Von Winfried Dittrich

Mit knapp fünfzehn Kilometern pro Stunde jage ich über den Platz. Im Dunkeln. Von meiner Parzelle aus versuche ich, direkt zur Schranke zu gelangen. In wenigen Sekunden werde ich sie durchbrechen. Vielleicht schaffe ich es bis zum Hafen und kann mich dort irgendwo verstecken.

Im Rückspiegel sehe ich die Meute. Vorneweg „Der Recher der Hasenköttel“. Ein wilder Haufen mit Badeschlappen, Feinripp-Unterhemden, Fleecejacken, Bademänteln, Fackeln und Mistgabeln. Wo haben die denn eigentlich Fackeln und Mistgabeln her? Hier in der Anlage, der hunde- und familienfreundlichen.

Ich gebe noch mehr Gas und beschleunige mein Gefährt auf mindestens zwanzig Stundenkilometer. Eine wahnsinnige Geschwindigkeit. Hier, wo man sonst nur mit Standgas durch die Gegend rollt. Dann werde ich plötzlich geblendet; die selbstgebastelte Radarfalle des selbsternannten Sherriffs löst aus. Vor Schreck reiße ich das Steuer herum und durchbreche einen weißen Gartenzaun, der eine Dauercamperparzelle einfriedet. Direkt hinter der kaum kniehohen Absperrung verrichtet gerade ein Rasenmähroboter die ihm zugewiesene Arbeit. Seine leuchtenden Augen erlöschen, als er unter die Räder kommt. Ich reiße das Steuer noch einmal herum, aber der glattrasierte und frisch gemulchte Rasen bietet den auf Standschädenvermeidung optimierten Reifen keinen Halt. Ich rutsche, gnadenlos untersteuernd, in das feste Vorzelt hinein, durchbreche eine aus Glas und Kunststoff bestehende Leichtbauwand. Auf dem im Vorzelt verlegten Laminatfußboden quietschen die querstehenden Räder, bevor ich die weiß gehaltene Einbauküche durchbreche und in eine Wolke aus Pressspanfetzen eintauche. Wie in Zeitlupe nehme ich wahr, dass ein Kaffeevollautomat und eine in grün-weiß gehaltene Multifunktionsküchenmaschine samt Bedienungsanleitung in die Windschutzscheibe meines Wohnmobils einschlagen. Die Bedienungsanleitung bleibt kleben und gibt preis, dass man mit der Maschine nicht nur kochen, sondern sogar Eis machen kann. Wow.

Im Augenwinkel nehme ich einen Fernseher wahr, auf dem ein Kaminfeuer angezeigt wird. Hat der Kollege hier ein Notstromaggregat? Um Haaresbreite schlittere ich an der Vorzeltheizung und der daran angeschlossenen Gasflasche vorbei. Dann durchbricht mein Fahrzeug die der Eintrittsstelle gegenüberliegende Seite dieses Durchschnittswohnwagenvorbaus.

Unausweichlich halte ich nun auf einen überdimensionierten Gartenzwerg aus Stahlbeton zu. Da entschließe ich mich, meinen rechten Fuß vom Gas zu nehmen und ihn auf das Bremspedal zu setzen. Der Einschlag in die Betonskulptur reißt den Wärmetauscher des Kühlers auf, und der Motor stirbt ab. Dampf speiend bleibt mein Wohnmobil auf der Grenze zwischen zwei Parzellen liegen.

Einen Moment später entriegele ich das Drehgestell meines Fahrersitzes und schwenke um 180 Grad zur Sitzgruppe hinter mir herum. Der Kühlschrank ist bei meinem gerade vollendeten Manöver aufgesprungen und hat ungefähr fünfzehn durchgekühlte Bierdosen freigegeben, die auf dem Fußboden des Wohnbereichs herumrollen. Ich greife wahllos eine der Dosen und öffne sie. Eine Bierfontäne entlädt sich, vergleichbar mit den legendären Champagner-Fontänen von Michael Schumacher. Nachdem der Dosendruckausgleich vollendet ist, nehme ich mit geschlossenen Augen einen guten Schluck aus der Dose und lehne mich zurück. Gleich werden sie kommen. Gleich werden sie die Tür aufbrechen und mich holen. Gleich werde ich was erleben. Und die letzten ruhigen Momente in meinem mobilen Zuhause werde ich genießen.

