Von Ellen Loeper-Cremer

Das Haus war erfolgreich verkauft worden und musste bis Ende des Monats leer sein. Als letzte Aufräumaktion stand nur noch der Schrank im fadenscheinigen Stübchen an, so hatte ihre Mutter immer ihr Nähzimmer unter dem Dach genannt. Als sich Anna durch den Schrank wühlte, fiel ihr ein schmaler Aktenordner in die Hände, sorgfältig weggepackt unter Stoffbahnen und alten Kleiderresten. Rosa Tanner, geb. Herbst stand in Druckbuchstaben darauf. Neugierig öffnete sie ihn und blätterte durch die ersten Seiten. Fein säuberlich hatte ihre Mutter hier anscheinend ihre Vergangenheit abgeheftet: alte Karten und Briefe, Berufsdokumente, auch ein paar wenige Fotos von „ganz früher“ waren dabei. 

Anna hatte nie mit ihrer Mutter über deren Kriegserlebnisse geredet. Einmal hatte sie es versucht und sofort gemerkt, dass sie nicht darüber sprechen wollte – oder konnte. Also hatte sie es sein gelassen. Als sie den Ordner  wieder schließen wollte, um ihn später in aller Ruhe zu Hause durchzuschauen, rutschten hinten ein paar lose, vergilbte Blätter heraus. Es waren drei Briefe, zerknittert zwar und die Tinte darauf teilweise verwischt, aber immer noch gut lesbar.

Anna begann zu lesen. 

 

Gumbinnen, im August/ September 1944

 

Liebe Mutter, lieber Vater, liebe Geschwister,

meine dreimonatige Ausbildung ist abgeschlossen. Seit Ende Juli bin ich nun einer Kompanie im Raum Tauroggen zugeteilt, ich habe mich hier recht schnell eingewöhnt. Heute will ich endlich mit meinem Brief an Euch anfangen.

Nach einem langen Fußmarsch kamen wir in dem Stellungsabschnitt an. Ich meldete mich bei einem Leutnant. Er begrüßte mich und machte mich mit den anderen Soldaten bekannt. Zuerst erklärte man mir grob die Frontlage, dann die Einzelheiten des Geländeabschnitts. Die russischen Stellungen liegen kaum 100 Meter von uns entfernt sind. Wir müssen verdammt gut aufpassen, denn das Gelände ist vermint und in den Baumkronen sitzt manchmal ein russischer Schaftschütze. Danach wurde ich zum Wachdienst eingeteilt. 

Direkt am nächsten Morgen wurden wir von einem Feuerüberfall der Russen überrascht. Sie schossen mit Granatwerfern auf die Wege, die zu unserem Stützpunkt führen. Was ich nicht wusste, war, dass einige Tage vorher ein ähnlicher Feuerüberfall stattgefunden hatte. Der Soldat, den ich ablösen sollte, wurde dabei tödlich verletzt. Man hatte mir aber lieber nichts davon erzählt.

Besonders in der Nacht liegen wir mit gespitzten Ohren in unseren Holzbaracken, denn da werden von beiden Seiten immer wieder Überfälle gemacht, um Gefangene zu nehmen. Das heißt hier bei uns „Heldenklau“. Man schleicht sich heimlich an eine Baracke oder einen einzelnen Wachtposten heran, überwältigt ihn und nimmt ihn mit. Vorige Woche sollte ein Trupp von sechs Leuten in die russischen Linien eindringen und Gefangene machen. Das Ergebnis: ein Gefangener, ein toter russischer Soldat, zwei schwerverletzte deutsche Soldaten. 

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Heute ist es ruhig und ich kann euch von einem Einsatz berichten, der sich vor ein paar Tagen zugetragen hat. 

Ich war bei einem Spähtrupp dabei! Wir sollten gucken, ob die Russen auf der Straße, die keine zwei Kilometer weg ist, schon Nachschub führen. Wir gingen zu viert los, ich ging als Zweiter. Wir suchten jede sich bietende Deckung im dichten Wald. Der Russe war ja in unmittelbarer Nähe. Es wurde nicht gesprochen, wir verständigten uns mit vorher abgesprochenen Handzeichen. Wir versuchten, keine Geräusche zu machen.

