Von Gabriele Lengemann

Die elektronische Zeiterfassung am Eingang des Gebäudes zeigt 5:33. Es ist noch dämmrig, als ich mich an diesem Augustmorgen an meiner Arbeitsstelle, der Betriebskrankenkasse einer großen Autofirma, einlogge. Ich genieße die Stille, die mich umfängt. Die Anwesenheit wird erst ab 6 Uhr auf die Arbeitszeit angerechnet, außer mir ist niemand so blöd, so früh zu erscheinen. Ich habe es zuhause einfach nicht mehr ausgehalten, die letzte Nacht war genauso scheußlich wie die vielen anderen zuvor. Es hat wieder nur zu drei, höchstens vier Stunden Schlaf gereicht, und dementsprechend erwarte ich nichts von diesem Tag, außer dass er möglichst schnell vorübergehen möge. 

Kurz überlege ich, ob ich ausnahmsweise den Fahrstuhl nehmen soll, um in mein Büro im 3. Stock zu gelangen, entscheide mich aber dann doch für die Treppe. Gut, dass niemand sieht, wie ich, ein 44-jähriger, sportlich durchtrainierter Mann, mühsam wie ein Greis, Stufe für Stufe erklimme. 

Ich schließe mein Büro auf und registriere erstaunt, dass „Sie“ bereits da gewesen sein muss. Der Duft ihres Parfums hängt im Raum. Er vermischt sich mit der noch kühlen Luft, die durch das geöffnete Fenster hereinströmt, umhüllt mich wie eine zärtliche Umarmung und lässt meine Müdigkeit im Nu verfliegen.

Sie besitzt einen Universalschlüssel und hat wohl in Anbetracht der an diesem Tag zu erwartenden Hitze überall die Fenster geöffnet.  Sie, das ist Esther Lange, die neue Chefin unserer Abteilung. Vor genau einer Woche haben wir uns geküsst.  Esther hatte Kuchen und Sekt zu ihrem Einstand spendiert, und ich half ihr nach Feierabend, die Körbe mit dem benutzten Geschirr und den Flaschen in den Fahrstuhl zu tragen. Als sich die Türen schlossen, beugte sie sich zu mir herüber und küsste mich.
Es war ein leidenschaftlicher Kuss, erst im Erdgeschoss lösten wir uns voneinander.
„Auf gute Zusammenarbeit“, flüsterte sie mir zu, als wir zu ihrem Wagen gingen. Ich stellte ihre Körbe in den Kofferraum, sie warf mir eine Kusshand zu und fuhr davon. Seither benimmt sie sich, als sei nichts geschehen, und ich warte, wie ein gehorsames Hündchen darauf, dass sie mir ein Zeichen gibt, ob und wie es denn nun mit uns weitergeht. 

Esther ist Anfang Vierzig, frisch geschieden und kinderlos. Ihre langen, schlanken Beine setzt sie gekonnt mit schmalen Röcken und hohen Schuhen in Szene, und sie trägt meist enge Blusen unter den Kostümblazern, die ihre wohlgeformten Brüste betonen.  Ich bin völlig fasziniert von ihr und versuche, ihr so oft wie möglich nahe zu sein. Als alter Hase im Krankenkassengeschäft erkläre ich ihr alle Arbeitsabläufe, informiere sie über Richtlinien und Verfügungen und gehe ihr ständig zur Hand. Im Grunde erledige ich zusätzlich zu meinen Aufgaben auch noch ihren Job.

An diesem Morgen liegt ein Aktendeckel auf meinem Schreibtisch. Er enthält einen weißen Bogen und ich erkenne ihre Anschrift.

Bitte Rücksprache um 10 Uhr bei mir, steht da und in Klammern: (du weißt schon). Darunter hat sie mit wenigen Strichen zwei aneinanderstoßende Sektgläser gezeichnet und ihr schwungvolles “E“ daruntergesetzt. Ich kann meinen Blick nicht von diesem “E“ wenden, das sich mit seinen beiden schnörkellosen, fest ins Papier eingedrückten Bögen über die untere Hälfte des Blattes erstreckt. Dieses “E“ steht für Energie, Eleganz, Ersehnen und Erotik, das sieht man genau.  Nachher würden wir da weitermachen, wo wir im Fahrstuhl aufgehört haben.

