Von Helga Rougui

TikTok.

Videoclip.

 

Sie stolziert ins Wohnzimmer, blaues Kleid, hauteng, perfekter Sitz.

Sie: – Schatz, wie findest du das?

Er: – Äh ja. Gut. Superkleid. Steht dir.

Sie: – Ach nee – (zupft am Stoff über dem Bauch) – ich weiß nicht – gefällt mir irgendwie nicht. Schick ich zurück.

Er:  – —

 

Sie verschwindet im Schlafzimmer, erscheint wieder, trägt ein hellblaues Kleid, enganliegend, lange Ärmel, betont ihre schlanke Figur.

Er: – Das steht dir richtig gut, so hauteng. Sehr geil.

Sie : (zupft wieder am Stoff) – Ach nee, das ist auch nix. Das schick ich auch zurück.

 

Dritter Auftritt. Jetzt ist es ein Sommerkleid in allen buntgestreiften Farben, Rüschenröckchen, schulterfrei mit zwei Trägern, oben mit zwei lustigen Schleifen garniert.

Sie: – Und das, mein Schatz? Wie gefällt dir das?

Er: – Nee Schatzi, das ist aber jetzt nicht so toll, das geht gar nicht.

Sie: – Also ich find das mega, richtig geil, das behalte ich.

Und entschwindet fast schwebend ins Schlafzimmer.

Er ruft ihr nach: – Okay, wenn du unbedingt wie ein Regenbogen rumlaufen willst …

 

Clip Ende.

 

***

 

Warum laufen nicht alle wie Regenbögen rum? Außer mir natürlich – ich bin doch nicht blöd! Aber was wäre so schlimm daran?

Jana grinst, während sie sich aus dem bunten Fähnchen schält, das sie nur ihrem Freund Jonas zum Trotz angezogen hat. 

Und er hat nicht mal gemerkt, daß ich das bunte Ding letzten Karneval als Girlie From The Alm getragen habe.

Und dann immer dieses TikTok, wo er unbedingt 10000 Follower erreichen will.

Das nervt so was von, daß man keine Salamipizza essen kann, ohne @diepizzlis vor sich zu sehen, kein Outfit im Netz bestellen, ohne mit @chinastreetstyle verglichen zu werden. Dazu noch die ewigen Shuffle-Dance-Tutorien mit ihren Melodien, die sich ohrwurmmäßig für Stunden in den Gehörgängen und Hirnwindungen einnisten.

Alles, was wir machen, will er filmen, das Leben eine Bühne, Vorstellung ohne Pause, niemals fällt der Vorhang, auf TikTok sowieso nicht, da fängt man abends um acht an, diese Filmchen zu gucken, und ist um drei Uhr morgens immer noch am Smartphone.

Jana zieht schnell Jeans und T-Shirt wieder an, natürlich beides in Schwarz. Mit ihren schwarzlackierten Fingernägeln fährt sie sich durch das kurzgeschnittene blauschwarz gefärbte Haar, so daß es igelförmig nach allen Seiten absteht.

Aber jetzt mal im Ernst, denkt sie. Wie kann man nur so übertrieben bunte Sachen tragen? Sie hatte früher eine gemusterte Bluse, die ähnelte einem Bild von Mirò, nur schriller, und wenn sie die trug, bekam sie mit allen Leuten Krach, mit denen sie zu tun hatte. Nach zwei, drei Versuchen zog sie sie nicht mehr an – das machte das Leben friedlicher.

Aber jetzt trägt sie schon seit Jahren Schwarz, Gothic Girl, Fledermausfrau, Schwarze Rose, Mono Inc.-Fan, Tanzwut im Bauch.

Und warum sie sich die zwei blauen Kleider bestellt hat – das mag der Himmel wissen.

Vermutlich weil er so gerne blau ist ….

 

***

 

Gaaaanz toll, denkt Jonas, die Braut kann nichts ernst nehmen, was mir wichtig ist.

Und dann meint sie noch, ich hätte nicht gemerkt, daß der bunte Fummel ihr Faschingskostüm vom letzten Jahr gewesen ist, und der hat ihr nicht mal gut gestanden – sie soll lieber bei ihrem Totengräberoutfit bleiben.

Er starrt auf sein Handy. 9828 Follower. Nah dran an der 10000er Grenze. Aber wenn Jana nur so müde mitspielt, rocken wir das nie.

Gab es dieses „wir“ überhaupt noch? Er geht schon lange nicht mehr mit zu ihren Mittelalter-Rock-Konzerten, wo martialische Bands in düsteren Clubs eigenartige historische Instrumente malträtieren, und sie interessiert sich für nichts, was im Netz gerade in ist, und benutzt ihr Handy nur noch …  ja wofür eigentlich? Nicht mal mehr davon hat er eine Ahnung.

Da. Eine SMS. Er geht auf Whatsapp und liest.

Das Mädchen hat er vorgestern auf der Friedrichstraße getroffen. Ihre Augen haben ihn über die Maske hinweg mutwillig angeblitzt, sie trug ein blumengemustertes Maxikleid, voll retro, um sie herum ihre Freundinnen, die sie mit sich zogen, aber sie schaffte es, kurz stehenzubleiben und  ihm ihr Handy hinzuhalten, so daß er seine Nummer eintippen konnte.

Das wäre ein super Clip geworden – wenn er sein Handy als Kamera hätte benutzen können.

Seit zwei Tagen wartet er auf eine Nachricht von ihr – jetzt ist sie da.

Melanie heißt das Mädchen, genannt @melly, hat einen YouTube-Kanal und einen Account auf TikTok und scheint ziemlich angesagt zu sein – #retrobeauty&style. Und sie interessiert sich offensichtlich für ihn.

Auf einmal hängt ihm der Himmel voller regenbogenfarbener Geigen.

 Ja, er wird ihn wagen, den Schritt ins Ungewisse. Mit Jana, das funktioniert nicht mehr. Er wird mit ihr Schluß machen.

Und er wird davon einen Videoclip drehen – das wird ihm sicherlich eine Menge neuer Follower auf TikTok einbringen.

Die 10000er Marke rückt in greifbare Nähe.