Von Florian Ehrhardt

„Es tut mir leid, Alina.“

„Es tut dir leid? Das kannst du dir hinstecken, wo du willst! Stell dir vor, was passiert wäre, wenn ich das Bild nicht hätte verschwinden lassen!“ Sie schnippt sich genervt eine Strähne ihrer langen, braunen Haare aus dem Gesicht.

Ich bereue es bereits, den Gesprächsversuch gestartet zu haben. „Aber ich—“

„Nix aber! Sobald wir zurück sind, melde ich das der Personalabteilung!“ 

Ein unangenehmes Glühen beginnt in meinem Nacken und breitet sich in meinem Gesicht aus. „Aber Alina, das kannst du doch nicht machen!“

Sie schnaubt entrüstet. „Ich kann das nicht machen? Ich?“ Sie wirft mir einen eiskalten Blick vom Beifahrersitz zu. „Das hättest du dir vielleicht vorher überlegen sollen! Und vor allem: Hör auf, mich Alina zu nennen! Ich will nicht mehr von dir geduzt werden!“

Ich umklammere das Lenkrad des Mietwagens, bis meine Knöchel weiß hervortreten. „Das kannst du mir nicht antun! Ich habe schon tausend Mal gesagt, dass es mir leidtut!“

„Drei Mal.“ Ihre blauen Augen blitzen mich wütend an. „Du hast es drei Mal gesagt, und kein einziges Mal war ernstgemeint.“

Ich beschließe, das Gespräch mit meiner Kollegin zu beenden und versinke stattdessen in Selbstmitleid. Ich bin der größte Vollidiot unter der Sonne. Man sollte doch meinen, dass eine zweitägige Geschäftsreise von München nach Würzburg mit nur einem einzigen Kundentermin auch ohne Zwischenfälle ablaufen könnte. Wie konnte ich auf die Idee kommen, dass mein Dickpic in ihrer Akte zum Termin ein intelligenter Flirtversuch wäre?  Klar, letztes Jahr auf der Weihnachtsfeier hat es zwischen uns definitiv geknistert, aber war das der Glühwein oder hat sie damals wirklich mit mir geflirtet? Was du jetzt gemacht hast, war aber kein Flirtversuch, nicht mal eine billige Anmache, sondern sexuelle Belästigung und führt unweigerlich zur Kündigung, sagt die Stimme in meinem Kopf.

Vielleicht hätte ich doch gestern Abend im Hotel den nackten Mann versuchen sollen, wenigstens wäre dann jetzt „nur“ das Verhältnis mit Alina im Eimer und nicht noch dazu meine ganze Karriere. Das Bild ist ein handfester Beweis, die krakelige Handschrift, in der die anzügliche Nachricht – willst du meine Fleischpeitsche?“ – auf der Rückseite verfasst ist, kann man eindeutig als meine identifizieren.

Das Navi reißt mich aus meinen verwirrenden Gedanken, um mir zu sagen, dass ich die nächste Ausfahrt nehmen soll, also setze ich den Blinker.

„Was soll das jetzt, Samuel?“, faucht Alina.

Meine Mundwinkel zucken leicht nach oben, da wir uns offensichtlich immer noch duzen. „Google Maps hat‘s so gesagt. Wahrscheinlich Stau oder so.“, murmele ich.

Alina seufzt. „So eine Scheiße. Ich will um acht daheim sein, das weißt du, oder?“

Ich werfe einen kurzen Blick auf das Navi. Keine drei Stunden, bis wir zurück sind. „Maps sagt 19:23 Uhr, ist das okay?“ Ich versuche, versöhnlich zu klingen.

Meine Beifahrerin winkt genervt ab.

 

Eine Stunde später ist klar, dass 19:23 Uhr wohl kaum etwas wird. Wir fahren durch irgendein Dorf im Norden Bayerns, das wahrscheinlich auf -kirchen endet, haben uns trotz Navi verfahren und sind auf der Suche nach einer Tankstelle. Die Luft im Auto ist noch dicker geworden. Ich bleibe vor einem offensichtlich renovierungsbedürftigen Haus stehen, dessen Besitzer in der Hofeinfahrt steht.

