Von Clara Sinn

Sie fragte sich, was sie zuletzt vergessen würde.

Würde sie dement. Ihren Mann oder die Kinder oder die Liebe ihres Lebens? Diesen Traum von Vertreter des starken Geschlechts, diese unvergleichliche, tiefste Erfahrung grenzenlosen Geliebtwerdens.

Er hatte ihr diesen Schrieb hingehalten.

Dass er immer für sie da sei. Immer. „Das ist ein Wechsel“, hatte er gesagt. „Weißt du, was ein Wechsel ist? Du hast jetzt etwas in der Hand, mit dem dir etwas gehört, du musst es nur abrufen.“

Sie entschied, es ihm nachzutun.

Sich selbst auch ein solches Versprechen zu geben, ausformuliert, schwarz auf weiß. Schnappte sich, da kein Flipchartpapier mehr da war, die erstbeste Tapetenrolle.

Hatte vieles vor.

Trat ihr Erbe endlich an. Restlos alles, das sie derart nah anging, wollte sie diesem Qualitätsgeliebtsein unterstellt sehen, bejahend willkommenheißen können.

Er war immer eingesprungen.

Für sie. Wenn sie mal nicht weiterkam. Mit einem Text. Etwa diesem Bericht. Erprobung eines automatischen Fahrradparkhauses. Oder diesem Kommentar. Zum Parteitag.

Hatte sie stets überall hingefahren.

Besonders zu ihrem Lieblingsgemüsehändler. Stellte ihr jedes Mal einen Blankoscheck aus. Und schaute geduldig zu, was sie alles einzukaufen vermochte. In hellster Freude.

Er hatte ihr so unendlich viel mitgegeben.

Für ein eigenständiges Leben. Derselben einzigartigen Qualität. Von Liebe. Auf dass sie von ihren Erfolgen auch selbst etwas habe.

Was irgendwie eingerissen war.

Und sie gerade wieder herstellte.

Nahm sich ihren Tapetenwechsel noch einmal vor. Ihn sorgsam durchzugehen. All die aufgelisteten Lösungen auf so viele aktuelle Bedrängnisse, die sie da festgeschrieben hatte. Wenn sie es genau so machte, wie er es angestellt hätte. 

Wenn sie mal in der Sackgasse steckte.

Mit einem Text. Einfach einen Absatz aus einem Fremdbericht hineinkopieren. Der passte dann sowieso nicht. Musste erst passend gemacht werden. Was ihr wiederum leicht fiel. Und sie zurückbrachte in den Fluss.

Wenn sie mal wieder geknickter Stimmung war.

Sich eine ausgesuchte Freude gönnen. Wie ein warmes Bad. Vanille-Badebomben kaufen. Mit Rosenblättern. Schon mal vorsorglich fürs nächste.

Ihre wehmütige Trauer war nicht wegzubekommen.

Immer noch kratzte es bitter im Hals, vermochte sie nicht, die Tränen aufzuhalten, die sich einfach ihren Weg bahnten. Herabtropften auf gute Vorsätze in Schönschrift.

War er ihr doch so brutal weggestorben.

Danach hatte es nie wieder so richtig geklappt. Mit der Liebe. Mit Zusammenziehen. Ehe. Und jetzt war sie gefangen in diesem richtig handfesten Dilemma.

Gehen? Oder gehen lassen?

Ihre Mundwinkel bogen sich unwillkürlich nach unten. Sie nahm wahr, wie es ‚Wat willste machen?‘ in ihr dachte. Es war die pure Ausweglosigkeit.

Schildkrötenmäulchen hatte er es genannt.

Und noch etwas hatte er ja gesagt, „Heiraten allerdings im Herbst.“ Sogar Spätherbst. Besser. Als Frühjahr.

Sie brauchte sich nicht mehr die geringsten Sorgen zu machen. Über dieses Ende oder jenes Ende:

Sie würde heiraten.

Ihr Leben war plötzlich weder vorbei, noch sinnlos, noch bleibeschwert. Sie würde eine gute, heiratswürdige, neue Liebe finden.

Und sie merkte, wie sie sang und tanzte und frei weinte. Ihre jetzige Beziehung hatte ihren ernsten Anfang vor vier Jahren im Mai genommen. 

 

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