Von Hans-Günter Falter

Im Licht des Regenbogens stehn,
am Rand das Flimmern noch zu sehn.

Umschienen von der Tiefe des Lichts,
heraus aus dem unbedeutenden Nichts.

Der Augenblick in seiner erhabenen Dimension,
einen Hauch der Ewigkeit spüre ich schon.

**

Ich stehe vor deinem Haus. Auf der anderen Straßenseite. 
Sehe zu deinem Fenster hinauf. Immer wieder. Immer wenn ich hier bin. Und ich bin häufig hier, plane meine Wege entsprechend. Oft genug sind es Umwege.
Komme manchmal auch ungeplant vorbei. Ganz zufällig. Ehrlich. Musst du mir glauben. Laufe gedankenverloren durch die Straßen und stehe plötzlich vor dem Haus. Ohne Absicht. Ohne nachzudenken. Vollkommen überraschend.

Stelle mir vor, wie du zufällig an dein Fenster trittst. Vielleicht erahnst du mich. Nimmst meine Gedanken wahr, meine Gegenwart. Schaust hinaus. 
Das ist mein Elixier. Auch wenn du dich nicht trauen würdest dem Impuls zu folgen und aus dem Fenster zu blicken.

Vielleicht sehe ich dich einmal. Zufällig. Hoffe ich.
Vielleicht siehst du mich einmal. Unbeabsichtigt. Träume ich.
Vielleicht spürst du mich einmal. Im Herzen. Phantasiere ich.
Gehst zufällig an dein Fenster. Bemerkst meine Gedanken, meine Gegenwart. Schaust hinaus. Erahnst mich. Das ist meine Hoffnung. Auch wenn du dich nicht traust deinem Impuls zu folgen.
Die Gedanken kreisen und wiederholen sich stetig.

Ich respektiere deinen Wunsch. Willst mich nicht mehr sehen. Du erträgst mich nicht. Das kann ich sogar verstehen. Ertrage mich doch selbst gelegentlich nicht. Ich stehe auf deiner Seite. Verbünde mich mit dir. Ist nicht unsere einzige Gemeinsamkeit.

Dein Fenster ist gekippt, mal auch geschlossen. Mehr bekomme ich von deinem Leben nicht zu sehen. Aber schon das bedeutet mir viel. Zeigt es doch, dass du da bist, physisch anwesend, hinter dem Fenster, irgendwo in diesem Haus.

Ich bin verrückt. Natürlich. Verrückt nach dir. Nach deinem Lachen. Nach deiner warmen Stimme. Nach deinen interessierten Augen. Nach deinen sanften Bewegungen. Dem matten Glanz deiner Haut. Deinem Geruch. Nach deinem wachen Geist. Nach deinem Humor. Und nach der Art, wie du behutsam deine Teetasse mit den Händen umfasst.
Selbst von der Konsequenz, mit der du mich ablehnst, bin ich seltsam beeindruckt. Ja, auch die bewundere ich, weil sie zu dir gehört. Auch wenn ich mir diesen Punkt anders wünschen würde. Zugegeben.

Und … zugegeben. Es gibt noch viel mehr zuzugeben, ich will ehrlich sein. Unter deinem Fenster habe ich schon lange nicht mehr gestanden. Nur in meiner Vorstellung. Sonst ist aber alles wahr.
Habe Angst, dir zu begegnen. Will nicht den Eindruck erwecken, dass ich dir nachlaufe. Wäre mir unendlich peinlich. Wüsste auch nicht, was ich dir sagen sollte. Versuche deshalb, jede Begegnung zu vermeiden. Fahre schon seit Monaten riesige Umwege, um nicht an deinem Haus vorbeizukommen.

Gedankenverloren vor deiner Tür gestrandet? Doch, das stimmt. Bin da ein paarmal unabsichtlich gelandet.
Und erschrocken. Über mich. Über mein Unterbewusstsein. Mit schlechtem Gefühl dann schnell wieder umgekehrt. Fühlte mich ertappt und mies. Klein und verlogen.
Ist auch mein bevorzugter Alptraum, besonders wenn ich mal, was nicht oft vorkommt, einen Mittagsschlaf halte.

Die Umwege will ich nicht mehr gehen, möchte meine Unbefangenheit zurück. Normalität.
Werde wieder die sinnvollen Wege nehmen. Wenn sie bei dir vorbeiführen, auch gut. Möchte aber nicht mehr zu deinem Fenster hinaufschauen. Werde mich zwingen müssen. Am Anfang mit Sicherheit. Irgendwann vielleicht nur noch gelegentlich.

