedämpfte Scheinwerfer ein unwirkliches Licht in die Nacht werfen. Zum Schluss die Mountainbiker, sich ungeduldig aufbäumend wie junge Rappen, die es nicht erwarten können, endlich loszulaufen.

 

Weit genug vom Ziel entfernt, so dass man die Motoren nicht hören kann, dort wo sie hinwollen, stellen sie die Fahrzeuge ab und machen sich zu Fuß auf den Weg durch den Wald. Fast geräuschlos bewegen sie sich, sieben Männer mit einer Mission.

 

Die Mountainbiker haben sich schon vorher abgesetzt. Sergio als erster, er wird sich um die Hunde kümmern. Dann Buddy, der Elektroniker, zuständig für die Alarmanlagen, und Zoff, der kleinste von ihnen, der die Zufahrt bewachen wird.

 

Jeder hat seinen Platz, jeder eine Aufgabe. Gut vorbereitet sind sie, durchtrainierte, muskulöse Gestalten, die sieben, die jetzt das Anwesen erreichen, das von einer hohen Mauer umgeben ist. Ohne Unterstützung ziehen sich die Männer an der glatten Einfriedung hoch, mit einer Leichtigkeit, von der kein Grundstücksbesitzer wissen möchte. Von Strauch zu Strauch gleiten sie, tauchen auf, aus der Dunkelheit und, wieder unter in ihr, unerbittlich sich ihrem Ziel nähernd.

 

Sie erreichen das Haus an seiner Rückseite. Die Fenster im Erdgeschoß sind hell erleuchtet, man sieht  Menschen mit Gläsern in der Hand, einzelne, die hin- und her gehen, andere, die in Gruppen miteinander stehen und reden. Zwanzig könnten es sein oder mehr, alle männlich, bekannte, vertraute Gesichter. Seriös sehen sie aus und bedeutend. Sorglos, noch nicht ahnend, welches Unheil auf sie zukommt, eindringt in ihre ungute Idylle. Durch die Hintertür, die Maria offen gelassen hat. Maria, die Reinigungskraft , die jetzt schon im Taxi sitzt, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hat.

 

Wie eine Naturgewalt fallen sie ein, der Schwarze und seine Gefolgschaft. Furchterregend sehen sie aus, dunkel, vermummt, und mit Gewehren bewaffnet. Der Schwarze geht voran, führt seine Meute, die, tänzelnd wie wilde Tiere, ihre Beute umkreist. Die Gesellschaft hat sich zusammengedrängt, die Politiker, Fernsehleute, Aufsichtsräte und wer sonst noch alles dabei ist. Angst steht in ihren Augen, Ungläubigkeit. Ein paar haben ihre Gläser fallen lassen, deren Scherben nun unter ihren Füssen knirschen.

 

Zwei Bewaffnete sind in die obere Etage gestürmt. Man hört das Zersplittern von Holz, ängstliche hohe Schreie, dann Schritte auf der Treppe. Einer kommt die Treppe herunter, trägt ein kleines Mädchen auf dem Arm, ganz vorsichtig hält er es, als wäre es zerbrechlich. Der andere legt den Arm beschützend um einen kleinen Jungen, der an seinem Daumen lutscht. Vier weitere Kinder nähern sich zaghaft, Stufe für Stufe, dem Festsaal. Klein sind sie, keines über acht Jahre alt. Riesige Augen haben sie, in die man nicht hineinschauen möchte, weil kein Leben in ihnen ist, nur noch Löcher, schwarz und tief. Sie bringen sie hinaus, vor die Haustür.

„Wartet hier. Ihr seid jetzt sicher“, hört man einen der beiden Männer flüstern.

Dann kommt er zurück ins Haus. „Schlagt sie tot, die Drecksäcke“, brüllt er und stürmt auf die Eingekreisten zu.

