Von Maria Lehner

Kathi:

Es ist mir seit Längerem unheimlich: Theas Entwürfe ähneln meinen. Jedes Mal gibt es mir einen Stich, wenn sie mir „ihren“ Entwurf präsentiert, bevor wir unsere „Teamarbeit“ der Kreativdirektorin vorstellen. Wenn ich ihr in die Augen schaue, hält sie meinem Blick nicht stand und ich denke „Was hat sie da gemacht hinter ihrem Paravent, der unsere Arbeitsbereiche trennt, während ich gearbeitet habe?“ Manchmal glaube ich sogar, ihren bohrenden Blick hinter der Trennwand zu spüren. Aber ich brauche diese Vereinzelung im kreativen Prozess. Und ich brauche die Gewissheit: Das war meine Idee, das war ihre Idee. Nicht ständig dieses „Wir-sind-ein-Team“-Gesülze. Das hat uns bloß das Management aufs Auge gedrückt.

 

Ich speichere meine Entwürfe nicht mehr im Computer, nur auf dem Stick, den ich ständig bei mir trage. Die Zeichnungen liegen in einem unscheinbaren Aktenordner. Zuerst dachte ich, dort würde sie Thea niemals vermuten. Zur Sicherheit habe ich ihn mit von mir nach einem raffinierten System übereinander gekreuzten Bändern sorgsam verschlossen. Das zeigt mir, ob jemand ran geht. Und es geht jemand ran. Immer wieder. Es ist mir seit Längerem unheimlich.

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Thea:

Mir fällt nichts ein. Etwas Schlimmeres kann jemandem aus dem Kreativbereich nicht passieren. Ich bin seit Monaten wie abgeschnitten von meiner Fantasie. Kathi dagegen – wie macht sie das? Ich höre sie hinter dem Paravent schneller atmen, höre ihren Bleistift über das Papier flitzen und vernehme ein kleines spitzes „Ah!“ oder „Ja!“, mit dem sie sich selbst bestätigt. Ihre Zugangsweise ist eine ganz andere als meine: Sie saugt alle Bilder auf – die auf dem Gehsteig liegende Nusshälfte und deren Schatten, das Flauschige an den Pappelsamen, die stumpfe Farbe des abgelutschten Fruchtbonbons, die Schlieren am Autofenster in der Waschanlage. Sie fotografiert, zeichnet, reduziert und setzt in Beziehung.

 

Halbwach und panisch stolpere ich durch die Welt. Verzweifelt folgt mein Blick ihrem vor Aktivität berstenden Schatten hinter dem Paravent. Nach dem Wochenende ist die Deadline für den Auftrag „Picknick im Grünen“:  Accessoires sollen wir entwerfen wie Papierservietten, Papierbecher, Papierteller, Papiertischtücher. Wie gern würde ich es mit ihr gemeinsam machen! Einen Produktnamen brauchen wir auch noch dafür. Nur der erbarmungslose Refrain zu einem Lied, dessen Text ich vergessen habe, tönt in meine innere Leere: Mir fällt nichts ein.

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Kathi:

Es geht mit mir durch: Fächer, Lampions, Trinkhalme (in verschiedenen Hauptfarben des Grunddesigns), Glasmarkierer, Sitzpolster, Geschirrtücher, Tischtücher, ein kleines Booklet mit Picknickrezepten. Mein Kopf sprüht von kräftigen Farben wie erdbeerrot, sonnengelb, tiefblau und moosgrün. Natürliche Materialien, kein Plastik und einen Namen, der Naturnähe suggeriert – vielleicht BackToTheWoods? Yep! (Ich spüre schon wieder ihren Blick, der meinen Schatten fixiert).

 

Die Struktur der Walderdbeere, Blütenblätter von der Sumpf-Dotterblume, blaue Fitzelchen vom Himmel, ein alles umrahmendes Grün. Farnkraut oder Tannengeäst sind mir zu banal. Beim Picknick sitzt man ohnehin in der Wiese: Wiesenkerbel, vielleicht weil der eine so zierliche Blattstruktur hat? Den hol´ ich mir dann noch schnell, die Natur haben wir hier im Büro vor der Haustüre. Alles andere, auch der Name des Designs, ist in meinem Kopf. Es geht mit mir durch.

