Von Angelika Brox

Claudia wartet auf Christian. Sie hat es sich in einer Ecke des Sofas bequem gemacht, vor sich auf dem Couchtisch eine Tasse Kaffee und das Geschenk.
Aged 10 Years steht auf dem edel gestalteten Pappkarton. Den Whisky hat sie ausgesucht, weil er genauso alt ist wie ihre Ehe. Zu besonderen Gelegenheiten trinkt Chris gerne mal einen Single Malt.

Sie hasst Warten. Als sie ein Kind war, las ihre Mutter dem großen Bruder  jeden Wunsch von den Augen ab und Claudia musste sich gedulden, bis für sie etwas Aufmerksamkeit abfiel. Erst viel später hat sie verstanden, dass Mädchen nicht automatisch in die zweite Reihe gehören.

Der erste Schluck Kaffee ist immer der schönste. Claudia genießt und lächelt. Dann lässt sie sich in die dicken Kissen sinken und schaut aus dem Fenster. Passend zu diesem besonderen Tag strahlt die Sonne vom wolkenlosen Himmel.
An ihrem achtzehnten Geburtstag herrschte auch so wunderbares Wetter. Claudia hatte sich mit ihrer besten Freundin Stefanie verabredet. Sie wollten shoppen und essen gehen … Steffie kam nicht. Ihr Handy war ausgeschaltet. Spät am Abend meldete sie sich, kleinlaut und schuldbewusst. Ein neuer Lover hatte sie zu einer Bootstour auf der Müritz eingeladen und vor lauter Verliebtheit hatte sie die Geburtstagseinladung völlig vergessen.
Claudia hat ihrer Freundin zwar verziehen, aber ein wenig schmerzt die Erinnerung trotzdem noch.
Schnell trinkt sie einen Schluck Kaffee und versucht, an etwas anderes zu denken.

So langsam könnte Christian mal eintrudeln. Normalerweise macht er freitags immer früher Schluss und ist gegen drei Uhr hier. In letzter Zeit kommt er auffällig oft später nach Hause. Natürlich hat er immer eine Ausrede parat. Entweder war im Job viel zu tun oder er hatte spontan Lust, sich mit einem alten Freund zu treffen, oder seiner Mutter ging es nicht so gut … Irgendetwas ist immer. Claudia will ihm ja gerne glauben, doch manchmal fällt es ihr schwer.
Sie lässt ihre Finger über die erhabene Schrift auf dem Pappkarton gleiten.
Aged 10 Years.
Vorsichtig öffnet sie die Schachtel, nimmt die Flasche heraus und stellt sie auf den Tisch. Im einfallenden Sonnenlicht schimmert der Whisky wie Bernstein.
Nachdenklich nippt sie an ihrem Kaffee. Es könnte sein, dass ihre Ehe das zehnte Jahr nicht überlebt. Im vergangenen Jahr hat ihr lieber Mann zum ersten Mal den Hochzeitstag vergessen. Das sagt ja einiges aus. Sie ist gespannt, ob er heute daran denkt. Falls er es wieder vergisst – das wäre wie ein Schlag mit dem Hammer!

Claudia schaut auf ihre Uhr und schnauft ungeduldig.
„Mistkerl“, knurrt sie in Richtung Wohnungstür.
Als sie ihn neulich von der Arbeit abholte, beobachtete sie vom Auto aus, wie er mit einer attraktiven Frau aus dem Gebäude kam. Die beiden schienen sich blendend zu verstehen, sahen sich ständig in die Augen und lachten. Später erklärte er mit Unschuldsmiene, das sei diese neue Kollegin gewesen, von der er schon öfter erzählt habe, die so ein Gewinn für die Firma sei.
Ein Gewinn, na klar. Fragt sich nur, für wen …

