Von Kornelia Wulf

Ich ruckele den Schlüssel im Schloss hin und her. Verdammt, er klemmt! Als wolle er sich wehren aufzusperren. Vorsichtig ziehe ich am Knauf, bis ich ein feines Knacken höre, er seine Abwehr aufgibt und die Tür aufspringt. Jana zwängt sich an mir vorbei. Läuft – alle Sinne überflutet – wie ein kleines Kind durch den Flur. Wie hell er erscheint! Lückenlos überpinselt mit einem strahlenden Weiß und ich glaube, den Geruch frischer Farbe zu schmecken. Mein Blick gleitet an der Garderobe entlang. Vorbei an dem Bügel mit dem Streublümchenstoff, der Mutters Mantel trägt, zu dem blaulackierten Schränkchen, auf dem das Telefon steht. Handschuhe und Tasche hat sie dort abgelegt. Akkurat im Rechteck. Wie stets. Ein Hauch von Bergamotte und Sandelholz schwebt durch den Raum – mir so vertraut -, vermischt mit einer Prise Staub. Jana durchschreitet die Wohnzimmertür. Breitet beide Arme aus, als wolle sie die Weite einfangen, die ihr wie ein Luftglobus wieder entfleucht. „Oohh, was für ein geiler Raum.“ Ihre Finger streifen das Holz des Nussbaumklaviers, knibbeln an den Narben des Naturlederpolsters, das die Sofalandschaft cognacfarben umhüllt. Die Mittagssonne flutet den Raum und während Jana durch das Fenster schaut, keucht sie laut. „Maannn, dieser Garten! Dahinten, unter der Pergola, könnten wir einen riesigen Whirlpool aufbauen.“ Ihr sezierender Blick versucht meine Stirn zu zerteilen. „Aber du willst ja alles verkaufen.“ Jana wartet keine Antwort ab. Noch während beim Öffnen mein Kiefer knackt, der wie die Haustür zu klemmen scheint, hat sie schon die Küche erreicht, vom Wohnzimmer abgetrennt mit mattiertem Glas. Diese Transparenz hatte Vater geplant. So könne er stets ahnen, was Mutter dort treibt. „Jeder wirke in seinem Reich“, tönte er, wenn er sie hacken und schniefen hörte, bis sich der Zwiebelduft – wie eine riesige Krake – mit seinen Tentakeln in jedem Raum ansaugte. Ein Spruch, der mich schon als Kind zum Würgen reizte, dabei oft in missliche Lagen brachte. Erst neulich drohte sie mir die Trennung an, als Jana zu unserem zweiten Jahrestag ihr Highlight servierte. Die berühmte Calzone di Cipolla, ein Rezept ihrer Nonna, die ich nach ein paar Happen reflexartig erbrach. Ich höre Jana in der Küche kramen. „Nur noch ein halbes Glas Kapern im Kühlschrank“, ruft sie, „und vier Scheiben Knäcke im Brotfach. Voll labbrig. Also, Schalottchen“, seit dem Vorfall in unserem italienischen Drama, der commedia dell`abarte, hat sie mir diesen albernen Namen verpasst. „Ich fahre rasch in die Stadt. Sind wir nicht an einem REWE vorbeigekommen? Ja? Rechts – neben der Tankstelle? Okay, dort kaufe ich ein und koch´ uns was Feines. Und du lässt ein bisschen die Seele baumeln.“ Sie kommt mir ganz nah, streicht über mein Haar. „Ganz blass siehst du aus.“

Zögernd bewege ich mich ein paar Schritte voran, streiche über die schwarzen Tasten der Klaviatur. „Du musst hell denken!“, hallt es in meinem Hirn. Janas Stimme – hat sich dort festgesetzt. Bullshit. Als könne man trübe Lebensmomente in Neonfarben kleiden. Langsam hebe ich die Hand, vorbei an Schnitzwerk und Notenhalter, und streiche über beiges Porzellan. Über Beethovens Kopf, dem ein Stück Ohr fehlt. Nicht als Symbol für seine Taubheit. Nein. Völlig unversehrt hatte Mutter sein Haupt gekauft. Es war Vaters Faust, die auf das Nussbaumholz krachte, als er zu früh nach Hause kam, und den armen Herrn Ludwig zum Stürzen brachte. Hilflos kullerte der über die Tasten. Vater konnte das Geklimper halt nicht ertragen. „Spiel wann du willst“, schrie er, „aber nicht nach sechs!“ Am nächsten Tag wollte Mutter die Hände verstecken. Unter dem weißen Verband konnte sie ihre Finger nicht strecken. Faselte etwas vom Putzen und im Fenster einklemmen. Aber ich habe die winzigen Spritzer entdeckt. Die sich wie blutiger Fliegenstuhl unter dem Tastaturendeckel ausbreiteten. Seufzend habe ich das Notenbuch zugeklappt, stets aufgeschlagen auf Seite Acht. Wie habe ich es vermisst. Mein Rallalalalied.* Das sie mir an jedem Tag nach den Hausaufgaben vorspielte. Und nie hat Vater Heissa* gesagt. Und niemals – Mutter, ich bin da.*

Ich hangele mich an dem Sofa entlang, lehne mich einen Moment lang an die Wand. Sie fühlt sich an wie ein poröser Schwamm. Und ich höre sie in den Löchlein aufsteigen. Die feinen, spitzen Schmerzensschreie. Das Stöhnen. Das Weinen. Aufgesaugt. Im Raum der Zeit. Und in der großen Fensterscheibe, durch die ich in den Garten schaue, scheint sich ihr Gesicht zu spiegeln.