„Stopp.“ Der Schwarze ist nach vorne gesprungen und hat sich dem Angreifenden in den Weg gestellt. „Keiner fasst sie an. Da, wo sie hinkommen, werden sie schon erwartet. Von Fachleuten, die mit ihnen das tun, was sie den Kindern angetan haben. Sie werden bereuen, dass sie jemals geboren wurden.“ Der Schwarze spuckt auf den Boden, genau vor die glänzenden Schuhspitzen des bekannten Politikers.

Einer der Vermummten hat alles mit seinem Handy gefilmt und legt jetzt den Finger auf die Sendungstaste.

 

Es ist still geworden in dem Raum, so still dass man das Brummen und Rauschen hören kann, das in den nicht sichtbaren Kopfhörern erklingt. Mitten hinein hört man die hohe Stimme von Zoff, der an der Zufahrt wartet; „Rückzug, Männer, sie sind gleich da.“

 

Vor den zur Straßenseite liegenden Fenstern flackern die Blaulichter der Streifenwagen, die gerade vor dem Haus halten. Rückwärts verlassen die Bewaffneten den Raum. Einer nach dem anderen. Der Schwarze ist der Letzte. Er wartet, bis die Polizei das Haus erreicht, dann läuft er los. Vorbei an dem riesigen Swimmingpool mit seinen blauen Liegen, vorbei an den Palmen, dem Springbrunnen, den gemütlichen Sitzecken. Dann ist er an der Mauer, setzt über, wird von seinen Männern aufgefangen. Nur einen Atemzug später wären sie weg gewesen. So war es geplant, wie alles, minutiös bis in die letzte Konsequenz.

 

Wir treffen sie am See wieder. Sie haben ihre alten Plätze eingenommen, rund um das Feuer, das längst erloschen ist. Jetzt, wo es hell ist, sieht man, dass es keine Gestrauchelten sind, sondern ein bunter Haufen, unterschiedlich in Alter, Nationalität, alles harte Kerle, zumindest das, was von ihrer Härte übrig geblieben ist nach dieser Nacht.

 

Einer räuspert sich und beginnt zu sprechen, abgehackt, seltsam seelenlos.  „Wir kriegen sie alle. Wir kriegen sie, die Schweine.“

 

Der Schwarze hat seinen Blick gesenkt. Er weiß, dass es nicht aufhören wird, dass ein Netz gesponnen ist über die ganze Welt. Und es werden immer mehr, Männer wie Frauen. Er denkt an die Kinder und die toten Augen, an das, was in ihnen zerbrochen ist. Stellt sich vor, wie sie gelebt haben, vorher, als sie sich in die Arme ihrer Mütter warfen, sich geborgen fühlten, denkt an ihr Lachen, ihre Unbeschwertheit. Wie können sie leben, mit all dem?

 

Die Sonne steht hoch am Himmel, taucht den See in ein gleißendes Licht. Nicht mehr lange. In der Ferne sieht man schon die schwarzen Wolken, die der auffrischende Wind landeinwärts treibt.

 

„Was macht Louis? Wie geht es dem Jungen?“ Sergio ist zu dem Schwarzen getreten und hat ihm seine Hand auf die Schulter gelegt. Mit einer ungelenken Bewegung, so als würde er ein lästiges Insekt verscheuchen, wehrt dieser sie ab. Dann steht er auf. Hoch aufgerichtet steht er da und reckt sein Gesicht der Sonne entgegen. Ähnelt einem Wolf, der gleich anfangen wird zu heulen. Aber kein Laut kommt aus seinem Mund.  Reglos steht er da, der Schwarze und schaut zum Himmel.  Es hat angefangen zu regnen. Er lässt die Regentropfen über sein Gesicht laufen. Dann wischt er sie mit dem Handrücken ab und dreht sich um, schaut über den See.

Einer nach dem anderen sind die Männer zu ihm getreten. Und so stehen sie am Ufer, zehn Männer, die Sonne im Rücken, vor ihnen ihre Schatten mit den ausgebreiteten Armen und in der Ferne, über dem See dieser unsäglich bunte Regenbogen.

 

 (In Deutschland erleiden täglich rund 40 Kinder sexuelle Gewalt. Die Dunkelziffer ist weitaus höher.)

 

 

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