Von Peter Wobbe

Die Glastür wurde aufgerissen. Erwin Fischers schneidende Stimme übertönte den Bürolärm: „Wo steckt der 38er Sattel? Die Baustelle wartet!“
Er sah Frank, seinen Disponenten, herausfordernd an. „Gibt´s Probleme?“
„Ja, unser Neuer, Lukas Goldberg, will nicht weiterfahren. Ich habe ihn gerade in der Leitung. Er meint, er  hätte seine Lenkzeit längst überschritten und wäre zu kaputt, um die Tour fortzusetzen.“
„Ja, spinnt denn der?“, raunzte Fischer. „Sehen Sie zu, dass der seinen Arsch bewegt! Pause kann er machen, wenn er die Maschinenteile abgeladen hat. Der Kran wartet und kostet Geld. Das zieh ich ihm vom Lohn ab!“
„Aber …“ 
„Kein Aber!“
Frank spürte Wut in sich aufsteigen. Auf sich selbst. Zu viel schon hatte er von der Art seines Chefs übernommen, seinem „Time is Money“, dem Gefasel von Kostenapparat, Effektivität und „nur die Besten überleben“. Der Preisdruck der Konkurrenz lieferte die Rechtfertigung, es mit den Bestimmungen nicht ganz so genau zu nehmen. Bußgelder gegen Fahrer und Disponenten wurden anstandslos von Fischer beglichen, sie stellten nur einen Kostenfaktor in der Kalkulation dar.
Im Büro war es leiser geworden. Jeder lauerte auf das, was als nächstes geschehen würde.
„Ich werde Goldberg nicht zwingen weiterzufahren“, sagte Frank mit ruhiger Stimme.
Fischer grinste ihn böse an, kam auf ihn zu, riss ihm das Telefon aus der Hand und brüllte in den Apparat: „Goldberg, Sie werden weiterfahren, sonst war heute Ihr letzter Arbeitstag!“
Er wartete einen Moment, schob den Hörer in die Ladestation und schaute befriedigt in die Runde.
Dann wandte er sich kalt lächelnd an Frank. „Wir sprechen uns noch! Für mich ist das Arbeitsverweigerung.“
Mit diesen Worten verließ er den Raum.
Frank schüttelte kurz den Kopf und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. Gedankenverloren fingerte er eine Zigarette aus der Schachtel und  steckte sie ärgerlich wieder zurück. Der Job machte ihn zum Kettenraucher.
Nach dem Ausfall seines Kollegen war Frank allein für die Disposition von 40 Lkw verantwortlich. Für knappe Termine. Zu knappe Termine auf Kosten der Fahrer. Wie Schachfiguren schob er sie in alle Ecken Europas und das, obwohl ihm klar war, dass er den Fahrern fast immer zu viel zumutete. Ein Sklavenjob. GPS, Internet, Fax, Handy, er wusste zu jedem Zeitpunkt, wo sich Ladung und Fahrer befanden.
Totale Kontrolle – von wegen “Freiheit eines Truckers“.
Und er? Auch ein Sklave.
Ja sicher, am Anfang hatte er sogar Gefallen an dieser hektischen Atmosphäre gehabt. Er spielte gekonnt auf der Klaviatur von Informationen und Entscheidungen. Die Umsatzbeteiligung tat da ein Übriges.
Doch Spaß an der Arbeit – die Zeiten waren längst vorbei. Nach dem Ausscheiden des anderen Disponenten, der nie ersetzt wurde, lastete alles auf ihm. Das ständige Klingeln der Telefone, die Fragen der Fahrer und Lagerarbeiter, Fischers cholerische Anfälle, dazu tägliche Überstunden und die Rufbereitschaft am Wochenende.
Der Job war eine Tretmühle.
Er sehnte sich nach Ruhe und Abstand. Dann diese Magenschmerzen, in letzter Zeit traten sie vermehrt auf. Immer, wenn die Hektik am größten war. Zunächst hatte er sie ignoriert, dann nahm er Tabletten, aber inzwischen halfen die kaum noch.
Die Stelle wechseln – mit diesem Gedanken spielte er schon geraume Zeit. Die Angebote in den Fachzeitschriften gehörten mittlerweile zu seiner Pflichtlektüre.