Ihre Kaffeetasse ist halb leer. Christian würde natürlich sagen, halb voll. Typisch für ihn. Aber so, wie er sich benimmt, trifft halb leer ja wohl eher die Wahrheit.
Eigentlich trinkt sie ja keinen Alkohol …
Sie nimmt die Flasche in die Hand und bewundert die goldbraune Farbe des edlen Tropfens. Warum sollte sie sich nicht trösten, wenn ihr Mann sie sitzenlässt?
Entschlossen öffnet sie den Verschluss und gibt einen Schuss Whisky in die Tasse.
Der erste Schluck schmeckt interessant, fast wie Irish Coffee, es fehlt nur das Sahnehäubchen.
Nach einigen weiteren Schlucken breitet sich angenehme Wärme in ihrem Körper aus. Sie lehnt sich zurück und blättert in der Fernsehzeitschrift. Aber sie kann sich nicht konzentrieren und lässt sie auf ihren Schoß sinken.
Wann hat er aufgehört, sie zur Begrüßung zu küssen? Als die schöne neue Kollegin eingestellt wurde? Mehr als ein lahmes „Hallo, Schatz“ ist sie ihm wohl nicht mehr wert.
Es ist zum Heulen. Tatsächlich bemerkt sie, dass Tränen ihre Wangen hinablaufen. Energisch wischt sie sich mit einem Ärmel über das Gesicht. Andererseits, was spielt es für eine Rolle, ob sie verheult aussieht, wenn Chris nach Hause kommt? Er wird sie wahrscheinlich kaum anschauen.
Sie spült den Kloß im Hals mit einem Schluck von ihrem selbstgemachten Irish Coffee hinunter.

Neulich hat sie Chris erwischt, wie er mit Steffi telefonierte. Steffi ist ihre Freundin, nicht seine! – Oder? – Manche Männer machen ja vor nichts Halt.
Also nicht nur die Kollegin, sondern auch ihre beste Freundin? Gleich zwei Affären? Ist das die Midlife-Crisis?
Als sie ihn fragte, was er denn mit Steffi zu besprechen habe, beendete er rasch das Gespräch, machte ein verlegenes Gesicht und behauptete, er hätte sich für eine Kollegin nach Yogastunden erkundigt.
Sehr originell! Für wie dumm hält er sie? Es hätte gereicht, dieser Kollegin die Nummer von Steffis Studio zu geben.

Als der Schlüssel ins Schloss gesteckt wird, trinkt Claudia hastig die Tasse leer, packt die Flasche in die Schachtel zurück und lässt sie hinter einem Sofakissen verschwinden. Dann hält sie sich die Zeitschrift vor die Nase und lauscht auf die Geräusche im Flur.
Christian erscheint im Türrahmen und sagt: „Hallo, Schatz!“
Sie schielt auf seine Hände. – Nichts. – War ja klar. Schon wieder hat er den Hochzeitstag vergessen! Am besten lässt sie sich nichts anmerken …
„Den Schatz kannst du dir an den Hut stecken!“, platzt es aus ihr heraus. „Verrate mir lieber mal, wo du so lange warst!“
„Unser Projekt ist gerade in der heißen Phase und …“
„Ha, diese heiße Phase kann ich mir lebhaft vorstellen!“
„Sag mal, hast du getrunken?“ Schnüffelnd reckt er die Nase vor.
„Na wenn schon! Was interessiert dich das? Du vergisst ja sogar unseren Hochzeitstag!“
„Das ist mir ein einziges Mal passiert und ich habe mich tausend Mal entschuldigt, du kannst …“
„Und was ist heute? Schon gemerkt, welches Datum wir haben?“
Ihr fällt selbst auf, wie aggressiv ihre Stimme klingt.
Christian atmet tief durch, lässt sich in einen Sessel sinken, zieht ein blasslila Kuvert aus der Jackentasche und legt es auf den Tisch.
„Für dich. Der lag im Kasten.“
Hat sie vergessen, den Briefkasten zu leeren? Sie kann sich nicht erinnern.
Misstrauisch beäugt sie den Umschlag. Neben ihrer Adresse prangt das Logo von Steffis Yoga-Studio, eine stilisierte Lotosblüte. Die Briefmarke trägt keinen Stempel. Was hat das zu bedeuten?
„Die Briefmarke ist nicht gestempelt“, sagt sie und schaut ihn ratlos an. Für einen Moment weiß sie nicht weiter.
Christian lacht. „Umso besser“, antwortet er munter, „so kannst du sie noch mal benutzen.“
Er lacht! Das ist zu viel!
Sie kneift ihre Augen zu Schlitzen zusammen, holt Luft und schreit ihn an: „Du findest das alles wohl witzig, wie?“
Erschrocken zieht Christian den Kopf ein.
„Was ist denn los?“, fragt er.
„Gar nichts ist mehr los mit uns, das ist los!“
Er hebt beschwichtigend die Hände.
„Beruhige dich bitte und lass mich erklären …“
„Ja genau, erklär mir mal, warum Steffi mir schreibt, statt mich anzurufen? Was läuft da zwischen euch? Darf ich das vielleicht mal erfahren?“
Christian richtet sich auf und stemmt die Hände auf die Knie.
„Jetzt mach mal langsam einen Punkt!“, ruft er. „Du bist doch nicht etwa eifersüchtig auf deine beste Freundin?“
„Oder ist es die Kollegin mit den Yogastunden? Ist das deine heiße Phase?“
Er springt auf.
„So, es reicht. Feier deinen Hochzeitstag von mir aus alleine!“
Mit wütenden Schritten stampft er in den Flur und wirft die Haustür hinter sich zu.