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Thea:

Kathi packt ihre Sachen. Es ist Freitagnachmittag, ein schöner Sommertag. Am Montag noch Restarbeit. Doch eigentlich ist ihr Entwurf im Kopf fertig. Oh Gott! Im Kopf! An den komme ich nicht ran. Hoffentlich ist auch etwas im Aktenordner. An ihrem Schatten sehe ich, dass sie den zurückstellt und höre ein leichtes „Flop-flap-flop“ mit dem sie die Bänder herumschlingt. Mist. Das muss ich dann wieder fotografieren, um es einigermaßen unverdächtig hinzukriegen.

„Dann tschüs und schönes Wochenende“, sagt sie und setzt auch noch das unerträglich-banale „Freitag ab Eins macht jeder Sein´s“ drauf. Eigentlich ist das bei uns immer so, nicht nur Freitag ab Eins. Die Einsam-Kreative bin ich nicht, mehr die, die in der gemeinsamen Arbeit zu Hochform aufläuft. Ohne Paravent und im Austausch wäre alles anders.

 

„Jaja, ich hab´s auch gleich. Ist doch ein Allerweltsthema.“ Die Lüge kommt mit brüchiger Stimme aus mir und es macht mich traurig, mir zuzuhören und das übliche Quäntchen Argwohn in ihrem Blick zu erahnen. Kathi packt ihre Sachen.

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Kathi:

Seltsam: Wiesenkerbel finde ich hier nicht, obwohl es ihn hier doch immer gab. Stattdessen nehme ich diese anderen Blätter, die sind ohnehin reizvoller. Riesenstauden sind das, wohl zweieinhalb Meter hoch. Wunderschön stehen ihre weißen Blüten in Dolden, dick sind die Stängel. Einfach schön! Ein paar der kleineren Blättchen wähle ich aus. Die Blattform ähnelt zwar nur entfernt dem Kerbel, aber es geht um die Struktur.

Ich greife mir einen Plastiksack und stülpe ihn über die Blättchen; so werde ich sie aufbewahren, damit sie nicht austrocknen. Am Montag ist noch Zeit genug für die Bildkomposition.

 

Ich gehe noch einmal ins Büro. Scheint, als sei Thea weg. Natürlich war sie am Aktenordner. Ich lege den Plastikbeutel in den Leitz. Diesmal verknote ich nichts. Was soll sie mit dem Ding auch anfangen. Sie ist ohnehin vermutlich längst zu Hause. Aber, dass es hier keinen Wiesenkerbel mehr gibt: Seltsam.

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Thea:

Die Mappe ist an ihrem Platz. Ich greife danach. Vorher habe ich sicherheitshalber die Eingangstür verschlossen. Der Entwurf ist tatsächlich in ihrem Kopf, nicht in der Mappe. Mein Kopf dagegen ist leer und das Grüne für das „Picknick im Grünen“ besteht aus ein paar verdorrten Gedanken, die wie kümmerliche Halme aus dem Nichts ragen. Wenn einem die Inspiration abhandenkommt, kann man  es eine Zeitlang vertuschen, aber dann wird´s brenzlig. Ich mühe mich mit der Bänderkonstruktion ab und stelle die Mappe wieder zurück.

 

Jetzt dreht sich ein Schlüssel im Schloss. Ich ducke mich in den Winkel hinter der Tür. Es sind ihre Schritte. Sie sieht mich nicht, ich höre sie zu ihrem Arbeitsplatz gehen. Mit einer schabenden Bewegung holt Kathi die Mappe aus dem Regal und „Flop-flap-flop“ macht sie die Bänder ab. Jetzt habe ich mich grade so geplagt. Sie klappt sie auf, etwas knistert leicht, sie klappt sie zu. Kein „Flop-flap-flop“: Glaubt sie, ich bin schon zu Hause?

 

Die Schritte entfernen sich. Der Schlüssel fällt ins Schloss. Ich greife wieder nach der Mappe.

