Von Vanessa Wedekämper

Ich kannte dieses Mädchen jetzt schon seit einigen Jahren. Sie begegnete mir das erste Mal zu einer Zeit, in der ich mich verloren fühlte, weil ich die zwei wichtigsten Menschen in meinem Leben für immer verloren hatte. Meine Frau und unsere 4-jährige Tochter.

Aber darum geht es in dieser Geschichte nicht. Es geht um Carolin. Wir begegneten uns das erste Mal auf der Friedrich-Ebert-Straße, als sie versuchte, mein Portmonee zu stehlen. Es fiel direkt auf, wie selbstsicher und gescheit das damals 12-jährige Mädchen war. Und dass es Hilfe brauchte. Zumindest sagte mir das mein Gefühl. Dieses Mädchen wollte sich mit meinem Geld nicht bereichern, sondern steckte in Schwierigkeiten. Und als recht erfolgreicher Anwalt vertraute ich bei sowas meinem Bauchgefühl. Was ich damals noch nicht wusste, war wie stark und tapfer dieses Mädchen in ihrem Leben schon sein musste.

 

 Mit neun Jahren hatte Carolin ihre Eltern verloren und wurde seitdem zwischen Pflegeeltern und Kinderheim hin- und hergeschoben. Zu dem Zeitpunkt, als wir uns kennenlernten, war sie dort zum dritten Mal ausgerissen und lebte seit mehreren Monaten auf der Straße. Obwohl sie in den ersten Wochen alles versuchte, um mich wieder loszuwerden, fing sie langsam an, mir zu vertrauen. Vielleicht, weil sie merkte, dass ich genauso verloren war wie sie. Oder weil auch mich diese Leere ausfüllte, die zurückbleibt, wenn man einen geliebten Menschen verliert. 

Wir hatten immer häufiger Kontakt und das tat uns beiden gut. Wir schienen uns gegenseitig genau das zu geben, was wir brauchten. Ihr den Halt, den sie vor Jahren verloren hatte und mir einen neuen Sinn. Tagsüber war sie meistens bei mir und ich sorgte dafür, dass sie wieder regelmäßig zur Schule geht. Und schließlich adoptierte ich sie.

 

***

 

Diese Zeit liegt nun einige Jahre hinter ihr, doch sie hat ihre Spuren hinterlassen. Carolin verbarg ihre Schwächen. Und obwohl ich einer der wenigen Menschen war, denen sie vertraute, hatte ich sie noch nie weinen sehen. Wenn sie Angst hatte oder traurig war, sprach sie immer sehr sachlich, Ihre Stimme wurde monoton und ihr Gesicht schien zu versteinern. Nur manchmal, wenn sie über ihre Eltern sprach, was äußerst selten vorkam, blitze die Traurigkeit, die sie tief in sich trug, auf. Der einzige andere Mensch, dem sie vertraute, war Mark.

 

Mark hatte schon sein halbes Leben im Heim verbracht. Nach dem Tod seiner Mutter war sein Vater psychisch nicht in der Lage sich um seinen Sohn zu kümmern. Seit Carolin ihm im Heim begegnet war, beschützte er sie. Und seit Carolin bei mir wohnte, war er auch fast jeden Tag hier. So auch an dem Tag…

 

„Ey, ich hab‘ ‚Nein‘ gesagt“, schrie Carolin. 

Stille. 

„Hau ab!“, schrie sie wieder. 

Nichts passierte. Obwohl ich wusste, dass sie sich gut verteidigen konnte, sprang ich auf. 

Noch bevor ich ihre Tür erreichte, gab es einen Aufschrei. Doch es war nicht Carolin, die geschrien hatte. 

„Verschwinde endlich.“ 

Schon ging die Tür auf und der Junge kam aus dem Zimmer. Und so, wie er lief, schien Carolin ihn dahin getreten zu haben, wo es besonders weh tat. Nach einem prüfenden Blick auf Carolin verfrachtete ich, den wild schimpfenden Mark, nach draußen.

 

„Alles okay bei dir?“, fragte ich und setzte mich zu ihr aufs Bett. 

„Klar“, sagte sie teilnahmslos. Natürlich, nur keine Schwäche zeigen. 

„Was ist denn passiert?“ 

Sie schluckte. Fasste sich wieder und sagte dann nüchtern: „Er hat versucht, mit mir zu schlafen. Als er nicht von mir runtergehen wollte, habe ich eben zugetreten.“

Jetzt wünschte ich mir, ich hätte auch zugetreten. „Du könntest ihn anzeigen, wegen versuchter Vergewaltigung.“ 

Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin mir sicher, dass ich stärker bin als er, ist ihm so peinlich, dass er sich hier nicht mehr blicken lässt.“

Ich hoffte, damit würde sie Recht behalten. Eine Weile saßen wir so da. Dann brach Carolin die Stille.