„Was ist hier eigentlich passiert?“, frage ich mich und denke zurück, wie die letzten zwölf Stunden dieses Natur-Urlaubs verlaufen sind.

***

Strahlender Sonnenschein, es riecht nach frisch gemähtem Gras. Ja, es ist später Vormittag an einem Samstag. Ich erwache aus einer Art Delirium. Mein Frühstücksabschlussbier war diesmal ein Starkbier. In diesem Urlaub habe ich extra für die Frühstücksabschlussbiere eine Überraschungskiste mit zwanzig Glasflaschen dabei. Und da bin ich nach dem Frühstück auf dem Sonnenstuhl wohl eingenickt.

Ich erwache, weil es seltsam kühl um mich herum wird. Außerdem fühlt mein Körper sich feucht an. Ein Sprühen und Spritzen von Wasser ist zu vernehmen. Anscheinend hat der Dauercamper von nebenan den Rasensprenger auf seiner Parzelle in Betrieb genommen. 84 Meter Schlauch hatte er einst auf der Parzelle dafür verlegt. Fein perforiert und an besonderen Stellen mit Spritzdüsen versehen. Alles durchdacht, berechnet und getestet. Zur Erhaltung seiner grünen Oase inmitten des meist rauen Hochseeklimas.

Der Wind weht den Sprühnebel zu mir herüber. Eigentlich ganz angenehm bei dieser Bullenhitze. Eigentlich aber auch eine Sünde. Eine teure, angesichts der steten Wasserknappheit hier.

Ich öffne meine Augen ganz langsam und blicke direkt in ein wunderschönes Farbspiel, das im Wassernebel erkennbar ist. Wann konnte man hier wohl zuletzt einen Regenbogen betrachten? Ich liebe die Natur! Ich liebe Camping!

Na ja, so teuer ist diese Sünde auch wieder nicht. Das Wasser pumpt der Nachbar aus einem schwarz gebohrten Brunnen ab. Es kostet also nur Strom. Und mit der Strombeschaffung hat er auch keine großen Probleme. Als Elektriker half er fleißig bei der Erweiterung des Stromnetzes innerhalb der Anlage und bekam so die Gelegenheit, die Hauptanschlussleitung unter seiner Parzelle für bestimmte Zwecke anzuzapfen. Ohne Zähler, versteht sich.

Eine teure Angelegenheit ist es für den Herrn nebenan auch nicht wirklich, wie er mir am ersten Abend bei drei Pils erklärte. Ein pfiffiger Geselle. An dem Abend zeigte er mir auch die beiden im Vorzelt installierten Fernseher, die seiner Frau und ihm gemeinsame Abende ermöglichten.

Ein derber Umweltsünder ist er auch gar nicht. Die drei durchgängig laufenden Springbrunnen, die den Bereich vor seinem unterkellerten Vorzelt zieren, laufen „auf Solar“. Und sonst ist er auch ein sehr ordentlicher Kerl. Er recht jeden Morgen die Hasenköttel vom Rasen auf den gepflasterten Weg vor seiner Parzelle. Auf der Insel hier gibt es eine Hasenplage. Die Tiere machen überall hin, und der nette Campingplatzdauerbewohner kämpft tapfer dagegen an. Sogar eine Brille setzt er dafür auf, um alle kleinen Kügelchen auf dem Rasen erkennen zu können.

Ich, für meinen Teil, habe mir beim Ausnüchtern immer gerne angesehen, wie die Kaninchen das Gras fraßen und ihre Kügelchen produzierten. Hatte etwas Beruhigendes.