Drin ist ein Plastikbeutel und darin diese wundervoll strukturierten Blätter. Ich ziehe sie heraus und taste ein Blatt ab, zuerst sehend, dann mit geschlossenen Augen. Möglichst genau. Ich will mir das einprägen. Die Schönheit von Blättern, habe ich gelesen, hat schon Menschen in der Antike zur Gestaltung von Säulendekor angeregt. Korinthische Säulen, wenn ich mich recht erinnere. Halt – ich spüre eine Idee in mir aufsteigen: „Unter den Säulen des Himmels“; so könnte man die Linie nennen. Die Blätter, symmetrisch angeordnet als Motiv in der Ornamentik, gefügt zu einem Fries. Ich schaue mir solche Säulen auf Bildern in Datenbanken an.

 

Ja! Es strömt aus mir. Endlich. Nach so langer Zeit. Geradlinig wird mein Design. Das Marmorweiß der Säulen knallt hinein in das unbarmherzige Blau des Himmels und eine Ranke aus diesen Blättern hält alles zusammen. Die ganze Idee steht glasklar vor mir. Das Wochenende kann kommen. Die Mappe ist an ihrem Platz.

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Kathi:

Helle Aufregung im Büro. Thea hat angerufen. Sie kommt heute nicht. Am Wochenende ist etwas passiert. Zuerst ist sie noch entspannt in der Sonne gelegen, dann war sie im Krankenhaus. Sie kann ihren Entwurf nicht abliefern. Aha. Die Ausreden waren auch schon einmal besser. Gut, ich denke, meiner wird dem Management reichen, ich muss ihn nur noch zu Ende bringen.

 

Ich mache die Mappe auf: alles da. Mein Studienobjekt ist im Plastikbeutel verdorrt. Heute Früh habe ich Schafgarben gefunden – die eignen sich besser – das andere Blatt brauche ich nicht mehr. Was für eine Schnapsidee auch: Gestern überfiel mich plötzlich siedend heiß eine Vermutung, WAS ich da in meine Mappe gelegt habe! Ich nehme einen zweiten Sack und wickle es darin ein; ich entsorge es so, dass auch das Reinigungspersonal damit nicht in Berührung kommen kann.

 

Thea hat gesagt, dass sie keinen Besuch möchte. Ihre Mutter ist bei ihr und tut das Nötigste. Sie kann ihre Hände nicht gebrauchen, die sind bandagiert und es wird noch eine Zeit dauern. Der Schock, die Kreislaufprobleme und Schweißausbrüche sind aber schon im Abklingen.

 

Jetzt dämmert´s mir und ich fühle ich mich schrecklich; den ganzen Tag lang kann ich keinen vernünftigen Gedanken fassen. Hat sie etwa… die Blätter…? Diesmal kann ich es nicht mit Sicherheit sagen, da ich keine Bändchen um die Mappe geschlungen habe. Natürlich hat sie. Ist es meine Schuld?

 

„BackToTheWoods“ erscheint mir als Wortmarke plötzlich barbarisch und erinnert an Steinzeitmenschen, die mit primitiven Keulen einander die Beute abjagen wollen. Die Skizzen fetze ich hin. Bei der Abgabe stellt sich die gewohnte Freude nicht ein, obwohl die Kreativdirektorin „Wow!“ sagt (was als Anerkennung gilt). Helle Aufregung im Büro.

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Thea:

Die Ärztin schaut mich verständnislos an: Es sei doch allgemein bekannt, dass der Kontakt mit Riesenbärenklau („Nicht zu verwechseln mit Wiesenbärenklau!“) bei Berührung und Sonneneinstrahlung innerhalb von 24–48 Stunden zu schweren Hautentzündungen mit starker Blasenbildung führt. Sie macht mir klar, dass das Abheilen ein langsamer Prozess sein wird. Möglicherweise bleiben Narben oder Pigmentierungen. Ich schaue meine Hände an, als sie den Verband wechselt: bizarr sieht das aus.

 

Sie will wissen, wo ich die Pflanze gefunden hätte. Ich sage: „Da war ein unerwartetes Blatt im Aktenordner.“ Die Ärztin schaut mich verständnislos an.

 

 

Version 2