Der Schlüsselbund knallt an die Wand, nachdem die Haustür fast aus den Angeln kracht. Augenblicklich schlägt Mutter die Hacken zusammen. Ihr Körper gleicht einer Marmorstatue. „Geh nach draußen, Lotte, ein bisschen schaukeln. Dein Vater ist heute ein wenig nervös.“ 

Stets bin ich dann durch die Tür verschwunden, die neben der Küche zum Garten führt und das Tarntuch um die Zöpfe geschlungen, hab´ ich mich auf meine Schaukel geschwungen. Und wenn der Wind mir das Schreien und Brüllen brachte, zunächst nur ganz sachte, hab´ ich mein Rallalalalied gesungen. Erst leise. Dann lauter. Und, im rasanten Hin und Her, gejuchzt und gelacht, die Zehen so hoch in die Luft gestreckt, als könnten sie Äpfel in der Baumkrone fangen. 

Ich stoße mich ab von der schwammigen Wand. Mein Atem fühlt sich so holprig an. Als ströme er über Stolpergestein. 

Vor drei Jahren bin ich fortgegangen. An diesem Abend, nachdem ich aus dem Kino kam. Schon im Hausflur fühlte es sich komisch an. Die Dielen unter meinen Sneakern schienen zu zittern, fast konnte ich es wittern, dass mich ihr Anblick zum Schreien brachte. Ich sah Mutters Rücken – ein verzerrter Schatten – auf mattiertes Glas gepresst. Und mit jedem Schritt, den ich zur Küche rannte, klang ihr Röcheln ein bisschen lauter. Jedes Fitzelchen Kraft zusammengerafft, das sich in meinem mentalen Fundus verbarg, bin ich auf seinen Rücken gesprungen, habe mit Vaters Armen gerungen, fest in sein linkes Ohr gebissen. Im Wohnzimmer klatschte Herr Ludwig Beifall. Dann. Endlich. Ist es gelungen. Vater öffnete seine Hände. Und die blauroten Flecken auf Mutters Halshaut erzählten die Chronik ihres Schreckens. In XV Bänden. Mein Unterarm nah an den Kehlkopf gedrückt, bis das Blut in den Venen das Fließen vergaß, hat ihn endlich zu Fall gebracht. Diesen coolen Griff hatte ich beim Judo gelernt. In diesem Kurs, den mir Mutter spendierte, als Brüste, Hüften, Hintern im Spiegel zaghaft über das Frausein wisperten. „Niemand weiß, wer deinen Weg kreuzen wird,“ raunte sie verschwörerisch, „Männer, sag´ ich nur!“

Ihre Worte vom Schwamm wohl geschluckt und verdaut – ein bisschen stießen sie ihm auf, obwohl er lang kaute – breitete sie, wie die Glucke das Gefieder, schützend ihre Arme aus. Über den Kopf meines brabbelnden Vaters, für den die Welt plötzlich kopfstand. Wütend starrte Mutter mich an. „Lass ihn in Ruhe! Er kann doch nicht anders.“

Ich wage mich vor bis zur Fensterfront. Lasse den Blick über die Krone des Apfelbaums schweifen – dort, wo meine Schaukel schwang, blüht jetzt ein Feuerdorn -, bis zur verwaisten Garage neben dem Haus. 

Verunfallt sind sie. Vor zwei Wochen. Frontal in die alte Eiche gedonnert, auf ihrem Weg in die Stadt. Exakt Stationszeichen 5,8. Die nette Polizistin reichte mir ein Glas Wasser, als sie die Nachricht überbrachte. Strich über meinen linken Arm. Ganz sachte. „Ach, übrigens.“ Noch einmal drehte sie sich um beim Gehen. „Ihre Mutter saß am Steuer.“

 

***

Der Hinterkopf von ihren Brüsten gewärmt, höre ich das Knistern der Vanilleschaumbläschen. Zwischen die Lider, halb abgesenkt, zwängt sich ein Schein, der mich fast blendet. Selbst hier hat sie lückenlos übergepinselt. Alles strahlt in einem unschuldigen Weiß. Nach dem Essen hatte Jana uns ein Bad eingelassen. Und – die zweite Flasche Barolo köpfend – schaute sie mich an mit diesem Blick, dem ich nicht widerstehen kann. 

„Lass uns doch hier übernachten.“ 

Ihr heißer Atem dringt in mein Ohr. Strömt hinab in den Unterleib, wo er sich mit den seifigen Spitzen ihrer Finger vereint, die sich in sanften, kleinen Kreisen auf meinen Schenkelinnenseiten zu den Leisten hinaufbewegen. Dort den verklemmten Riegel lösen. 

„Du und ich. Ganz allein in diesem tollen Haus. Boah, voll gigantisch stelle ich mir das vor.“ 

Ich neige den Kopf zur linken Seite. Die Kontrolle verloren über Lippen und Lust, dranghaft nach ihrer Brustspitze suchend, nuschele ich. „Okay, Versuch macht klug. Vielleicht wird es ja ganz nice mit dir. Aber vorher muss hier alles raus. Nur Tapeten wechseln und Überstreichen – das reicht nicht.“ „Yes!“ Jubelnd lässt Jana die Fäuste sausen. Im entscheidenden Moment verliere ich den Halt, während Schaumflöckchen zwischen die Lider spritzen. Und die Welt hüllt sich in ihren vanillegelben Schleier, als ich kräftig reibe. 

Ihr spitzer Finger trifft mich zwischen die Rippen.

„Aber die mattierte Trennwand finde ich geil. Die muss bleiben!“ 

Bevor ich zurück auf ihre weichen Brüste falle, zucke ich zusammen. Gelegentlich muss ich es ihr mal sagen. Dass ich keine Handgreiflichkeiten mag. 

 

* Rallalala, heißa Mutter, ich bin da! 

Libretto des Vaters in der Märchenoper „Hänsel und Gretel“ von Engelbert Humperdinck

 

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