Von Björn D. Neumann

 

John bog mit dem Familien-SUV in die langgezogene Kurve, die von der Hauptstraße in ein kleines Waldstück führte. Die Lichtkegel der Scheinwerfer tauchten die Bäume in ein fast unheimliches Licht. Er blickte in den Rückspiegel und beobachtete seine beiden Kinder. Sie waren in diesem Moment so friedlich, wie sie da Kopf an Kopf mit Stöpseln in den Ohren schliefen. Normal herrschte zwischen den beiden Teenagern Krieg. Sue und Ben waren mit ihren 15 und 12 Jahren in einem schwierigen Alter. Und die Auffälligkeiten und der schlechte Umgang seines Sohnes waren für John einer der Hauptgründe der Flucht in diese Diaspora. Der andere saß neben ihm und hieß Peggy. So sehr sich die Kinder altersbedingt distanzierten, kühlte mit den Jahren auch die Beziehung zu seiner Frau ab. In dem ganzen Alltagstrubel aus Kindererziehung, Geldproblemen und anderen Sorgen hatten sie sich irgendwo verloren. Sogar von Scheidung war schon die Rede. Dieser Aufbruch sollte für seine Familie der letzte Ausweg sein, wieder zueinander zu finden.

„Nach der Kurve sind wir da“, rief John und weckte damit die Kinder, die sich fast angeekelt voneinander entfernten, als sie bemerkten, wie nah sie sich im Schlaf gekommen waren.

„Hau ab, du Spacko.“ Sue rammte ihrem Bruder den Ellbogen in die Rippen.

„Blöde Kuh!“

„Ruhe dahinten. Vertragt euch.“ Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit sprach Peggy. Zwar nicht mit ihm, aber immerhin sagte sie mal etwas.

„Na kommt. Freut sich denn keiner auf sein neues Zuhause? Es gibt auch einen Steg und ein Ruderboot“, versuchte John die Stimmung aufzulockern. Er erntete aber nichts als verdrehte Augen der Kinder und den starr nach vorne gerichteten Blick von Peggy dafür.

Vor ihnen lag ein typisches Landhaus mit Veranda, das sich an einen malerischen kleinen See schmiegte. Der Holzbau hatte mit Sicherheit schon bessere Tage gesehen, aber für John war es ein Familienprojekt und so sah er entspannt den nächsten Monaten entgegen.

„Wir sind hier im Nirgendwo. Wir brauchen mit Sicherheit jeden Tag eine Stunde in die Highschool“, moserte Ben direkt und kickte eine verrostete Getränkedose ins Gestrüpp, das um das Haus wucherte.

John wuschelte neckisch Bens Haare. „Komm schon. Das ist hier wie ganzjährige Ferien und im Sommer könnt ihr mit euren neuen Freunden am See Party machen.“

„Ferien in der Hölle“, meldete sich jetzt Sue zu Wort und schnappte sich den ersten Karton aus dem Kofferraum. „Wo sind wir hier? Bates Motel?“

„Eher Crystal Lake und Jason Vorheel schlachtet die kleine Sue ab. Muhahaha“, neckte Ben.

„Unsere Kinder, wie immer die reinsten Sonnenscheine! Möchtest du auch noch etwas hinzufügen, Peg?“

„Nicht jetzt, John.“ Der toxische Blick, den Peg John zuwarf, sprach mehr als dieser knappe Kommentar.

Es war eine unruhige Nacht. John wälzte sich von einer Seite zur anderen und wurde von schlimmen Albträumen geplagt. Seiner Familie war es ähnlich ergangen, so dass die Stimmung am Frühstückstisch noch gedrückter als am Abend zuvor war. Selbst John war es leid zu versuchen, permanent gute Laune zu verbreiten. Ein schriller Schrei holte ihn aus seinen Gedanken. Sue wollte ihre Tasse ausspülen und stand zitternd vorm Waschbecken. Aus dem Hahn tropfte eine Flüssigkeit, die in Konsistenz und Farbe stark an Blut erinnerte. John nahm seine Tochter in den Arm.