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Ich versinke in glücklicher Erwartung, als sich die Tür öffnet und mein Arbeitskollege Dieter, mit dem ich das Büro teile, hereinkommt. 
„Na, bist du wieder geflüchtet von daheim?“, fragt er. „Es ist ja noch nicht mal 7 Uhr“. 
Er nimmt einen Frühstücksteller aus dem Rollcontainer unter seinem Schreibtisch, legt eine Laugenbrezel darauf und stellt den Teller zusammen mit einer kleinen Flasche Cola vor mich hin.
„Damit du nicht vor Schwäche umfällst“, sagt er.
„Bin schon seit einer Stunde da“, knurre ich, schließe schnell den Aktendeckel und schiebe ihn in die Schreibtischschublade. „Ich kann dir nur raten, keine Kinder mehr in die Welt zu setzen, wenn du über vierzig bist. Den Schlafentzug hält man in dem Alter nicht mehr aus“.
Dieter schaut mich mitleidig an.
„Nimm dir doch ab morgen für ein paar Tage frei und teilt euch die Aufgaben zuhause. Ich zeichne deinen Urlaubsantrag ab.
„Um Himmels willen“, sage ich. „Ich bin ja froh, wenn ich flüchten kann“. Schuldbewusst denke ich an Uta, meine Frau, die heute Morgen wieder völlig ausgemergelt und erschöpft ausgesehen hat, als sie unseren zehn Wochen alten Sohn Emil in der Wohnung umhertrug und ihn zu beruhigen versuchte.

Julia, unsere Tochter, war elf Jahre, als Uta noch einmal schwanger wurde. Für Uta, die zunächst an die Wechseljahre gedacht hatte, war die Schwangerschaft ein großes, unerwartetes Geschenk.
„Wir schaffen das alles!“  Sofort legte sie eine unerschütterliche Zuversicht an den Tag und ließ meine Bedenken nicht gelten. Ich wollte eigentlich kein Kind mehr, ich war glücklich mit unserem Leben zu Dritt.  Uta arbeitete halbtags und Julia besuchte seit einem Jahr ein Gymnasium. Nun also sollte alles noch einmal von vorn beginnen, das gefiel mir nicht und auch Julia war nicht begeistert. Uta jedoch genoss ihre unkomplizierte Schwangerschaft und brachte genau am errechneten Entbindungstag Emil auf die Welt, einen Prachtjungen, aber ein Schreikind.

„Von einem Schreikind spricht man, wenn das Kind an mehr als drei Tagen in der Woche länger als drei Stunden ununterbrochen schreit.  Trifft das auf Emil zu?“, fragte der Kinderarzt.
Uta und ich nickten.  Uta sagte, es käme ihr sogar vor, als würde er dreißig Stunden am Tag schreien. Kein Wunder, dass sie außer für Emil für nichts mehr Interesse und Kraft hat. Weder für mich noch für unsere Tochter. Abends helfe ich Julia bei den Hausaufgaben. Die Versorgung von Emil hingegen überlasse ich fast ausschließlich Uta. Soll sie doch sehen, wie sie zurechtkommt, sie hat es doch so gewollt. Ich stehe nur am Wochenende mal nachts auf und versorge ihn. Beruhigen kann man ihn sowieso nicht, ständig begleitet uns sein Geschrei. 

„Ich kann es dir nur anbieten“, versucht es Dieter an diesem Morgen im Büro noch einmal. „Ich finde, du lässt deine Frau ganz schön hängen. Stattdessen kriechst du hier Esther den ganzen Tag in den Allerwertesten. In der Raucherecke ist es auch schon Thema, dass du wie ein Fisch an ihrer Angel zappelst. Das kommt nicht gut an bei den Kollegen. Außerdem wird über die dicke Schminkschicht gelästert, mit der die Chefin ihre tiefen Falten zu kaschieren versucht. Fällt dir das eigentlich nicht auf?  Von hinten lockt sie, von vorne schockt sie, hat der „Krusemann“ von der Poststelle gestern gesagt“.

