Von Nevena Banov

Die Tür fällt ins Schloss. Stille. Ihr Sohn hat gesagt, er sei in einer halben Stunde wieder zurück, aber er braucht immer mindestens eine Stunde, wenn er einkaufen fährt. Sie liegt in ihrem Bett. Lauscht ihrem raschelnden Atem. Ein, aus, ein, aus. Blickt aus dem Fenster auf den wolkenverhangenen Himmel. Wann war sie das letzte Mal draußen? Bei der Beerdigung ihres Mannes? Sie kann sich nicht mehr erinnern. Etwas schlägt gegen die Glasscheibe. Regentropfen. Zuerst zögerlich, dann immer mehr, ein richtiger Schauer. Der Rhythmus der Tropfen wirkt einschläfern. Immer schwerer werden ihre Augenlider.

 

Auf einmal wird die Dunkelheit hell. Sie schlägt die Augen auf. Das ganze Zimmer ist in helles Licht getaucht. Es regnet noch immer, doch zwischen den grauen Wolken haben die Sonnenstrahlen einen Weg zur Erde gefunden. Das hat sie schon immer am Regen geliebt, wie viel wärmer und strahlender die Sonne einem nach einem grauen Tag erscheint. Und dann sieht sie ihn. Ein atemberaubend riesiger Regenbogen. In allen Farben leuchtend erstreckt er sich vor ihrem Fenster, schöner, als auf jedem Gemälde.

 

Das Leben ist wie ein Regenbogen. Ihr Leben ist wie ein Regenbogen. Der Gedanke entfaltet sich urplötzlich in ihr. Als sie geboren wurde war sie noch klein und unscheinbar, ein kleiner Wurm unter den 3 Geschwistern. Doch mit was für einer rasanten Geschwindigkeit sie wuchs und sich entfaltete! In allem, was sie lernte, war sie früh dran. Gehen, Sprechen, Lesen… schnell ging es bergauf, auf ihrem Regenbogen des Lebens.

 

Doch auch ein Regenbogen muss durch Wolken brechen. Ihre Jugend war nicht einfach. Die wolkenverhangene Zeit begann mit der hässlichen Trennung ihrer Eltern. Beide taten das Schlimmste, was man einem Kind antun kann: schlecht über den anderen sprechen. Nicht lange danach kam die nächste Wolke in Form der Pubertät. Zuerst fühlte sie sich zu dick, dann aß sie kaum noch etwas, zum Schluss gar nichts mehr. Es war eine dunkle Zeit, so dunkel, dass sie bereits vergessen hatte, wie sich Sonnenschein anfühlt. Die Rettung ihres Regenbogens war eine Lehrerin. Gespräche, das hat ihr geholfen. Ermutigungen, das hat sie zur Psychologin gebracht. Unterstützung, das hat die Wolke vertrieben. Zeit, das hat sie auf ihrem Regenbogen weitersteigen und die Sonne wieder spüren lassen.

 

Nun war sie hoch oben, in ihren Zwanzigern. Studieren war nebensächlich. Ausgehen, Tanzen, Freunde, die Liebe, das war ihr Leben. Ihre Eltern warnten sie damals, es nicht zu übertreiben. Heute weiß sie, sie hat das meiste richtig getan. Wissen kann man sich immer aneignen, Fakten kann man immer nachschlagen, doch die Jugend holt man sich nicht wieder zurück.

 

Durch das Fenster erkennt sie nun unter dem großen Regenbogen einen zweiten, etwas kleineren und blasseren, seine Farben sind gespiegelt. Eine Erinnerung daran, dass es zu allem ein Pendant gibt, eine andere Möglichkeit, eine andere Ansicht, die aber genauso richtig und schön ist, auch wenn man sie von der Perspektive des eigenen Lebens oft nicht erkennt. In ihren jungen Jahren war ihr unbewusstes oberstes Ziel, immer Recht zu haben, immer alle anderen zu überzeugen. Heute weiß sie, das dieses Streben verlorene Energie war, überflüssige Worte, denn der zweite Regenbogen wird bleiben, egal wie hell der eigene leuchtet.

 

Nun leuchtet der Bogen besonders hell. So wie ihr Leben bei der Geburt ihres Sohnes. Dieser hatte nie große Probleme gemacht, war selbstbewusst, auf seinem eigenen Regenbogen des Lebens aufgestiegen.

 

Am Höhepunkt ihres Regenbogens hatte sie viel gesehen und erlebt, hatte das Gefühl, den Überblick über die ganze Welt zu haben. Doch kein Regenbogen steigt für immer, und so spürte auch sie, dass es langsam wieder bergab ging. Die Welt und ihr Leben war noch immer schön und erfüllend, doch im Inneren hatte sie ein undefinierbares Gefühl. Sie funktionierte weiter, doch etwas beunruhigte sie.

 

Nach einiger Zeit konnte sie die Frage, die in ihr geharrt hatte, in Worte fassen: Was ist der Sinn des Ganzen? Sie spürte, dass sie langsam aber sicher an Höhe verlor, dass sie sich unablässig der anderen Seite ihres Regenbogens näherte. Wie viel Weg liegt noch vor ihr und was kommt am Ende? Was wird sie wie alle Menschen vor und nach ihr am Ende erwarten? Was wird am Ende noch von Bedeutung sein? Was bleibt am Ende des Lebens?

 

Es war ihr damals so vorgekommen, als hätte die Welt eine andere Farbe angenommen. Als hätte ihr Abstieg auf dem Regenbogen sich verlangsamt. Sie begann, mehr Zeit in Stille zu verbringen, mit sich und ihren Gedanken. Die Frage schien ihr ganzes Leben einzunehmen. Wie viel Zeit hat sie noch? Was ist am Ende wirklich wichtig?

 

Der Regenbogen vor ihrem Fenster ist blasser geworden. Bald wird er kaum noch zu erkennen sein, dann ganz verschwinden. Alles ist vergänglich, das Schöne genauso wie das weniger Schöne. Was bleibt, sind Erinnerungen. Gefühle. Eindrücke.

 

Sie weiß, dass sie niemals die Antwort auf ihre Frage finden wird. Doch sie ist ihr nähergekommen. Sie weiß, dass jede Sekunde mit ihrem Sohn eine gewonnene war. Er wird immer einen Teil von ihr in sich tragen, sein Regenbogen wird immer Regentropfen von ihrem Bogen in sich haben. Sie weiß, dass jede Sekunde mit positiven Menschen, die sie liebt, eine gewonnene war, denn sie ließ die Sonne heller scheinen. Und sie weiß, dass jede Hilfe und Nächstenliebe sich gelohnt hat, denn dadurch konnte sie einen anderen Regenbogen aufhellen und die Welt ein kleines bisschen verbessern.

 

Der Regenbogen vor ihrem Fenster ist verschwunden. Sie sinkt tiefer in ihr Kissen, schließt die Augen. Atmet. Ein. Aus. Ein. Aus. Was ist der Sinn des Ganzen? Wann hat sich die Regenbogenreise gelohnt? Wenn die Welt nach Verblassen des eigenen Regenbogens ein kleines bisschen besser, schöner, heller und bunter geworden ist. Ein Lächeln huscht über ihr faltiges Gesicht. Ja, das ist das Ende des Regenbogens.