Von Yvonne Tunnat

Es riecht nach frisch gemähtem Rasen und Apfelzimtkuchen. Kaum jemand trägt schwarz. Ich stehe neben ihr. Sie ertrage ich. Sonst niemanden.

Ihr Zopf liegt über ihrer linken Schulter. Führt bis zu ihrer Brust. Kein Haar kann sich daraus verirren, so fest ist er geflochten. Ihr Gesicht zeigt weder Poren oder Unreinheiten. Nur von Nahem sehe ich den Puder. Nichts bröckelt. Kein Schweiß hat Rinnsale darin hinterlassen. Als hätte sie es gerade erst aufgetragen.

„Carla!” Eine Dame mit weißen Augenbrauen kommt auf uns zu, nimmt Carlas Hand und lässt sie nicht los. „Wenn ich etwas für dich tun kann, ruf mich jederzeit an.”

Carla lässt sich festhalten, erwidert den Blick der weißen Dame, nickt und bringt sogar ein Lächeln zustande: „Vielen Dank, und vielen Dank, dass ihr gekommen seid. Anton hat immer viel über euch gesprochen.”

Ich sehe mich um, ob sie in Begleitung hier ist. In unmittelbarer Nähe kann ich niemanden entdecken, der offensichtlich zu ihr gehört. Die Dame wendet sich mir zu, sie nimmt meine Hand, lässt sie gleich wieder los und wischt ihre Handfläche am linken Oberschenkel ab. Sie öffnet den Mund, sieht von Carla zu mir, schließt den Mund dann wieder. Sie weiß nicht, wer ich bin. Niemand weiß das. Ich weiß es ja kaum selber.

Der nächste Gast nähert sich Carla. Ein Mann mit Jeans, der für diesen Anlass ein wenig zu laut spricht. Carla handhabt die Gäste wie ein Profi. Zeigt keine Ermüdung. Als wäre es für sie reine Routine, einen Ehemann unter die Erde zu bringen.

Langsam entferne ich mich und nähere mich der Bahre. Er hat sich eine Feier im Freien gewünscht und ist strategisch günstig Ende September gestorben. Die Nachmittagssonne scheint auf sein Gesicht, seine Augen sind geschlossen, die Hände liegen lose übereinander auf seinem Unterbauch. Er trägt eine Cordhose und sein Lieblingshemd, dunkelgrün kariert, die Ärmel unten schon etwas abgenutzt. Er sieht aus, als ob er jeden Moment aufstehen könnte.

„Hallo Sabrina.” Neben mir steht Friedrich, der andere Nachbar. Er wohnt rechts von Anton und Carla, auch alleine.

Wir schauen Anton an. Der Mund sieht entspannt aus, weich und rot. Als ich ihn im Garten gefunden habe, waren die Lippen bleich mit purpurnen Flecken, ein paar Spuckebläschen auf dem Kinn. Ich habe sie weggewischt, bevor ich Hilfe gerufen habe. Jetzt ist sein Mund weniger blass, tadellos trocken und sauber.

Meinen Brombeerstrauch wollte er umsetzen. Das macht man am besten im Herbst. Das neue Loch hatte er schon ausgehoben. Nun steht der Strauch immer noch an gewohnter Stelle.

Mir ist es egal, wo er steht. Anton fand, er wäre an einer Stelle weiter oben auf meinem Grundstück günstiger. Mehr Sonne. Mehr Beeren. Ich bin erst im letzten Herbst hergezogen, aufs Land in ein Reihenhaus, für die Ausbildung. Anton habe ich auf der ersten Straßengrillparty kennengelernt. Gespräche über den Gartenzaun hinweg. Hilfsbereit, als ich mit dem Rasenmäher kämpfte. Mal die Heckenschere ausgeliehen. Gemeinsame Kaffeestunden am späten Sonntagnachmittag. An einem sonnigen Tag Anfang Juni ruhte seine Hand etwas zu lang auf meiner nackten Schulter. Wechselte von warm zu heiß. Was er zu mir gesagt hat. Wie er mich anschaute. Wie oft ich zurückschaute. Wie wenig Abstand zwischen unseren Gesichtern war. Zwischen unseren Lippen. Unseren Zungen.