Ich muss lachen. Tatsächlich stimmt das mit der vorgealterten Haut. Wahrscheinlich hat Esther es immer mit der Sonne und dem Solarium übertrieben, um eine knackige Bräune zur Schau tragen zu können, und das rächt sich in ihrem Alter. 

Das Telefon läutet und ich erkenne meine Festnetznummer auf dem Display. 

„Es tut mir leid, Liebling“, ich habe vorhin nicht daran gedacht, dass du heute Dienstjubiläum hast“, sagt meine Frau. “Dicken Kuss und herzlichen Glückwunsch.“

Ich falle aus allen Wolken. Tatsächlich, heute vor fünfundzwanzig Jahren hatte ich meinen ersten Arbeitstag hier. Esther hat mich vor einigen Wochen darauf angesprochen und ich habe sie gebeten, es nicht weiter zu tragen, weil ich keine Lust auf eine größere Veranstaltung mit den Kollegen habe. Darum also geht es bei unserem Termin um 10 Uhr. Sie wird mir die Urkunde überreichen und den Scheck mit der Zusatzgratifikation sowie die beiden Flaschen Wein der Geschäftsleitung, und das war es dann.

Langsam holt mich die Wirklichkeit ein.
„Gut, dass du mich erinnerst, ich habe es auch vergessen“, sage ich zu Uta.
„Übrigens, Emil schläft“, sagt Uta. „Ein kleines Wunder. Ich lege jetzt den Hörer daneben, wenn du mich erreichen willst, schreib mir über Whatsapp“. 

„Mach ich“, sage ich leise und überlege, wann ich überhaupt zuletzt versucht habe, meine Frau aus dem Büro zu erreichen. Ich bin froh, wenn ich nichts höre von dem Theater zuhause. So geht es aber auch nicht weiter, Dieter hat ja recht, ich benehme mich unmöglich und eine komplizierte Liebesbeziehung im Büro ist das Letzte, was ich gebrauchten kann.

„Dieter, ich würde dein Angebot mit den Urlaubstagen gern annehmen“, sage ich, nachdem ich den Hörer aufgelegt habe. “Es ist ja zurzeit auch nicht viel los. Sommerloch, wie immer im August. Da wird es hoffentlich nicht so heftig“.
„Höchstens für die Chefin, die ab morgen ihren Mist allein machen muss“, brummt Dieter.

Als ich um 10 Uhr die Tür zu Esthers Büro öffne, stehen tatsächlich zwei Sektgläser auf ihrem Tisch und eine kleine Torte, auf die sie eine Fünfundzwanzig gesteckt hat, wie es sie zu Silberhochzeiten gibt. Sie gratuliert mir herzlich und küsst mich zart auf die Wange. Ich trage mein Urlaubsanliegen vor und sie wirkt erstaunt, ist aber einverstanden.

„Wo soll es denn hingehen?“, fragt sie interessiert.
„Ich denke, die meiste Zeit werde ich mit meinem Sohn im Auto auf Kopfsteinpflasterstraßen durch die Gegend fahren. Das hilft ihm oft beim Einschlafen, und meine Frau kann unterdessen etwas tun, was ihr Freude macht, das hat sie wirklich nötig“.

Esther lacht irritiert.
„Sieh aber zu, dass du ein bisschen Sonne abbekommst. Du bist so bleich. Ein wenig Farbe würde dir gut zu Gesicht stehen.

Ich habe bereits die Türklinke in der Hand und drehe mich noch einmal zu ihr um. 
„Das mit der Sonne ist nichts für mich“, sage ich. „Sicher ist es schön, von ihr geküsst zu werden, aber ich verbrenne so leicht, und das ist es nicht wert.“

Ihr beleidigtes Schulterzucken zeigt mir, dass sie mich verstanden hat. Soll sie sich doch einen anderen suchen, der sie umschwirrt wie die Motte das Licht.  Ich verlasse das Zimmer von „E“ und laufe beschwingt den Gang zu meinem Büro zurück.  Erleichtert und erlöst. 

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