„Jetzt steig halt aus und frag den Typ, der da am Zaun steht, nach dem Weg!“, zischt Alina.

„Der sieht ziemlich komisch aus“, meine ich nach einem flüchtigen Blick auf den fetten Mann, der uns kritisch zu beäugen scheint.

„Ja und? Wenn wir hier nicht bald was finden, kannst du das Auto zurück nach München schieben!“

Ich seufze und steige vorsichtig aus. „Entschuldigung!“, rufe ich dem Mann entgegen, während ich ihm langsam entgegenkomme, „wissen Sie, wo es hier eine Tankstelle gibt?“

„Verpiss dich!“, ruft mir der Mann entgegen, während er mit dem Gartenschlauch seinen Vorgarten wässert. Seine langen, fettigen Haare flattern im Wind des endenden Sommers.

Ich komme dem Gartenzaun etwas näher. „Wie Bit—“

„Haste schon richtig gehört!“, brüllt mir der Mann entgegen, um dann den Gartenschlauch auf mich zu richten.

Ein Schwall Wasser trifft mich, ich stolpere erschrocken zurück. „Spinnen Sie eigentl—“

Mein Gegenüber richtet den Gartenschlauch etwas höher und trifft mein Gesicht. „Was verstehst du an verpiss dich! nicht?“

Mir verschlägt es die Sprache. Ich renne zurück zum Auto und trete aufs Gaspedal, noch bevor ich richtig sitze.

„Was zum Teufel war das?“, fragt Alina mit schreckgeweiteten Augen.

Ich höre sie nicht wirklich, bin damit beschäftigt, das Auto abzuwürgen. Aus dem Augenwinkel sehe ich noch, wie der Fettsack etwas aufhebt, um es in unsere Richtung zu werfen.

Der faustgroße Stein trifft das Heck des Autos und prallt ab. Die Frage, was der Sixt-Typ wohl dazu sagen wird, schießt mir nur kurz durch den Kopf.

„Fahr!“, kreischt Alina und klammert sich an meine Schulter.

Ich lasse die Reifen durchdrehen, rieche den verbrannten Gummi, während uns ein zweiter Stein nur knapp verfehlt. Das Auto schießt los, ich biege mit Vollgas ums Eck und endlich taucht vor uns die langersehnte Tankstelle auf.

Ich würge den Motor ab. „Sollen wir die Polizei rufen?“, schnaufe ich.

Alina nickt atemlos. „Kann ich machen.“ Dann fällt ihr auf, dass sie immer noch meine Schulter umklammert und zieht ihre Hand schnell weg. „Glaub nicht, dass ich dir deshalb verzeihe!“, zischt sie und steigt aus, um mit der Polizei zu telefonieren.

 

Die Polizistin blickt uns genervt an. „Also, jetzt nochmal langsam. Wer möchte wen anzeigen?“

Ich trete vor. „Wir wollen den Verrückten anzeigen, der unseren Mietwagen mit einem Stein abgeworfen hat!“ Ich gestikuliere und zeige auf die Delle am Kofferraum.
Die Polizistin zuckt die Achseln. Ihr Kollege hat das Auto nicht einmal verlassen. „War das der Richie?“

Mein Puls schnellt nach oben. „Sie kennen den Typen?“

„Wegen ihm sind wir alle zwei Tage in diesem Scheißdorf! Früher war der Richie hier nur der Dorftrottel, aber der Depp hat’s halt übertrieben. Faselt ständig was von Massenverdummung durch Impfungen und hat damit in diesem Scheiß YouTube hunderte Fans bekommen. Und tausende Gegner, die mittlerweile seine Adresse rausgefunden haben und ihm jetzt ständig Besuche abstatten.“ Sie seufzt. „Jeden Tag ist hier alles voller Internet-Idioten! Wissen Sie, eigentlich kann einem der Richie fast leidtun, aber er ist halt dumm…und prügelt sich dann mit seinen „Besuchern“. Das dauert nicht mehr lange, dann baut er sich ne Selbstschussanlage!“

Alina schaltet sich ein: „Das ist ja alles ganz furchtbar! Aber trotzdem, der Typ hat uns angegriffen!“ Sie holt tief Luft und wirft mir einen bitterbösen Blick zu. „Und außerdem—“

