Von Hans-Günter Falter

Langsam, sehr, sehr langsam öffnete er die Augen. Er lag noch genauso in seinem Bett, wie er sich gestern Abend hineingelegt hatte. So fühlte es sich zumindest an. Er dachte nach. Doch, seine Entscheidung schien ihm auch jetzt noch folgerichtig. Gestern hatte er Bedenken und wollte erst einmal darüber schlafen. Das hatte er nun ja getan. Er war zufrieden, wackelte mit den Zehen und drehte den Kopf in Richtung Fenster.
Leise blühte die rote Malve auf der Fensterbank dem Mittag entgegen.

Gestern machte er früher Feierabend. Konnte noch einige Überstunden nehmen und schwebte förmlich zwischen den Aktenbergen hinaus in den sonnigen Nachmittag, auf der Suche nach neuen Ufern.

Er schlenderte durch die Innenstadt, hatte genügend Zeit, spürte keinerlei Anspannung.

Der kleine Mann bestaunte mit großen Augen die flirrende Schaufensterscheibe, die sich gemächlichen Schritts auf ihn zu bewegte. So jedenfalls erschien es ihm. Er registrierte zufrieden, dass dieses „aufeinander zubewegen“ in Abhängigkeit zur Geschwindigkeit seiner eigenen lederschuhummantelten Füße geschah. Er freute sich.
Direkt vor der riesigen Scheibe, die ihm nun den Weg versperrte, blieb er stehen.

Der schwarze mit rotem Band berandete Hut drückte sich fest auf seinen Kopf und ließ ihn grimmig aussehen. Er betrachtete sein Spiegelbild im Schaufenster und machte eine Grimasse, bevor sich sein Blick über die Auslagen hinweg, tief in dem Raum fokussierte. Hinter einem Verkaufstresen, an der großen Registrierkasse, sah er eine Frau. Sie war damit beschäftigt, etwas in eine Tüte zu verpacken und redete dabei mit einer Dame auf der anderen Seite des Tresens.

Pequeno, der kleine Mann. So hatten sie ihn schon als Kind genannt. Daran hat sich nichts geändert, auch wenn er längst erwachsen war. Und er mochte diesen Namen. Seine Schwester hatte ihn zuerst benutzt, da war er fünf oder sechs. Seine Schwester, zwei Jahre jünger als er, überragte ihn an Körpergröße, solange er sich erinnern konnte.
Manchmal, wenn sie keine Lust auf ungläubige Nachfragen hatte, gab sie ihn als ihren kleinen Bruder aus und er ließ es sich gefallen, fühlte sich wohl dabei, weil er dann eine große Schwester zum Anlehnen hatte. Dabei war ihr Selbstbewusstsein nicht ganz so schnell gewachsen wie ihr schlaksiger Körper und sie lehnte sich genauso oft bei ihm an, dem kleinen großen Bruder. So stützten sie sich gegenseitig und jeder für sich wäre ohne den anderen vielleicht auch umgefallen.
Erinnerungen blubberten wie Blasen aus einem Schnorchel vor ihm auf.
Wohlige Schauer begleiteten die Erinnerungen an längst verflogen geglaubte Episoden seiner Kindheit.

Die Frau stand, jetzt ohne Kunden, immer noch hinter dem Tresen und schrieb etwas auf, bevor sie unvermittelt aufschaute und ihre Blicke sich mit seinen trafen. Er war überrascht und wurde aus seinen Gedanken gerissen. Sie lächelte ihn an und versuchte ihm mit einer Handbewegung etwas zu sagen.
Gespannt schob sich sein Blick über den Rand der kleinen, runden, vernickelten Brille, die sich ihren Platz zwischen Hutkrempe und Nase hart erkämpfen musste.

Ja, so fing es an. Der kleine Mann und die Verkäuferin. Sie wurden sehr schnell ein Paar. Und wenn sie nicht gestorben sind ….

Doch, sie sind gestorben, aber erst viele, viele Jahre später. Und irgendwo dazwischen gab es dieses Ereignis. Diese Begebenheit, die ihr Leben so nachhaltig verändern sollte.

Sie trafen sich das erste Mal an einem Sonntag, einige Tage nachdem sie sich durch die Schaufensterscheibe gesehen und dieses sonntägliche Rendezvous gestikulierend verabredet hatten.
Vom ersten Augenblick an war da diese Vertrautheit, die er sonst nur mit seiner Schwester teilte.
Nun saßen sie auf einer Bank an der Rue de Somain und sie erzählten sich von ihren Träumen und Wünschen.
Blauer Himmel streckte sich verwegen über den Wolken aus und machte Platz für die großen Phantasien, die aus ihren Köpfen wehten und Raum nahmen.