Einen Großteil der Firmen kannte er und er hatte gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen. Alle suchten den jungen, erfahrenen, dynamischen, unternehmerisch denkenden und belastbaren Leistungsautomaten mit guten Verbindungen zur verladenden Wirtschaft.
Da konnte er direkt hierbleiben.
Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und Fischer stampfte mit hochrotem Kopf ins Büro.„So ein Mist, wir haben einen Ausfall! Die Autobahnpolizei hat mich gerade informiert, der 38er ist bei Stuttgart ungebremst in ein Stauende gefahren.und hat einen Pkw zusammengedrückt.“
Frank spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. „Das ist Goldberg! Weiß man Genaueres?“
„Der Autofahrer ist tot. Die Sattelzugmaschine ist hin und wird zur Werkstatt nach Feuerbach geschleppt. – Haben wir einen Wagen in der Nähe, der den Sattel übernehmen kann?“ Fischer klang schon wieder ganz geschäftsmäßig.
„Weiß nicht“, murmelte Frank geistesabwesend.
„Was ist los? Prüfen Sie das!“
Frank schluckte. „Ich muss das erst mal verdauen.“
„Was ist schon passiert? Ein Unfall bei den vielen Kilometern, die wir abreißen. Ich hatte bei unserem Neuen sowieso kein gutes Gefühl, zu jung, zu unerfahren. Übrigens will ich den hier nicht mehr sehen. Soll sich der Frischling woanders seine Hörner abstoßen. – Also sorgen Sie dafür, dass ein anderer den Sattel übernimmt und die Tour weiterfährt!“
„Was ist mit Goldberg?“, fragte Frank, von der Kaltschnäuzigkeit seines Chefs irritiert.
„Ach so, der liegt mit einem Schock im Krankenhaus, vielleicht informieren Sie mal die Familie. Und bringen Sie mir seine Personalakte aus der Buchhaltung!“
Mit diesen Worten drehte Fischer sich zur Tür und verließ das Büro.
Frank zerrte eine Zigarette aus der Schachtel. Mehrmals rutschte sein Daumen vom Feuerzeug ab.Er ließ beides auf den Schreibtisch fallen und stützte seinen Kopf in die Hände.
So konnte und wollte er nicht mehr weitermachen.
Er fühlte sich mitschuldig am Tod eines Menschen. Immer wieder hatte er daran gedacht, was durch die Art seiner Disposition alles passieren könnte, doch diese lästigen Gedanken schnell beiseitegeschoben. Jetzt holte ihn alles wieder ein. Der Druck, den er auf die Fahrer ausgeübt hatte.Sein bequemes, aber wirksames Argument, wenn gegen Unzumutbares protestiert wurde:„Draußen warten schon hundert andere Fahrer, um deinen Job zu bekommen.“ Das wirkte meistens.
Noch nie hatte er es so deutlich erkannt wie in diesem Augenblick: Er machte einen Scheißjob, war zum Sprachrohr seines Chefs geworden, hatte Fischers Vogel-friss-oder-stirb-Einstellung übernommen. Wie blind er doch gewesen war! Wieso fielen ihm betriebliche Entscheidungen immer leicht, während er große Probleme damit hatte, Entscheidungen für sich selbst zu treffen?Damit sollte Schluss sein. So nie mehr!
Fischer hatte ihm mit der ungesetzlichen Anweisung, Goldberg zur Weiterfahrt zu zwingen, die Möglichkeit gegeben, sich sofort zu verabschieden. Jetzt wusste er, was zu tun war.Er spürte in sich eine große Erleichterung. Mit einer gewissen Genugtuung dachte er aber auch an die Probleme, die Fischer durch seinen plötzlichen Wegfall haben würde.
Er räumte seinen Schreibtisch, schrieb seine Kündigung auf ein Blatt Papier, besorgte sich Goldbergs Personalakte aus der Buchhaltung, packte sein Schreiben dazu und legte Fischer alles auf den Tisch.
Der bedankte sich, ignorierte das Klingeln seines Telefon und sagte versöhnlich: „Vergessen Sie das mit der Arbeitsverweigerung, wir brauchen Sie ja noch.“
Dabei klappte er den Ordner auf, blickte auf das obere Blatt, las kurz, runzelte die Stirn und knurrte: „Was soll das?“
Frank ignorierte die Frage, wandte sich zur Tür, drehte sich kurz noch einmal um und lächelte vielsagend. „40 Lkw warten auf Sie.“

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