Von S.M. Syrch

„Atme,“ schrie ich.

„27, 28, 29, 30“ beendete ich die Herzdruckmassage und blies Luft in deine Lungen. Eine gefühlte Ewigkeit verging, tausend Gedanken rasten durch meinen Kopf und zerplatzten wie Seifenblasen darin und verhinderten, dass ich auch nur einen klaren sinnvollen Satz zu Ende denken konnte.

Wie lange du unter Wasser warst, ich wusste es nicht. Es konnten doch nur Sekunden gewesen sein, nur kurz war ich in der Küche, um dir einen Apfel aufzuschneiden, oder waren es doch Minuten?

Ich erinnerte mich, als ich auf die Terrasse kam und dich nicht sehen konnte. Mein Blick glitt von der Sandkiste zur Schaukel, weiter zur Rutsche und verharrte im hohen Baumhaus, welches Papa erst vor kurzem für dich gebaut hatte. Zuerst noch fröhlich rief ich deinen Namen, dann etwas lauter, doch schnell schlug meine Stimmung in Ärger um, weil du wieder einmal nicht folgen konntest. Ich spürte die Wut, denn nichts hasste ich mehr, als dich gefühlt hundert Mal rufen zu müssen, bis du endlich herkamst.

Ich überlegte dich im Garten zu suchen, doch die vielen vorangegangenen schlaflosen Nächte, finanzielle Sorgen und deine Unruhe zerrten an mir, raubten mir die Energie und die Lust auf Spielchen, sodass ich mit gemischten Gefühlen wieder kehrt machte. Nur zufällig fiel mein Blick beim Weg zurück ins Haus auf den Pool. Dort sah ich deine Gestalt, wie sie im Wasser schwebte, es war ein Zustand zwischen Leben und Tod. Das Klirren des Tellers, welcher auf dem heißen Steinboden zerbrach, nahm ich nur weit entfernt wahr, ebenso die Splitter, welche sich tief in meine nackten Fußsohlen gruben. Panisch, aber dennoch bewegungsunfähig stand ich am Beckenrand, so fest hatte sich die Angst um mich geschnürt, meine Gedanken beherrscht, dass ich mich selbst erst aus dieser Starre befreien musste. Alles rund um mich schien sich plötzlich aufzulösen, die Grenzen verschwammen und wie durch einen Tunnel fokussierte sich die gesamte Welt nur auf dich.

Nie werde ich vergessen, wie deine kleinen Arme und Beine zuckten, die wenigen Luftblasen sich langsam einen Weg nach oben bahnten und leise blubbernd an der Wasseroberfläche in sanfte Wellen übergingen. Deine strahlend blauen Augen, trüb blickten sie nun zu mir, aber dennoch fixierten sie mich und schienen mich fast zu durchbohren. Das Sonnenlicht, gleißend hell reflektierte es sich in dem kühlen Nass, umspielte deine Silhouette und gab dir etwas Feenhaftes, fast schon engelsgleich triebst du von mir weg.

Ich sprang und schlug hart mit der Seite auf den Stufen auf, welche den Einstieg sonst so bequem machten. Doch es war kein Platz für Schmerzen, keine Zeit innezuhalten, ich musste dich finden. Mit weit aufgerissenen Augen tauchte ich unter und versuchte das beißende Chlor, welches sich durch meine Augäpfel fast bis ins Gehirn einbrannte, zu ignorieren. Du sagtest noch zu mir, du holst die überflüssigen Tabletten raus, die mir aus Unachtsamkeit ins Wasser gefallen waren und ich ermahnte dich etwas zu scharf, aus Angst dir könnte etwas passieren, dich vom Pool fernzuhalten. Ich versuchte dir zu erklären, dass sich die Tabletten auflösten, doch dein trauriger Blick verriet, dass du mir gerne geholfen hättest, sie raus zu holen.

Einzig dein Wunsch mir etwas Gutes zu tun, trieb dich an und brachte dich in diese Lage. Kaum zwei Jahre alt, und dem Tod näher, als du gerade jetzt dem Leben warst.

Nur eine Armlänge trennte uns, trennte dich vor dem sicheren Ende und trennte mich vor einem qualvollen Leben ohne dich. Hastig ergriff ich deine Hand, riss daran und dich damit an die rettende Oberfläche. Dein warmer kleiner Körper hing schlaff an mir, nicht bereit eine liebevolle Umarmung auszutauschen oder sich eng an mich zu kuscheln. Heiß brannten meine Augen, als sich Tränen der Wut, der Verzweiflung und so vielen weiteren unausgesprochenen Emotionen ihren Weg an die Oberfläche bahnten und über meine Wangen liefen.

Ich schrie um Hilfe, und wenn ich nicht brüllte, blies ich die warme Luft in deine kleinen Lungen.

„Atme“ plärrte ich auch dich an, „Hilfe“ kreischte ich dem heißen Julitag entgegen, in der Hoffnung, jemand würde kommen, mich schütteln und aus diesem Albtraum aufwachen lassen.

Unermüdlich füllte ich deine Lungen mit lebensnotwendiger frischer Luft, versuchte das Wasser aus dir raus zu schütteln, als mich plötzlich Hände umfassten, ruckartig und bestimmt zur Seite stießen und mich bei deinem Überlebenskampf unterstützten. Papa ist da, wollte ich dir sagen, er hilft uns, so mach doch die Augen auf. „Atme“ presste ich unter Tränen hervor.

Dann schlugst du endlich deine Augen auf. Vorwurfsvoll blickten sie mich an, aber auch ein wenig erstaunt.

Hustend hast du dich aufgesetzt und ich zog dich fest in meine Arme und wog dich wie ein Baby, während ich nach Luft schnappend, schniefend ein Kinderlied summte.

Dieser verdammte Pool, dachte ich, wütend auf mich selbst, und auf die ganze Welt.

In der Ferne hörte ich bereits die Sirenen, rasch kamen sie näher. „Alles wird wieder gut“, sagte ich wie ein Mantra, mehr zu mir als zu dir.

Deine kleinen Hände waren mit meinen verschränkt und ich ließ sie während der ganzen Fahrt ins Spital nicht los.

„Es wird alles wieder gut“, sagte schließlich auch die Ärztin zu mir, „aber er war nur einen Schritt vom Ende des Regenbogens entfernt.“