Dir begegnet zu sein, ist mein großes Geschenk. Ich werde es in Ehren halten. Will versuchen, nicht ungeduldig zu sein. Will Kraft schöpfen aus meiner Liebe. Aus meinem Leiden. Keine Liebe ohne Leiden. Kein Leiden ohne Liebe. Und kein Regenbogen ohne Sonne und Regen.
Der Regenbogen verschwindet auch immer viel zu schnell. So wie du. So wie unsere Begegnung. Sie war überraschend zu Ende. Ohne richtiges Ende zu Ende.
Ich kann mich gut erinnern. An alle Facetten.

**

Er legte das Schreiben aus der Hand. Er trat langsam zum Fenster und schaute hinaus. Er hatte Tränen in den Augen.

Die Gefühle von damals waren ihm so nah, als wäre es gestern gewesen. Ach was, als wäre es gerade eben gewesen. Nie hatte er sie vergessen. Nie wieder ist er ihr begegnet. Jeden Tag hatte er an sie gedacht. Jeden Tag hatte er auf ein Zeichen von ihr gehofft.
Heute würde er noch einmal an ihrem Haus vorbeikommen, vielleicht das letzte Mal. Er war schon lange nicht mehr dort gewesen.
Er dachte nach. Diesen Brief hatte er vor 26 Jahren geschrieben. Er konnte sich gut entsinnen. Er hatte den Brief in dem Jahr geschrieben, als seine Ehe nach 30 Jahren geschieden wurde.
Er hatte sie beide verloren. Seine Frau hatte ihn verlassen, weil er mit seinen Gedanken nicht mehr bei ihr war. Die Andere hatte sich zuvor von ihm losgesagt, um seine Ehe nicht zu gefährden. Geliebt hatte er beide. Auf unterschiedliche Art. Beide, abgrundtief geliebt. Endlos. Von keiner ist er losgekommen. Keine konnte er halten.

Er setzte sich auf sein Bett. Er nahm den Brief noch einmal in die Hand und dachte den Gedanken, den er jeden Tag dachte. Vielleicht hätte er noch einmal einen Versuch wagen sollen. Sich bei ihr in Erinnerung rufen. Er hatte sich dagegen entschieden, jeden Tag aufs Neue. Wusste, dass sie ebenso gefangen war wie er. Wusste, dass sie ihn auch nicht vergessen würde. Wusste, dass jedes Anklopfen bei ihr die Tür fester verschließen würde.
Er legte den Brief auf den Tisch zurück, zu den anderen Schriftstücken. Zu den anderen Briefen. Dutzenden Briefen.

In einer Stunde würde ihn sein Sohn abholen. Der wird ihn ins Altersheim begleiten, heute zieht er um. Er ist froh, dass er diese Entscheidung noch selbst treffen konnte. Die Knochen wollen nicht mehr so wie früher, aber sein Geist funktioniert noch wie ehedem. Die Koffer sind gepackt, viel wird er nicht mitnehmen. Von seiner Wohnung hat er sich innerlich schon verabschiedet, es wird ihm nicht schwerfallen, sie hinter sich zu lassen. Der alte, blaue Schaukelstuhl ist schon seit gestern im Heim. Der Schaukelstuhl, auf dem er jeden Tag sitzt und denkt.

Heute braucht er ihn nicht um Nachzudenken, sein Entschluss steht fest. Er nimmt einen Briefumschlag aus dem Schreibtisch, schreibt ihren Namen darauf. Den Brief steckt er hinein, er verschließt ihn sorgfältig. Seinen Sohn wird er bitten auf dem Weg ins Heim kurz an ihrem Haus anzuhalten. Er will ihr den Brief in den Briefkasten stecken. Er will es selbst tun, auch wenn ihm das Gehen schwerfällt. Diesen Weg soll ihm niemand abnehmen. Diesen Weg ist er ihr schuldig. Und sich selbst.

**

Aus dem Licht des Regenbogens gehn,
am Rand das Flimmern klar zu sehn.

Blickend in die Tiefe des Nichts,
heraus aus dem Kegel des Lichts.

Ein Augenblick in ganz erhabener Dimension,
der Atem der Ewigkeit entfaltet sich schon.