Im Augenblick des Erwachens bin ich dankbar für die sanfte Abkühlung, die mir den Weg zurück zu einem klaren Kopf erleichtert. Und das farbenfrohe Naturphänomen vor meinen Augen entspannt und lindert meine Kopfschmerzen etwas. Es lässt mich ein bisschen selig werden und den Moment genießen. Bis sich erst ein Kribbeln zwischen meinen Beinen breit macht, dann ein Zucken, dann ein Krampfen. Ich blicke an meinem Körper herunter und betrachte meine steil nach oben aufgestellte Brustbehaarung.

Plötzlich knallt es, bevor es still wird. Der Wassernebel legt sich. Das bunte Lichtspektakel ist zu Ende. Und es ist auch nichts mehr zu hören von den mindestens fünf gleichzeitig laufenden Mini-Rasenmähern, die Samstag für Samstag den Rasen diverser Dauercampingparzellen trimmen. Nur die Benziner laufen noch. Staubsauger, Haartrockner, Hochdruckreiniger, elektrische Geräte sind keine mehr zu hören.

Selbst das gleichförmige Rauschen der Dachklimaanlagen, die auf den meisten Campingwagen in der Umgebung installiert sind, ist verstummt.

Irgendwann höre ich die ersten Camper fluchen und fange an, etwas unruhig zu werden. Eine vorzeitige Abreise steht an, das ist mir sofort klar. Zuerst schiebe ich die nass gewordene Sechsfachsteckdosenleiste von meinem Schoß herunter. Die diente mir als Schattenspender – ich mag eine durchgehende Bräune.

Ich muss warten, bis der Vorzeltkühlschrank abgetaut und die elektrische Partypfanne abgekühlt ist. Die hielt noch das Rührei vom Frühstück warm. Meinen Kontaktgrill, auf Bacon und Würstchen kann ich morgens nicht verzichten, meine Kaffeemaschine, den Toaster und den elektrischen Milchaufschäumer muss ich erst noch reinigen, bevor ich sie wieder in den Originalkartons verstauen kann. Das geht ganz schnell, wenn man es bei einer so bescheidenen Grundausstattung belässt. Und zusammen mit der Kühlbox mit dem Flaschenbier kann man alles an eine einzige Steckerleiste anschließen.

Dann ziehe ich meine Badehose über. Ich muss den sichtgeschützten Bereich hinter meinem Wohnmobil verlassen, um das Stromkabel einzuholen. Ich hatte die Stromversorgung von Nachbars Brunnenpumpe mitgenutzt. Campingplätze nehmen Fantasiepreise für die Kilowattstunde, und ich bin ja auch nicht blöd. Jedenfalls nicht so blöd wie der Nachbar, der beim Anzapfen der Hauptleitung nicht nur den Stromzähler sondern auch eine Sicherung weggelassen hat.

Gegen halb zehn Abends hat die Fehlersuche der anderen Camper ergeben, dass meine „wilde Verdrahtung“ hinter der Pumpe nass geworden ist und einen Kurzschluss verursacht hat, der die Hauptsicherung des Campingplatzes durchbrennen ließ. Es war schon die Reservesicherung. Ein ebenfalls spontan abgereister Camper mit Hund hatte ein paar Tage zuvor einen Bodenanker mit Anlegepflock einen halben Meter tief in den Boden getrieben und die Hauptleitung gekappt. Er blieb unverletzt. Der Akkuschrauber, mit dem er den Bodenanker in den einschraubte, war ausreichend isoliert. Qualitätswerkzeug. Ersatz für die Sicherung ist unterwegs, mit der Fähre jedoch erst morgen hier.

Aber jetzt wird es stressig. Ich sehe, wie sich eine Menschengruppe zügig auf meine Parzelle zu bewegt.

Mit dem Packen bin ich fertig, springe ans Steuer, lasse den Motor vorglühen, starte ihn und will losfahren. Doch ein Alarm ertönt. Ich muss die Einstiegsstufe noch einfahren. Aber dann geht es los. Habe ich die Kühlschranktür verriegelt? Egal.

Die Gruppe folgt mir, kann das Schritttempo aber nicht nur mithalten, sie schließt sogar zu mir auf. Ich beschleunige.

Mit knapp fünfzehn Kilometern pro Stunde jage ich über den Campingplatz. Im Dunkeln…

 

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