„Warum tut er sowas? Wir waren doch Freunde.“

„Ich weiß es nicht.“, sagte ich frustriert, „Ich weiß es wirklich nicht.“

 

Der Vorfall war jetzt schon zwei Wochen her und seitdem hatten wir nichts mehr von Mark gehört. Dennoch ließ ich Carolin abends nur noch in Begleitung nach draußen. Aber heute war Pizza-Abend. Da war es Tradition, dass ich Pizza besorgte, während Carolin den Tisch deckte und uns einen schönen Film raussuchte. Zugegeben, keine besonders faire Arbeitsteilung, aber ich liebte diese Donnerstagabende. Und Carolin tat das auch. Ich balancierte zwei Pizzakartons, einen Salat und Pizzabrötchen samt Dip in einer Hand, während ich mit der anderen nach meinem Schlüssel suchte. Doch heute war der Tisch leer und auch auf mein Rufen reagierte niemand. Heute Morgen hatte sie nichts davon gesagt, dass sie ausgehen wollte. Ich stellte die Kartons ab, um zu schauen, ob wirklich niemand zu Hause war. Es ärgerte mich, dass sie mir nicht wenigstens eine Nachricht geschickt hatte. Aber vielmehr ärgerte ich mich über mich selbst. Carolin war ein Teenager und dass es unsere Pizza-Abende nicht ewig geben würde, war mir bewusst. Aber dennoch war ich enttäuscht.

 

Als ich das Licht auf der Treppe anmachte, sah ich sie da oben sitzen. Sie lehnte an der Wand, hatte beide Knie angezogen und ihre Arme herum geschlungen. Langsam wippte sie vor und zurück. Nach all dem, was ihr widerfahren war, hatte ich sie nie weinen sehen. Doch jetzt saß sie da und sah mich flehend an, während ihr Tränen die Wange herunterliefen. Ich stürmte die Treppe hoch und hockte mich zu ihr, während sie lautlos schluchzte. 

„Was ist denn los? Was ist passiert?“ 

Erst jetzt, als sie die Arme sinken ließ und die Beine ein Stück vom Körper weg streckte, sah ich das Blut. Ihr Shirt, ihre Hose, alles war voll mit Blut. 

„Gott Carolin, was ist passiert?“, schrie ich. 

Sie hatte mehrere Verletzungen am Bauch. Da war so viel Blut. Ich legte ihre Hände auf zwei der Wunden. „Du musst da draufdrücken! So doll du kannst!“ Ich tat mit einer Hand dasselbe und mit der anderen holte ich mein Handy aus der Tasche und wählte den Notruf.

 

„Du musst durchhalten“, schrie ich immer wieder. Es kam mir schon ewig vor und noch immer waren keine Sirenen zu hören. „Wer war das?“, fragte ich erneut. 

„Mark“, flüsterte sie fast lautlos.

Einen kurzen Moment war meine Wut auf Mark noch größer als die Angst um Carolin. Was für ein Monster musste er sein, um so etwas zu tun.

 

Endlich hörte ich von weitem das erlösende Geräusch. Ich wich von Carolins Seite, um die Tür zu öffnen. Schon standen zwei Sanitäter und ein Notarzt um sie herum. 

Ein Polizist zog mich von ihr weg. „Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.“ Sanft versuchte er, mich in das nächste Zimmer zu schieben. Doch Carolin schrie. Nicht vor Schmerz, sondern aus Angst. In purer Panik schlug sie um sich. Die Sanitäter wichen ein Stück zurück und ich kniete mich wieder zu ihr. „Alles wird gut, Caro.. Ich bin hier.. Alles wird gut. Aber du musst die Leute ihre Arbeit machen lassen“, sagte ich mit tränenerstickter Stimme. Ich strich ihr übers Haar, hielt ihre Hand und hoffte, dass wirklich alles gut werden würde.

 

***

 

Wie sich später rausstellte, hatte Mark sich durch die Kellertür Zutritt zu dem Haus verschafft. Er hatte sich von hinten an Carolin angeschlichen, sie zu Boden gerissen und sie mit einem Messer attackiert, voller Hass und Wut über die Zurückweisung. 

 

Ich klopfte an die Tür des Krankenzimmers. 

„Komm rein“, rief Carolin freudig. 

Die körperlichen Wunden hatten schon angefangen zu heilen und bald konnte sie aus dem Krankenhaus entlassen werden. Die seelischen Wunden aber, würden wahrscheinlich nie ganz heilen.

Ich setzte mich auf die Kante ihres Bettes und strich ihr leicht über die Hand. „Es tut mir so leid. Ich hätte dich nicht alleine lassen dürfen. Und vor allem hätte ich ihn gleich anzeigen sollen.“ 

Carolin lächelte mich an. Dass sie nach all dem, was ihr passiert war, immer noch lächeln konnte, war erstaunlich. „Ich weiß, das hast du mir schon gestern und vorgestern gesagt. Und die Tage davor auch. Und ich hab‘ dir gesagt, dass du dich nicht entschuldigen sollst, weil es nicht deine Schuld ist.“ 

Ich schwieg einen Moment. Ich wollte ihr nicht Recht geben, denn es fühlte sich so an, als hätte ich sie im Stich gelassen. Ich hätte sie beschützen müssen. 

„Wenn du nächste Woche entlassen wirst … wir können umziehen. Du brauchst da nicht wieder hin. Eine neue Stadt, eine neue Umgebung. Weit weg von dem Ganzen.“

Entsetzt schüttelte sie den Kopf. „Nach dem Tod meiner Eltern, musste ich immer wieder umziehen. Ich bin so oft ausgerissen und hab auf der Straße gelebt. Und es hat nie etwas geändert. Vor seinen Problemen kann man nicht weglaufen, sie folgen einem, egal wie weit man läuft. Und ich werde nicht unser Zuhause opfern, nur weil ich Angst habe mich der Situation zu stellen. Wenn ich flüchte, kann ich das was mir passiert ist nicht verarbeiten.“ 

Ich glaube, ich war noch nie so stolz auf das Mädchen, dass so viel durchmachen musste und noch immer die Kraft fand, um zu kämpfen.

 

V2