Bei dem Knall zuckt Claudia zusammen. Eine Weile bleibt sie regungslos sitzen. Schließlich nimmt sie den Umschlag mit der Lotosblüte in die Hand, dreht ihn unschlüssig hin und her, reißt ihn auf und zieht einen zartvioletten Briefbogen heraus.
Nachdem sie ihn entfaltet hat, liest sie:
„Liebe Claudia,
sicher ist es nur ein Versehen, dass du den Beitrag für dieses Jahr noch nicht bezahlt hast. Bitte hole es baldmöglichst nach.
Namaste,
Stefanie Shanti Priya.“

Empört wirft sie den Brief auf den Tisch. Sie hat das Geld längst überwiesen, das weiß sie genau.
Eilig geht sie zum Wohnzimmerschrank, zerrt den Bankordner heraus und blättert im Stehen die Kontoauszüge durch. Plötzlich stutzt sie. Zwischen zwei Belegen ist ein Zettel eingeheftet, der Christians Handschrift trägt.
„Nicht ärgern, Liebling!“, liest sie. „Steffi hat sich nur einen Scherz erlaubt. Du bist hoffentlich gegen Streiche versichert!“
Verwirrt schüttelt sie den Kopf. Dann dämmert es ihr. Sie zieht den Versicherungsordner heraus und öffnet ihn. Auf dem zuoberst abgehefteten Blatt steht in großen Druckbuchstaben die Frage: „Ist dein Auto gut versichert?“
Eine Schnitzeljagd! So ähnlich hat er ihr damals den Heiratsantrag gemacht. Ach, war das romantisch …
Ihr Blick verschwimmt, als sie den Pkw-Ordner aufschlägt und den Flyer einer Wohnmobil-Vermietung entdeckt. Darunter hat Chris einen Brief eingeheftet: „Alles Gute zum Hochzeitstag, mein Schatz! Eines dieser gemütlichen Heime auf Rädern gehört an diesem Wochenende uns. Das Reiseziel darfst du aussuchen. Ich freue mich auf viele weitere Jahre mit dir!“

Ihre Hochzeitsreise haben sie damals in einem Wohnmobil gemacht.
Wunderschöne Erinnerungen überfluten sie.
Claudia wirft den Ordner aufs Sofa und rennt zum Fenster.
Natürlich ist weit und breit kein Wohnmobil mehr zu sehen.
„Scheiße“, flüstert sie.

 

V2