Plötzlich sah ich eine Bewegung keine 100 Meter von mir weg. Da war was an meinen Augen vorbeigehuscht, es ging ganz schnell. War es ein Mensch oder ein Tier gewesen? Ich warf mich zu Boden und starrte weiter auf die Stelle. Meine Kameraden hatten die Bewegung auch bemerkt und sich sofort hingeworfen.

Es war kein Tier. Es war ein russischer Trupp aus ungefähr zehn Soldaten, der an uns vorbeizog und sich auf unsere Stellung zubewegte. Sie bemerkten uns nicht und wir konnten zu unserer Stellung zurückkehren, bevor sie dort waren. Wir machten sofort Meldung und die Kompanie konnte sich noch rechtzeitig auf den russischen Stoßtrupp vorbereiten.  

Die Russen waren ahnungslos, als sie kamen. Wir ließen sie bis auf zehn Meter an uns herankommen und dann wurde das Feuer eröffnet. Es war ein ohrenbetäubender Lärm, die Schüsse knallten wie Peitschenhiebe durch den Wald. Die Russen, die nicht sofort kampfunfähig oder gleich erschossen waren, erwiderten das Feuer. Sie benutzten dicke Bäume als Deckung. Dann erspähte mich ein Russe, ich ihn ebenso. Er nahm seine Maschinenpistole hoch und ich ging blitzschnell in Deckung. Er dachte wohl, dass ich an der gleichen Stelle wieder hervorkomme. Aber ich ließ mich in die Deckung nach rechts rollen und versteckte mich hinter einem anderen Baum. Dann hörte ich eine Maschinengewährsalve von da, wo der Russe stand. 

Ein Kamerad hatte ihn erwischt. 

Wir passen hier alle aufeinander auf. 

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Diese Woche bin ich zum Küchendienst eingeteilt. Das macht mir Freude, so kann ich ein bisschen von dem, was ich in meiner Kochlehre in Königsberg gelernt habe, ausprobieren. Schade, dass ich sie nicht richtig zu Ende machen konnte. Das will ich aber nachholen, wenn das alles hier vorbei ist.

Ich wollte meinen Kameraden also mal etwas Besonderes vorsetzen und ging hinter der Frontlinie in den Wald Pilze sammeln. Dort kann mir ja nichts geschehen, dachte ich. 

Ich war mit Einsammeln beschäftigt, da hörte ich ein leises Knacken hinter mir. Ich fürchtete schon das Schlimmste und drehte mich ganz langsam um. Und da stand er, nur ein paar Meter von mir weg: ein großer, prächtiger Wolf! Er guckte mich an. Ich guckte ihn an. Ich hatte keine Angst, ich weiß auch nicht, warum.

Im hinteren Gehölz wartete sein Rudel. Es waren bestimmt noch sechs oder acht Wölfe da. Der Prächtige blinzelte mir zu, so schien es mir jedenfalls. Dann drehte er seinen grauen Kopf zur Seite und ging seiner Wege. Die anderen folgten ihm. Lautlos, wie sie gekommen waren, verschwanden sie wieder. Sie wollten wohl tiefer in die Wälder hinein. Der Gefechtslärm vertreibt sie alle. 

Dieses Erlebnis hat mich sehr berührt. Und wenn ich jetzt nachts manchmal ganz weit weg Wölfe höre, denke ich, sie passen auf mich auf und ich fühle mich sicher. 

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Heute komme ich zum Ende. Ein Kamerad geht auf Urlaub und kann den Brief in Königsberg einwerfen. So habt ihr hoffentlich bald meinen ersten Bericht von der Front. Schreibt mir bitte schnell zurück. Ich will doch wissen, wie es euch allen geht.

Liebe Eltern, liebe Geschwister, macht Euch um mich keine Sorgen. Ich glaube ganz fest daran, dass wir uns an Weihnachten alle wiedersehen.