Nach einigen Wochen und einigen Treffen auf der Bank und manchmal auch in dem kleinen Bistro gegenüber, lud er sie in sein bescheidenes Zuhause ein. Zum Kaffee. Es war Winter und schon früh dunkel.
Schummriges Licht verbreitend, lehnte sich die Stehlampe etwas gelangweilt zurück. Noch immer gab es viel zu entdecken, zu erzählen, zu träumen. Es war kaum Platz für den ersten zaghaften Kuss. Zuerst mussten sich ihre Seelen miteinander verweben, eine Basis schaffen, das spürte er und empfand dabei eine kindliche Leichtigkeit und Freude.

Er dachte an den Tag zurück, als er sie kennenlernte, sie zum ersten Mal durch das Schaufenster gesehen hatte und an seine kurz aufgekommenen Zweifel. Wie er noch einmal darüber geschlafen hatte, um sich klar zu werden, ob er wirklich zu dem Rendezvous gehen sollte, mit allen Konsequenzen, die sich für ihn ergeben würden, und derer er sich tief in seinem Inneren bewusst war. Er hatte es getan und es war gut so.

Mit seiner Schwester hatte er über sie gesprochen, hatte von ihr geschwärmt. Die glasigen Augen der Schwester hatte er nicht bemerkt. 

Im Sommer, der auf den ersten Winter folgte, heirateten sie.

Sie bezogen eine beschauliche Wohnung, viel größer als seine alte. Oft saßen sie, auch noch nach vielen Jahren, gemeinsam auf dem Sofa und redeten. Es gab immer viel zu erzählen und es schien, als würde dies nie ein Ende haben.

Fast jeden Mittag kam er zum Essen nach Hause. Das Glück lugte dann über den Tellerrand und machte sich seine Gedanken.

Selten, und immer seltener kam seine Schwester zu Besuch. Nur gelegentlich, mittwochs, eine halbe Stunde bevor er von der Arbeit nachhause kam. Solange waren die Frauen unter sich. Ein düsterer, kalter Stimmungsschleier lag dann in der Luft, überzog die Wohnung und alles was darin war. 

Das Glück ihres kleinen „großen Bruders“ lastete schwer auf ihr. Sie war nicht mehr die große „kleine Schwester“, so wie früher, als sie noch Kinder waren. Sie fühlte sich zunehmend unwohl in seiner Nähe. Konnte es immer weniger ertragen, ihn und seine Frau glücklich zu sehen. Ihre Fingernägel drückte sie bei ihren Besuchen fest in ihre Handflächen. Manchmal bis sie bluteten.
Nach außen wirkte sie beherrscht, aber die Atmosphäre vergiftete sie mit Blicken und Gedanken.
Nur der schwere Kerzenständer auf dem Kaminsims erfasste die Situation und wartete geduldig, hoffte auf einen kurzen, schnellen Auftritt.  

Pequeno sinnierte viel mit seiner Frau über seine Schwester. Sie war häufigster Inhalt ihrer Unterhaltungen geworden und ließ immer weniger Platz für andere Themen.
Pequeno liebte seine Schwester und er liebte seine Frau. Er konnte die Feindseligkeiten nicht ertragen. Schleichend veränderte sich etwas in seinem Herzen und schnürte sich fest um seine Brust. Er erinnerte sich, wie die Schwester schon als Kind versucht hatte ihm seine Freunde abspenstig zu machen. Dabei gab es gar nicht viele, denn auch ihn verunsicherte es, wenn er sich auf mehr als eine Person konzentrieren musste.
Irgendwann würde er eine Entscheidung treffen, zwischen seiner Schwester und seiner Frau, soviel ahnte er.

Wieder und wieder säte die Schwester bei den raren Besuchen Unfrieden durch ihre Verletztheit. Ihre Gesichtszüge wurden hart und sie wirkte zunehmend fremdartig auf ihn. 
Einmal kam es zu heftigen Wortwechseln zwischen den beiden Frauen, gerade als Pequeno von der Arbeit nach Hause kam.
Er betrat das Zimmer und handelte schnell und entschlossen, ohne etwas zu sagen. Er hatte seine Entscheidung gefällt.

Unbeweglich stand der Schrank an der Wand und beobachtete gespannt die Szene. 

Frostige Kälte zog sich wie eine Schlinge um ihren Körper. Sie wehrte sich heftig und lange, bevor sie in sich zusammensackte.

Selbstbewusst verzog sich die Kälte, löst sich auf wie ein Nebelschleier, der von der Sonne durchdrungen wird.  

Es war gut, so wie es war. Und ein Geheimnis verband ihn nun noch intensiver mit seiner Frau. Sie waren an einem neuen Ufer angekommen. Und noch immer gab es viel zu erzählen und zu träumen.
Seine große Liebe, die Verbindung ihrer Wesen, sie würde alles zusammenhalten, davon war er überzeugt.  

 

V1

8096 Zeichen