„Hey, Spätzchen. Das ist nur Rost. Das Wasser hat ewig in den Leitungen gestanden. Wir müssen es nur ein wenig laufen lassen.“

Sue wand sich aus seinen Armen und rannte schluchzend auf ihr Zimmer.

Der Sohn des Hauses hatte dazu nur einen knappen Kommentar: „Zicke.“

Die nächsten Wochen verliefen ereignislos. Fast ereignislos. Jedenfalls, wenn man die einzelnen Vorfälle für sich betrachtete. Einmal flog eine Krähe gegen die Fensterscheibe der Küche und verendete. Schatten tauchten im Augenwinkel auf und verschwanden. Oder waren das nur optische Täuschungen? Das Knarzen und Türenschlagen waren in einem so alten Gebäude wohl normal. Auch blieben Johns Albträume. Nie konnte er sich detailliert erinnern, aber sein Unterbewusstsein sandte ihm immer wieder das Bild eines kleinen Mädchens.

Schweißgebadet schreckte John auf. War das ein Schrei? Auch Peggy saß aufrecht neben ihm im Bett und starrte ihn mit schreckgeweiteten Augen an. Die Kinder! John sprang auf, rannte aus dem Schlafzimmer und wäre fast mit seiner Tochter zusammengestoßen, die ebenfalls aus dem Schlaf gerissen wurde.

„Es kommt aus Bens Zimmer!“

John riss die Tür auf. Ben stand an der seinem Bett gegenüberliegenden Wand und schlug wie in Trance immer wieder mit dem Kopf dagegen. John schüttelte ihn. Rief seinen Namen, bis Ben langsam die Augen aufschlug.

„Dad? Was ist los? Wo ist das Mädchen?“  Mit diesen Worten sank er in Johns Arme, der ihn auffing und ins Bett legte.

Am nächsten Morgen konnte sich Ben an nichts mehr erinnern. Allerdings sollte sich das ab jetzt jeden Abend wiederholen.

„Wir müssen mit ihm zum Arzt, John. Irgendetwas stimmt doch nicht mit ihm.“

„Wir fahren morgen in die Stadt. Versprochen.“

„Danke“, atmete Peggy erleichtert auf.

Doktor Svenson zückte den Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Arztkittels. „Ich schreibe Ben ein leichtes Schlafmittel auf. Hoffen wir, dass er damit durchschläft. Vorerst sollten sie ihn aber beobachten.

„Meinen Sie, es ist eventuell psychosomatisch?“

„Dad! Ich habe doch keine Macke!“

„Das behauptet auch keiner, Ben. Was meinen Sie, Doc?“

Doktor Svenson kratzte sich am inzwischen ergrauten Haarkranz seiner Glatze. Wie abwesend blickte er aus dem Fenster, bevor er fragte: „Sie wohnen im alten Jackson-Haus, richtig?“

„Ja, aber was hat das damit zu tun.“

„Ach, nichts“, wehrte Svensson ab. „Mit Sicherheit muss sich Ben nur eingewöhnen. Ein paar Nächte durchschlafen und dann geht es bestimmt wieder. Wenn sich sein Zustand in einer Woche nicht ändert, kommen Sie wieder.“