Euer Sohn und Bruder Karl

 

Gilgendorf, 4. Oktober 1944

 

Liebes Karlchen,

endlich ist dein Brief angekommen und ich will Dir sofort antworten und den Brief auch gleich webringen, damit Du ihn bald hast. Die Tage gebe ich auch noch ein Paket mit leckeren Sachen und einem warmen Pullover zur Post. Es wird ja nun langsam kälter und da brauchst Du doch was Warmes zum Anziehen. 

Ich denke jeden Tag an Dich und wir alle vermissen Dich sehr. Es ging ja alles so schnell mit Dir und ich kann es immer noch nicht ganz begreifen, dass Du jetzt da draußen bist. 

Vater kümmert sich um den Hof und das Vieh. Waldemar ist immer bei ihm und geht ihm zur Hand. Ich danke Gott dafür, dass er erst 14 Jahre alt ist und bei uns bleiben konnte. Vater macht sein Bein wohl arg zu schaffen, aber er lässt sich nichts anmerken. In den letzten Monaten ist er noch verschlossener geworden. Manchmal habe ich den  Eindruck, er brütet irgendeinen Plan aus. Viele Bauern sind verunsichert und erzählen die schlimmsten Gerüchte über den Krieg gegen die Russen. Es hängt eine merkwürdige, düstere Stimmung in der Luft. Möge der Herrgott diesem schlimmen Krieg doch bald ein Ende setzten.

Deine große Schwester ist den ganzen Tag im Arbeitseinsatz auf Feld und Hof unterwegs und kommt abends hundemüde nach Hause. Sie hatte einen netten Soldaten aus Düsseldorf kennengelernt, der hier in der Nähe stationiert war. Aber er ist vor einiger Zeit weitergezogen mit seiner Kompanie. Tuta ist traurig, aber sie wird schon damit fertig werden. 

Deine kleine Schwester, das Roschen, weicht nicht von meiner Seite. Sie hilft mir viel und ist überhaupt sehr fleißig. Jeden Tag fragt sie nach Post von Dir. Das Marjellchen hält sich tapfer, aber sie vermisst Dich doch sehr. Wir stellen jeden Abend eine Kerze ans Fenster und nachdem wir sie angezündet haben, sprechen wir ein kurzes Gebet und denken an Dich.

Liebes Karlchen, wenn Du das hier liest, dann wende dich kurz gen Heimat, schließe die Augen und denke für einen Augenblick an uns.  So sind wir über alle Entfernungen hinweg miteinander verbunden. 

Und bitte gib gut auf dich acht, werde nicht leichtsinnig und lass immer Deinen Helm auf!

Wir alle küssen und drücken Dich und freuen uns schon auf Deinen nächsten Brief.

Ich hoffe inständig, dass wir Dich an Weihnachten sehen.

Deine Mutter

 

 

 

Gumbinnen, 30. Oktober 1944

 

Sehr geehrter Herr Herbst, liebe Frau Herbst,

ich muss Ihnen leider die schmerzhafte Mitteilung machen, dass ihr Sohn, Soldat Karl Herbst, geboren am 3. Januar 1928,  im Kampf für Führer, Volk und Vaterland am 29. Oktober 1944 gefallen ist. Er wurde von einem russischen Scharfschützen erschossen. Er war auf der Stelle tot.

Sein Freund, Harry Kopischke, berichtete uns den genauen Hergang, da er alles mitangesehen hatte: Ihr Sohn hatte sich zum Lesen eines Briefes von Ihnen, werte Eltern, etwas abseits hingesetzt. Dazu hatte er seinen Helm abgelegt. Als er aufstand und gen Westen blickte und dabei die Augen schloss, war ein Schuss aus dem nahe gelegenen Wald zu vernehmen. Ein russischer Scharfschütze, der sich dort versteckt hielt, hat ihren Sohn mit einem gezielten Kopfschuss getötet. 

Wir verlieren durch den Tod ihres Sohnes nicht nur einen tapferen Soldaten, sondern auch einen aufrichtigen und humorvollen Menschen, der in der ganzen Kompanie sehr beliebt war. Wir werden ihn sehr vermissen.

Mit Achtung und Respekt, aber auch in Trauer, verbunden mit der Hoffnung auf ein baldiges siegreiches Ende des Krieges grüße ich Sie!

Ihr Major Ludwig van Tresckow

 

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