Ich betrachte Carla, wie sie unermüdlich Hände schüttelt und Gäste anlächelt. An ihrem Kinn sehe ich die Spuren der Zeit. Jahre voller Mimik: Freude. Ärger. Trauer. Mehr als fünf Jahrzehnte, die letzten drei davon mit Anton.

Friedrich blättert im Gästebuch. Anton hat verfügt, dass alle Gäste Fotos mitbringen und einkleben. Eine ganze Rolle beidseitig haftendes Tesa liegt neben dem Buch auf dem Tisch. Beim Anschauen schüttelt Friedrich den Kopf und grinst.

Ich schaue ihm über die Schulter, betrachte die Bilder von Anton. All die Martinis. All die Zigarren. Und Carla steht mit Diätcola neben ihm. Mitte Fünfzig, ein Kreuz wie eine Kanalschwimmerin, stets in fliederfarbenen Stoffen. Sogar heute trägt sie Flieder, wahrscheinlich hat Anton auch das verfügt. Auf den Gruppenfotos sehen sie alle Anton an, prosten ihm zu, lachen ihn an oder lassen sich Arm in Arm fotografieren. Anton lacht ebenfalls auf vielen Fotos, den Mund weit geöffnet. Auf einem sehe ich sogar seine Zunge. Mein Unterleib zuckt. Friedrich beobachtet Carla, kommentiert: „Die bringt nichts aus der Ruhe, gar nichts.”

Ich könnte es ja mal darauf anlegen. „Ich habe mit deinem Mann geschlafen. Den ganzen letzten Sommer vor seinem Tod”, könnte ich zu ihr sagen.

„Warum?” würde sie wissen wollen und ich würde sagen: „Weil ich ihn wollte, weil ich ihn so dermaßen wollte. Seine Ehe war mir egal. Mein Ruf. Meine Selbstachtung. Ich hätte sterben können für eine Minute in seinen Armen.”

Statt einer Minute habe ich diesen ganzen Sommer bekommen. Und nicht ich bin gestorben. Wochenlang habe ich ihr im Vorgarten ins Gesicht geschaut, während es unten noch warm aus mir herauslief, hochrot tief im Innern. Fest in die Augen geblickt habe ich ihr trotzdem und mich über mich selber gewundert. Anton war 61, als er starb. 

„Das Leben hat es jedenfalls gut mit ihm gemeint, mit unserem lieben Toni. Vor allem das Liebesleben”, sagt Friedrich.

Was? Ich starre ihn nur an. Es kann nicht sein, er kann nichts wissen.

Er nickt in Carlas Richtung. Ich schaue hin. Diese Katzenaugen. Die Haare noch rötlichbraun. Nicht gefärbt, das weiß ich von Anton. Sie joggt viermal in der Woche. Carla ist nun mit den Gästen fertig, sieht mich neben Antons Bahre stehen und kommt zu uns. Auch für mich hat sie ein Lächeln.

„Friedrich, lass uns mal alleine”, sagt sie, er guckt mich ratlos an und verschwindet.

Den ganzen Sommer durfte Anton alles von mir wissen. Nur er. Alles. Nun ist er weg und niemand weiß mehr etwas über mich. Carla steht nah vor mir, Flieder in meinem gesamten Blickfeld. Sie riecht genau wie Anton. „Mach dir keine Sorgen. Ich helfe dir mit dem Brombeerstrauch”, sagt sie. Als wäre damit alles gelöst. „Ich helfe dir damit, auch mit dem Zaun, das hatte er schließlich auch noch vor. Du musst dir keine Sorgen machen. Ich bin da. Ich bin für dich da. Wir sind doch jetzt beide alleine.”

Sie lächelt mich so warm an, dass ich am liebsten mein Gesicht vergraben würde an ihrem Busen und alles einatmen, was da so nach Anton duftet. Augen schließen und mir für ein paar Augenblicke einbilden, sie wäre er.

Wir schauen uns an. So hat Anton mich auch angeschaut, als der Sommer begonnen hat. Mein Spiegelbild in ihrer Iris. Sie legt ihre Hand auf meine Schulter, lässt sie dort liegen und streichelt mich ein bisschen. Ihr Lächeln ist sanft. Antons Duft lässt mich wohlig erschauern.

Carla beugt sich zu mir und flüstert mir ins Ohr: „Ich werde gut zu dir sein. Besser als er.”

Version 3