„Danke, Doc.“

Diesen Abend machte es sich John im Zimmer seines Sohnes im Schaukelstuhl gemütlich. Eigentlich wollte er die ganze Nacht ein Auge auf seinen Sohn werfen, aber auch ihn übermannte irgendwann der Schlaf. War es ein Wispern, das ihn da geweckt hatte? Es klang wie eine Stimme. John öffnete langsam die Augen. Ein Teil der Wand schien zu glühen. Irgendetwas verbarg sich hinter der geblümten Tapete. John stand auf und ging ganz langsam auf die Stelle zu, um sie zu begutachten. An einer Stelle löste sich die Tapete. John zog daran. Die Bahn ließ sich leicht von der Wand lösen und was darunter zum Vorschein kam, verschlug ihm den Atem. Das merkwürdige Glühen ging von einem Pentagramm aus, das mit roter Farbe an die Wand gepinselt war. An die 5 Zacken des Sterns waren merkwürdige Schriftzeichen gemalt. Und ob es der Aufregung, oder seiner Fantasie geschuldet war, hatte John das Gefühl, die Zeichnung besäße Leben und würde im Rhythmus eines Herzschlags zucken. Durch einen Schrei wurde John aus seinen Gedanken gerissen. Er drehte sich um und sah, wie sein Sohn einen halben Meter über dem Bett schwebte. Der Rücken durchgebogen, Hand- und Fußgelenke bizarr verkrümmt. Schlagartig beruhigte sich die Szenerie. Das Glühen erlosch, der Herzschlag erstarb und Bens wieder erschlaffter Körper fiel auf die weiche Matratze. John kniete sich neben ihn, berührte sein Gesicht, aber Ben schlief tief und fest. John ging zum Pentagramm. Vorsichtig strich er mit den Fingern die Linien nach und stockte. Eine der Holzbohlen war locker. Es verbarg sich ein Geheimfach dahinter. John Griff hinein und ertastete ein in Leder gebundenes Buch.  Erschöpft ließ er sich in den Schaukelstuhl fallen und begann zu lesen.

01.09.1976

Warum haben wir nicht aufgepasst? Unser süßer Engel Mary ist beim Spielen in den See gefallen. Als wir es bemerkten, war jede Rettung zu spät. Meiner Frau und mir bricht das Herz.

05.10.1976

Meine Frau kann sich mit dem Tod unserer Kleinen nicht abfinden. Sie liest merkwürdige Bücher über Okkultismus. Sie macht mir Angst.

10.10.1976

Ann ist besessen davon, unsere Tochter zurückzuholen. Sie schließt sich in Marys Zimmer ein und veranstaltet merkwürdige Rituale.

11.10.1976

Irgendetwas wurde geweckt, aber es ist nicht unsere Mary. Gott sei unserer Seele gnädig …

Das war der letzte Eintrag im Tagebuch. John schlug es zu.

Auch am nächsten Morgen konnte sich Ben an nichts erinnern, was in der Nacht vorgefallen war. Und als John Peg das Tagebuch und das Pentagramm zeigte, zuckte sie ungläubig mit den Schultern. „Was willst Du machen? Wieder abhauen?“

In der nächsten Nacht sah Peggy das Grauen mit eigenen Augen. Wieder glühte das Pentagramm. Ben schwebte, doch dieses Mal formte sich in der Mitte der Zeichnung eine unheimliche Präsenz.

„Raus hier“, schrie John, packte seine Frau und seinen Sohn aus der unsichtbaren Umklammerung. Seine Tochter stand mit schreckgeweiteten Augen vor ihrem Zimmer. Ohne sich umzuschauen, floh die Familie aus dem Haus. Erst im Auto blickte John zum Eingang. Dort stand ein kleines Mädchen. Die fast durchsichtige Gestalt zeigte mit einem Finger auf den Eingang des Hauses und John wurde augenblicklich klar, dass er so nicht wegfahren durfte.

„Ich muss noch mal rein.“

„Bist Du wahnsinnig? Bleib hier, John!“

„Daddy, nein.“

John ließ sich nicht beirren. Er rannte in den ersten Stock. In Bens Zimmer zuckten Blitze. Der Schaukelstuhl kippte. Schranktüren klapperten. John nahm das Buch, intuitiv rannte er aus dem Haus und schleuderte es in den See. Für einen kurzen Moment war es totenstill. Die Zeit schien für den Bruchteil einer Sekunde still zu stehen. Dann stieg aus dem Gewässer eine Fontäne, als ob es eine Explosion unter der Oberfläche gegeben hätte.

John bemerkte nicht, dass seine Familie inzwischen hinter ihm stand. Erst als Peg seine Hand nahm, war es, als sei er aus einem tiefen Traum erwacht.

„Sollen wir es noch mal versuchen, John?“

„Hier zu bleiben, oder unsere Ehe?“

„Beides.“

John schloss sie in die Arme. Als er die Augen öffnete, sah er am Ufer ein kleines Mädchen, das ihm zuwinkte und sich langsam im Nebel auflöste.

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