Ich weiß, dass sie jetzt über meine Verfehlungen reden will und schneide ihr das Wort ab. „Außerdem hat es das fette Arschloch ja wohl offensichtlich verdient, was mit ihm passiert, oder?“

Die Polizistin blickt mich wütend an. „Jetzt mal nicht so voreilig. Wenn Sie in so einer Situation wären, würden Sie bestimmt auch ständig ausrasten. Der Richie ist auf seine Art eher das Opfer hier.“ Sie ruft ihren Kollegen zu sich. „Hans, kommst du bitte?“ Dann wendet sie sich wieder an uns. „Wissen Sie, wie wir das jetzt regeln? Der Richie entschuldigt sich bei Ihnen und Sie fahren weiter, dann ist die Sache aus der Welt. Was Sie da fahren ist doch eh ein Mietwagen, oder?“ Ihr Blick lässt keinen weiteren Protest zu.

 

Wir laufen zurück zum Haus des Verrückten, Alina unterhält sich leise mit der Polizistin. Ich hoffe, dass die beiden Frauen nicht über mich, sondern über den Fleischberg sprechen, will das Gespräch am besten verhindern, doch eine fast schon vertraute Stimme erledigt das und brüllt über die Straße.

„Ihr denkt vielleicht, ihr könnt mich fertig machen, weil ich dick bin und deshalb für euch den Dorftrottel spiel‘, oder?“

Ich beschleunige meinen Schritt und finde mich plötzlich in einer Gruppe junger Männer wieder, die den dicken Mann – Richie – umringt.

Er starrt seine Gegenüber mit wütenden Augen an. „Aber ich bin nicht euer Kasper! Dicke Menschen können auch intelligent sein!“

„Können schon, aber du bist es nicht!“, murmelt einer aus der Gruppe und erntet zustimmendes Kopfnicken.

„Ihr verdammten Arschlöscher!“, schreit der Fleischberg. „Komm her, wir klären das jetzt Mann gegen Mann und ich prügle die Scheiße aus dir raus!“ Der breiter werdende fränkische Dialekt in seiner Stimme macht die Situation noch grotesker.

Die Polizistin tritt hervor. „Richie, jetzt beruhige dich doch endlich!“

„Einen Scheißdreck werde ich mich beruhigen! Ich bin hier nicht der Depp!“

Die Polizistin versucht zu beschwichtigen: „Mensch Richie, darum geht’s nicht, sondern um deine blöden Internetfeinde, die hier das Dorfleben zerstören! Nur wegen dir sind diese ganzen Vollidioten unterwegs!“

„Die kommen zu mir, weil ich der Einzige bin, der ihnen die Wahrheit sagt!“

„Die Wahrheit? Spinnst du? Du hast erzählt, dass Impfungen aus Babyknochen gemacht werden! Du hast den Bezug zur Realität verloren!“

„Nehmt dem Depp halt einfach seinen Computer weg!“, ruft einer der Männer.

„Haltet alle die Klappe!“, brüllt der Fleischberg. Schweißperlen stehen in seinem Gesicht.

„Wegen dir geht hier alles vor die—“

Weiter kommt die Polizistin nicht, denn der Fettsack versucht, ihr eine Ohrfeige zu verpassen.

Sie fängt die fleischige Hand ihres Gegenübers ab, ihr Kollege sprintet hervor und dreht dem Fettsack den Arm auf den Rücken. In Windeseile legt er ihm Handschellen an.

„Diesmal nehmen wir dich mit!“, schnauft die Polizistin dem Fleischberg entgegen.

„Gut so!“, rufe ich.

„Und Sie auch!“, ruft der Polizist.

„Warum denn uns?“, fragt einer der jungen Männer.

„Sie nicht. Den!“ Er deutet auf mich.

„Mich?“

Die Polizistin tritt wieder vor. „Ihre Kollegin hat uns gerade eben am Telefon alles erzählt.“

Alina lächelt triumphierend. „Du hast doch nicht wirklich gedacht, dass ich dir das durchgehen lasse, oder?“

Mir fällt nichts mehr ein. Schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen. Ich schüttele kraftlos den Kopf und lasse mich widerstandslos mitnehmen.